Am 26. Februar 2020 hob das deutsche Bundesverfassungsgericht das bis dahin geltende Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung auf. Seitdem ist es Sterbehilfeorganisationen und Ärzten erlaubt, Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, dabei behilflich zu sein.
Damit stellt das Bundesverfassungsgericht die Autonomie des Einzelnen über ethische Normen, die den Suizid aus der menschlichen Wahlfreiheit ausschliessen. Wertvorstellungen des Christentums, aber auch andere Traditionen haben seitdem in Bezug auf die Selbstbestimmung des Einzelnen nur noch nachrangige Bedeutung.
Das Leiden beenden
Nach wie vor können die christlichen Kirchen innerhalb ihrer Einrichtungen die Selbsttötung als Möglichkeit ausschliessen, und sie tun es auch. Entsprechend legen sie den Schwerpunkt auf palliative Massnahmen und seelsorgerliche Sterbebegleitung.
Nun ist allerdings eine Diskussion darüber begonnen worden, ob nicht auch in kirchlichen Einrichtungen der begleitete Suizid ermöglicht werden sollte. Dieser Vorstoss kommt aus der evangelischen Theologie und der Diakonie. (1) Das leitende Argument besteht darin, dass physisches, aber auch psychisches Leiden so übermächtig werden können, dass der Wunsch nach Beendigung nicht aufgrund traditioneller christlicher Normen von vornherein abgewiesen werden sollte. Der Todeswunsch sei gründlich zu prüfen und unter bestimmten Bedingungen zu respektieren.
Auf den ersten Blick scheint dieser Vorschlag viel für sich zu haben, wie ja überhaupt die ganze Debatte über die Autonomie und das selbstbestimmte Lebensende im ersten Anlauf immer zugunsten des Willens des Einzelnen auszugehen scheint. Erst bei genauerem Hinsehen zeigen sich Probleme und Konsequenzen, die im Sinne der Humanität ebenfalls bedacht werden sollten.
Die Bastion der christlichen Lehre
So sehen auch die meisten Befürworter des selbstbestimmten Lebensendes die Gefahr des sozialen Drucks. Die meisten Menschen haben, wie Umfragen wiederholt ergeben, Angst davor, anderen zur Last zu fallen. Sie möchten nicht hilflos und auf Pflege angewiesen sein und sie möchten ihren Angehörigen auch nicht finanziell zur Bürde werden. So besteht die Gefahr, dass das Leben aus schlichter Rücksichtnahme oder auch entsprechenden Zuredens von interessierter Seite beendet wird.
Die stärkste Bastion gegen eine derartige Entwicklung ist die christliche Lehre, nach der das Leben nicht in der Verfügungsmacht des Einzelnen steht, weil es von Gott geschaffen wurde. Entsprechend haben zwei führende evangelische Theologen gegen den Vorstoss zur Freigabe des assistierten Suizids in kirchlichen Einrichtungen argumentiert. (2) Zudem folgern sie aus der „vom Schöpfer gewährten Ebenbildlichkeit“ sowohl „Selbstbestimmung“ wie „Unantastbarkeit“. Der Einzelne sei zwar frei, über sein Leben zu verfügen, aber wenn er es beenden wolle, verbiete die „Unantastbarkeit“, dass andere ihm dabei assistieren.
Die Ausnahme als Regelfall
Das Argument der „Unantastbarkeit“ hat Schwächen, denn es würde jegliche Form der tödlichen Gewaltanwendung seitens der Christen verbieten. Die Geschichte des Christentums zeigt anderes. Dennoch sind die Schlussfolgerungen der beiden Theologen für die christlichen Einrichtungen von Bedeutung. Denn sie fordern eine absolut konsequente Sterbebegleitung samt palliativer Massnahmen unter Ausschluss jeglicher „Sterbehilfe“, die über die Einstellung nicht mehr sinnvoller lebensverlängernder Massnahmen hinausgeht. Für sie gibt es „keine Symmetrie zwischen der Option für die Bewahrung des Lebens und der Option für dessen Beendigung mit den Mitteln des Suizids“.
Gäbe es diese Symmetrie, so die beiden Theologen, würde der begleitete Suizid von der Ausnahme zum Regelfall. – Genau genommen benötigt man für dieses Argument nicht den theologischen Überbau. Entsprechend warnen auch Juristen und andere Experten vor einem Trend zur Trivialisierung der gewollt herbeigeführten Beendigung des Lebens.
Konkurrenzunternehmen
Und auch die Befürworter des assistierten Suizids in kirchlichen Einrichtungen sehen hierin ein Problem. Zunächst aber haben sie das theologische Argument, dass das Leben als Gabe Gottes nicht eigenwillig beendet werden dürfe, locker abgeräumt: „Die Einsicht, dass die besondere Würde der Person als Fundament der liberalen Kultur keinen Widerspruch zu den eigenen Traditionen darstellt, gehört zu den entscheidenden Lernerfahrungen der christlichen Ethik der Gegenwart – im Protestantismus ebenso wie im Katholizismus.“ Im Gegensatz zu anderen Theologen allerdings ziehen sie aus diesen „Lernerfahrungen“ die Konsequenz des assistierten Suizids.
Werden auf diese Weise die kirchlichen palliativen Einrichtungen zu Sterbehilfeorganisationen umfunktioniert? Tatsächlich wollen die Autoren „den Sterbehilfeorganisationen die Grundlage entziehen“. Dies soll dadurch geschehen, dass den Sterbewilligen das denkbar breiteste Spektrum an Beratung angeboten wird, um sie vor Kurzschlussentscheidungen zu bewahren. Wenn es aber beim Sterbewunsch bleibt, sollen die Einrichtungen gewährleisten, „dass Einzelne in ihrer individuellen Situation professionelle Unterstützungsangebote auch für den Suizid vorfinden, ohne dass eine Normalisierung eintritt und der assistierte Suizid eine gesellschaftlich von Ärztinnen und Ärzten selbstverständlich erwartbare Leistung wird“.
Unvermeidbare Routine
Wie soll das aber gehen? Wenn ein „hochprofessionelles Behandlungsteam“ für das Thema des begleiteten Suizides bereitsteht, dann wird der Suizid – wie immer bei einer Institutionalisierung – zum Normalfall. In diesem Fall bekommt er noch ein kirchliches Gütesiegel. Und natürlich werden sich diese „hochprofessionellen Behandlungsteams“ nicht jedes Mal aufs Neue von Adam und Eva an ihre Köpfe zerbrechen, sondern gewollt oder ungewollt auf ähnlich gelagerte Fälle rekurrieren und entsprechend entscheiden. Auf diese Weise vermeiden sie Aufwand und das Risiko, wegen ihrer Entscheidungen in die Kritik zu geraten – und sei es von Angehörigen, die nicht einsehen wollen, warum in ihrem Fall gegen eine autonome Beendigung des Lebens entschieden worden ist.
Der Aufwand, den die Autoren des Vorstosses für einen assistierten Suizid in kirchlichen Einrichtungen im Hinblick auf die Beratung treiben, zeigt nur, dass der vorausgesetzte Autonomiebegriff nicht tragfähig ist. Denn es wird vorausgesetzt, dass der Sterbewillige durch psychisches oder physisches Leiden äusserst stark beeinträchtigt ist. Autonomie kann man das aber nicht nennen. Autonom wäre ein kühl kalkulierter Bilanzselbstmord, aber darum geht es den Autoren aus guten Gründen nicht.
Die innerkirchliche Debatte um den assistierten Suizid bietet Anlass, noch einmal über die vorausgesetzte Autonomie nachzudenken. Denn die gedanklichen Untiefen und Volten deuten darauf hin, dass die Fragen, die sich mit der Autonomie des Einzelnen und dem Tod verbinden, nicht beantwortet sind und vielleicht auch nicht schlüssig beantwortet werden können. Vielleicht ist es sinnvoll, eine Art Tabu anzuerkennen, das beide umgibt und das sie schützt.
(1) Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, von Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilje, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Januar 2021
(2) Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens umgehen, von Peter Dabrock und Wolfgang Huber, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Januar 2021