Lange schien es, als gebe es zu dieser Frage einfach einen breiten Konsens. Aber je länger sich die Kampagne hinzieht, desto mehr zeigen sich Spuren der Erosion.
Spätestens als Ungeimpfte der mittleren und jüngeren Generation von frisch geimpften Rentnern lasen, die sich schon auf den Flug nach Gran Canaria freuten, war von Konsens nicht mehr mehr viel zu spüren: die Urlaubsgrüsse kamen parallel zu Meldungen, dass – Stand Mitte April – ein Drittel der Patienten auf Covid-Intensivstationen unter 50 waren. Plötzlich stand die die ethische Frage im Raum, wie gerecht dieses Priorisierungs-Schema eigentlich ist und wie gerecht es der Wirklichkeit wird.
Pole Position für alle Ü65
Kritik an der BAG-Impf-Abfolge kam nicht etwa von Viren-Verharmlosern, Verschwörungstheoretikern oder von verhinderten Partygängern, sondern aus der besonnenen Mitte der Gesellschaft, von Menschen, die die Pandemie-Massnahmen stets voll mitgetragen hatten. In einem gewissen Sinn, war es genau diese – für viele unter grossen Opfern geleistete – Solidarität, aus der sich eine gewisse Erwartungshaltung ergab.
Die automatische Pole Position für alle Ü65 liess den Eindruck entstehen, „die Alten' seien nicht bereit, sich nun ihrerseits gegenüber der jüngeren Bevölkerung solidarisch zu zeigen: konkret ihr erst für ein paar Monate den Vortritt zu lassen. In privaten Runden wie in sozialen Netzwerken wurde eine „Anspruchshaltung“ beklagt, oder die „Selbstverständlichkeit“, mit der von einem Wir-zuerst ausgegangen worden sei. Vor allem aber wurde kritisiert, dass es zu einem so relevanten Thema nie eine öffentliche Debatte gab.
Wie eine Debatte verhindert werden kann, zeigte exemplarisch ein Beitrag des deutschen Wochenblatts „Die Zeit“. Kritik der Jüngeren wurde umgehend mit Begriffen wie „zynisch“ und „Neid“ verknüpft. Man kann daraus lernen, wie Framing funktioniert – ein Beitrag zur Konfliktlösung ist es nicht. Natürlich ist es in einer Demokratie legitim, Fragen von Solidarität und Gerechtigkeit zu diskutieren. Dass es Missverständnis-Potential gibt, liegt vor allem daran, dass alle Seiten mit dem Pauschal-Begriff „die Alten“ operieren, und dass dieser stets mit „die Verletzlichen“ gleichgesetzt wird.
In Wirklichkeit besteht die Kategeorie Ü65 aus zwei sehr unterschiedlichen Gruppen. Die eine umfasst – neben Hochrisikopatienten – vor allem Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die wenig mobil und hilfsbedürftig sind. Sie waren es, die monatelang fürchten mussten, ihr Heim könnte zur Todesfalle werden. Ihre Priorisierung wird auch nicht in Frage gestellt.
Die „fitten Alten“
Der Unmut galt eigentlich der anderen Gruppe von Rentnern, die man zur Präzisierung „die fitten Alten“ nennen könnte. Dank medizinischen Fortschritts dürfte sie inzwischen sogar die Mehrheit sein. Sie prägen auch das Bild, das gemeint ist, wenn Jüngere die pauschale Priorisiering der „Alten“ kritisieren. Es sind Menschen, die eher Mountainbike fahren, als am Stock zu gehen, eher nach Gran Canaria fliegen, als im Schaukelstuhl zu sitzen, und mit 70 körperlich und mental noch so agil sind, wie ihre Eltern es mit 50 waren.
Aber es ist nicht nur das äussere Erscheinungsbild, das manche daran hindert, diese Gruppe pauschal als Teil der „Verletzlichen“ zu sehen. Es zeigt auch, dass Alter allein als Hauptkriterium nicht reicht, weil es noch ein anderes – und ethisch sehr relevantes Kriterium gibt: Wer hat die Wahl, sich zu schützen und wer nicht? So gesehen, stehen die „fitten Alten“ für eine Gruppe, die die Wahl hat, sich für eine Weile aus dem Risikogeschehen zurückzuziehen – sie ist finanziell abgesichert, mental und körperlich in der Lage, sich zu organisieren und kann von Jüngeren versorgt und dabei unterstützt werden. Die jüngere, arbeitstätige Bevölkerung dagegen hat diese Wahl eben nicht. Sie müssen aus dem Haus, müssen zur Arbeit, müssen in die S-Bahn, müssen Kinder betreuen, müssen die Wirtschaft am Laufen halten – nicht zuletzt, weil damit auch die Renten der Älteren erarbeitet werden.
Wer ist eigentlich verletzlicher?
Dass es eine Ethik-Lücke gibt, wird offensichtlich, wenn man den sozialen Faktor miteinbezieht. „Hier leben viele Leute mit sehr wenig oder keiner sozialen Sicherheit, mit einem Minimal-Lohn so um die 10 Franken, zu sechst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, arbeiten in einem Amazon Lagerhaus und bringen dann die Infektion mit nach Hause“, meint der Schweizer Epidemiologe Peter Jüni, Leiter des wissenschaftlichen Gremiums der Provinz Ontario. Mag die soziale Absicherung hier auch besser sein, ergibt sich trotzdem die Frage daraus, wer eigentlich „verletzlicher“ ist – ein vermögendes Paar Ü65, das sich in einen komfortablen Zweit-Wohnsitz zurückziehen kann oder eine 40-jährige Lageristin, die ungeimpft zur Arbeit musste und nun auf der Intensivstation liegt. Die alleinige Fixierung aufs Alter schliesst alle sozio-ökonomischen Faktoren aus.
Es gibt also gute Gründe, die Abfolge zu hinterfragen – nur ist es trotzdem ungerecht, deshalb frühgeimpfte fitte Rentner zu kritisieren. Tatsache ist: Es hat sie ja auch niemand gefragt. Sie haben weder in Scharen Lobby-Arbeit gemacht, noch haben sie lautstark „Old People First“ skandiert. Der Vorwurf mangelnder Solidarität zielt ins Leere, weil sie nie jemand fragte, ob sie solidarisch zuwarten würden. Vielleicht hätte es sogar Zustimmung gegeben. Den vielzitierten Omas liegt das Wohlergehen ihrer Kinder und Enkel ja nicht weniger am Herzen als umgekehrt. Die Frage ist also eher, wie es zu dieser Form der Priorisierung kam.
Wer bedankt sich bei den Jungen?
Erstaunlicherweise nehmen viele ganz selbstverständlich an, die Priorisierung sei von einer „Ethik-Kommission“ entworfen worden. Aber die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) ist ein Gremium, das ausschliesslich aus Medizinern besteht. Ihre medizinische Kompetenz dürfte unbestritten sein – nur sind Ärzte eben keine Ethik-Experten. Mediziner handeln nach ethischen Grundsätzen, auf die sich eine Gesellschaft verständigt hat, sie stellen nicht selbst Grundsätze auf. Zudem wird medizinisches Denken in erster Linie von den Faktoren Tod und körperlicher Verfassung bestimmt. Andere Formen des Leids, die eine Pandemie mit sich bringt, fliessen in die Entscheidung nicht ein: Arbeitsplatzverlust, psychische Probleme, Kinder, die nur noch online zur Schule gehen. Diabetes galt als Risikofaktor, Depression eben nicht.
Es ist schwer nachzuvollziehen, wieso sich nicht ein breiter abgestütztes Gremium mit einem gesellschaftlich ebenso relevanten wie heiklen Thema befasste. Allein der Begriff Priorisierung hat in einer Demokratie einen eigenartigen Klang. Und für ungeimpft Hospitalisierte unter 65 versteckte sich dahinter letztlich nichts anderes als die kleine Schwester der Triage. In ein Gremium, das über solch grundlegende ethische Fragen entschied, hätten Vertreter verschiedener Bereiche gehört. Eine Pandemie hat nicht nur medizinische, sondern auch theologische, philosophische, juristische und sozioökonomische Aspekte. Vor allem aber fehlt eine Vertretung zweier Generationen.
Partysüchtige Pandemietreiber?
Um die 80-Jährige – unter denen es genügend brilliante Köpfe gibt – ebenso wie Junge in den Zwanzigern: Ausgerechnet ihre Stimme war nie gefragt, obwohl sie, vom Risiko selbst schwer zu erkranken, kaum betroffen, tatsächlich eine vollkommen selbstlose Solidarleistung erbrachten. Niemand hat sich je bei ihnen dafür bedankt. Im Gegenteil: immer wieder wurden „die Jungen“ (auch hier ganz pauschal) via Medien beschimpft, als seien sie nur partysüchtige Haupttreiber der Pandemie.
Die Frage, wie die Generation ihrer Eltern („Züri brännt“) oder Grosseltern („Mai 68“) wohl auf staatlich verordnete Massnahmen reagiert hätte, hat zum Glück niemand gestellt. Heute haben die meisten Jungen brav Maske getragen, geduldig verzichtet – und sie hätten wohl auch fürsorglich für fitte Alte eingekauft, hätte man sie darum gebeten. Selbst wenn eine breiter abgestütze Kommission die exakt gleiche Impf-Abfolge beschlossen hätte, wäre die Wirkung eine andere gewesen. Menschen spüren, ob ihre Lebenswirklichkeit mitberücksichtigt ist oder ob einfach ohne sie entschieden wurde.
Die zum Teil unendliche Langsamkeit der Impf-Kampagne, die man eher in einem Viert-Welt-Land als in der Schweiz vermutet hätte, hat den Unmut verschärft: es ist etwas anderes, zwei Monate zu warten als ein halbes Jahr. Dass die vom EKIF erarbeitete Prioriserung dann noch einmal von jeder kantonalen Gesundheitsdirektion umgestaltet werden konnte, sorgte am falschen Platz für Diversität. Vor allem aber lud die nicht-existente Debatte die Stimmung um die Impfstrategie unnötig auf. Sie schuf einen Generationen-Konflikt, der eigentlich keiner war, weil alle Generationen, die Alten, die Mittleren, die Jungen, etwas gemeinsam hatten: Niemand hat sie je gefragt.
Rudolph Jula ist Schriftsteller und Regisseur und lebt in Zürich. Zu seinen Werken gehören die Reiseerzählungen „Auf dem Weg nach Damaskus“ und der Fotoessay „Vanishing Syria“. Sein Salon findet regelmässig im Literaturhaus Zürich und im Waldhaus Sils statt.