Eine der grössten Begabungen, die der Mensch als «animal rationale» hat, ist die Fähigkeit, sich die Wirklichkeit auch ganz anders vorzustellen, als sie bedauernswerterweise daherkommt. Utopische Imagination ist das grösste Geschenk, das der Weltenschöpfer dem denkenden Menschentier gemacht haben könnte.
In der griechischen Antike gab es bereits begabte Dichter und Fabulierer, die sich Gegenwelten zur enttäuschend herrschenden Realität auszumalen vermochten. Der schrägste unter ihnen war vermutlich der Komödiendichter Aristophanes (446–386 v. Chr.), von dem es 45 Komödien gegeben haben soll, von denen uns Heutigen aber nur elf überliefert sind, darunter auch eine mit dem Titel «Die Vögel» (414 v. Chr.).
Zwei Athener (Euelpides, übersetzt: der das Gute erhofft, und Pisthetairos, der zum richtigen Zeitpunkt eine Entscheidung herbeiführt) sind frustriert über die Zustände in ihrer Stadt, insbesondere weil die leitenden Stadtbehörden sich weigern, den zwischen Athenern und Spartanern seit Jahren dauernden Krieg zu beenden und mit den Nachbarstaaten einen Friedensvertrag zu schliessen. Vielmehr ist Athen auf Expansionskurs und will in Sizilien eine «Magna Graecia», das Grossreich Griechenland, errichten. Was die beiden Stadtbürger zudem verdriesst, ist die in der Stadt ausgebrochene Prozesswut, die dazu führt, dass auch bei geringfügigem Anlass die Menschen einander vor Gericht ziehen, zum grossen Gefallen der davon profitierenden Juristenzunft.
Also beschliessen die beiden Herren auszuwandern. Aber wohin nur? Auf Erden herrschen die uneinsichtig machtgierigen Menschen, im Himmel hausen die unsterblichen Götter, wo man als sterblicher Mensch nicht dazugehört und wo es auch nicht zugeht, wie man es sich eigentlich wünschen würde. Man muss ja nur sehen, welche Not und Verwirrung die Götter durch ihre Interventionen und sexuellen Begierden auf Erden immer wieder unter Menschen anrichten!
Doch gibt es da nicht noch ein Zwischenreich? Im Wolkenhimmel, wo unsere gefiederten Freunde hausen, zwischen Erde und Firmament? Von einer Krähe und einer Dohle angeführt, gelangen die Athen-Enttäuschten schliesslich ins Reich der Vögel, wo ein Wiedehopf der regierende Herrscher zu sein scheint, der auch schon einmal von der Erde abgewandert und in das Nebelreich übersiedelt ist.
Im Zwischenreich gerettet?
Einmal im «Wolkenkuckucksheim» angekommen – so nennen wir fortan das utopische Reich, in dem unsere braven Staatsbürger gelandet sind –, geht es ziemlich ähnlich weiter wie in der irdischen Realität. Da gibt es zwar wunderbare Poesie, Erfahrung von Schönheit, aber auch listige Agenten der Götter und der Menschen, Zwischenträger und Spione, also Wesen, die zu Aufruhr und Revolution, aber auch zu Kompromissen und Einlenken raten. Aristophanes macht sich einen Riesenspass daraus, die grossen Geister der Antike, die Philosophen, die Dichter, die Sophisten, die Heilsverkünder und Täuscher der Menschheit ins Feld zu führen, um uns nicht vergessen zu lassen: Der Mensch entkommt seinem Wesen – bestehend aus der Mischung von Realitätsorientierung und der Illusion, seinem Los entfliehen zu können – niemals, gerade dann nicht, wenn er in ein Wolkenkuckucksheim zieht als eine Art von Aussenstation für sein Glücksstreben.
Das Lachen über die Vergeblichkeit, der Wirklichkeit zu entkommen, hilft uns zur Besinnung und zur richtigen Selbsteinschätzung. Das war das Geniale an der griechischen Theatertradition, dass man bei Festen und Ritualen – nach Tagen des Gedenkens an die schicksalshafte Grausamkeit des Daseins in Tragödienspielen – am Ende durch die Aufführung einer Komödie lachend wieder zu sich kommen sollte. Es ist, wie es ist! Die Götter muten uns das Schlimmste zu. Doch die komischen menschlichen Einfälle, um der quälenden Wirklichkeit zu entkommen, sind etwas, das man nicht vergessen soll, so vergeblich sie am Ende auch sein mögen.
Es ist sehr plausibel, dass ein klassisch gebildeter Künstler auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund dieser Komödie des Aristophanes – motiviert durch die schrecklichen Ereignisse des Ersten Weltkriegs – auf den Gedanken kommen konnte, daraus eine Oper zu schaffen. Walter Braunfels (1882–1954) war ein konservativ veranlagter Neuromantiker, dem die Abkehr von der traditionell tonalen Musiksprache der romantisch-wagnerischen Tradition überhaupt nicht passte und dem modernistische Experimente, wie sie etwa die zweite Wiener Schule zur Erweiterung der Tonalität praktizierte, ein Graus waren. Das Libretto zu seinem bedeutendsten Bühnenwerk «Die Vögel» (Uraufführung in München 1920 unter der Leitung von Bruno Walter) schrieb Braunfels frei (sehr frei sogar!) nach Aristophanes. Wie man in den Erinnerungen des grossen Dirigenten nachlesen kann, hielt Bruno Walter den Komponisten Braunfels für einen der besten seiner Zeit und «Die Vögel» für ein Meisterwerk.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann der Niedergang des Ruhmes von Braunfels. Er wurde seiner Ämter und Aufgaben am Konservatorium in Köln enthoben, denn den Nazis galt er als «Halbjude». Als der Krieg vorbei war, wurde Braunfels angesichts der «Neoklassiker» und Modernen, die nach 1945 die Musikszene beherrschten, als epigonal und «veraltet» taxiert. Erst 1971 begann etwas auf deutschen und internationalen Opernbühnen, das man als die Wiederentdeckung eines zuerst verstossenen, dann aus zeitgeistbedingten Verblendungen vergessenen deutschen Komponisten nennen könnte.
Ein Freudenfest der Stimmen
Inzwischen ist diese Oper rehabilitiert. Wir können sie geniessen durch hervorragende CD- und DVD-Einspielungen. Es gibt eine Tondokumentation aus dem Jahr 1966 aus der Decca-Reihe «Entartete Musik» mit allerbesten Kräften unter der Leitung von Lothar Zagrosek. Und es gibt die so ergreifende wie vergnügliche Verfilmung der Produktion dieses Werkes in Los Angeles aus dem Jahr 2009 unter der Leitung von James Conlon. Wer also will, kann sich heute hörend und sehend kundig machen.
Denn in dieser Oper gibt es ziemlich alles, was Opernfreunde nicht missen wollen: grossartige stimmliche Herausforderungen für die Solisten, prächtige Chorszenen bestehend aus Schwalben, Meisen, Tauben, Wendehälsen, Kiebitzen und Kuckucken, raffinierte atmosphärische Zutaten wie die Stimmen der Blumendüfte und jene der Winde, grosse Charakterrollen, wie etwa die der Nachtigall, die einer Zerbinetta aus der «Ariadne» von Richard Strauss an Virtuosität und verführerischem Zauber in nichts nachsteht, oder die ergreifende Figur des Prometheus, der zum eindrücklichen Ankläger gegen die Gottheiten wird, die mit dem Los der Menschen ihre Spielchen treiben.
Alle Macht den Gefiederten!
Wir hören hier einen kurzen Chor-Abschnitt aus dem Ende des 1. Aktes, in welchem die Vögel den zu ihnen gestossenen Ratefreund als ihren neuen Herrscher küren und ihn mit Federn an Kopf und Hintern ausstatten, um ihm die Macht im Zwischenreich zu übertragen. «Dich zu ehren wohlerbötig schmücken wir dich also! Diesen Zierat sollst du tragen zum Gedächtnis dieses Tages.»
Die Herrschaft der Gefiederten über Götter und Menschen bleibt zwar eine Utopie und eine Illusion, wie der 2. Akt uns danach vorführen wird. Doch Hoffegut wird am Ende der Oper feststellen, dass auch unsere Träume und Erwartungen zum gelebten und erlebten Teil unseres Daseins gehören. Und so kehrt er – als poesiebegabter Mensch – nach den beglückenden Erfahrungen mit seiner schönen Nachtigall nicht verstossen und verzweifelt aus dem Wolkenkuckucksheim zurück zu den Menschen: «Hinab denn, ach, ich hab’ gelebt!»
Es ist erstaunlich, in welchem vergleichbaren Dilemma wir Menschen des 21. Jahrhunderts angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine stecken. Putin und seine Grossrusslandförderer wollen dasselbe wie die einflussreichen Gestalten unter den Athenern des fünften vorchristlichen Jahrhunderts: mächtiger und reicher werden und zusätzliche Teile der Welt kontrollieren.
In ein Wolkenkuckucksheim auswandern können wir nicht. Letztlich wollen wir dies ja auch gar nicht. Doch eines wollen wir, wo und wie immer möglich: das Beste aus einer hochbeschädigten gesellschaftlich-moralischen Realität für die Gegenwart und die Zukunft machen.