Die Feinde Ghadhafis gehen im Westen zum ersten Mal nach einem strategischen Plan vor. Bisher hatten sie immer geradewegs die Truppen Ghadhafis angegriffen. Immer wieder wurden sie zurückgeschlagen. Doch im Westen Libyens ist nun eine Bewegung im Gang, die darauf abzielt, die Hauptnachschubstrasse, die aus dem Süden Libyens nach Tripolis führt, abzuschneiden. Damit würde die libysche Hauptstadt isoliert.
Die Berber des Jebel Nufus
Diese Bewegung ging von den Berberstämmen aus, die südlich der Küste in der Nähe der tunesischen Grenze leben. Sie haben zuerst ihre eigene Berglandschaft, den Jebel Nufus, von den Soldaten und Anhängern Ghadhafis befreit. Dann begannen sie, in die östlich davon liegende Ebene hinabzusteigen, durch welche die Hauptstrasse führt, welche Tripolis mit dem libyschen Süden, dem Fezzan, verbindet.
Die Küstenstrassen östlich und westlich von Tripolis werden von Ghadhafis Gegnern beherrscht. Im Osten dominieren die Aufständischen Misrata und im Westen ist der Flecken Zawiya heiss umkämpft. Deshalb wäre eine permanente Blockierung der Strasse nach Süden äusserst wichtig. Bei Zawiya befindet sich die einzige Raffinerie, über welche die Ghadhafi-Kräfte noch verfügen. Sie soll sich noch immer in ihrem Besitz befinden.
Ringen um die Ebene östlich des Jebel Nufus?
Auch die Gegenseite hat die Bedeutung der gegenwärtigen Offensive erkannt. Die Truppen Ghadhafis leisten in den Städten und Dörfern, die in der Ebene östlich und südlich des Jebel Nafus liegen, erbitterten Widerstand. In einer Rede rief Ghadhafi die Bewohner der Hauptstadt auf, sich zu bewaffnen und sich für den Kampf zu opfern.
Seine Feinde beherrschen die Berge, wo sie zuhause sind, doch ihre Vorstösse in die Ebene haben noch nicht die Durchschlagskraft, dass sie zur Isolierung von Tripolis führen würden. Natürlich könnten sie bei den Alliierten um Unterstützung aus Luft nachsuchen. Doch Ghadhafis Truppen haben gelernt, sich besser zu tarnen. Sie suchen auch Schutz, indem sie sich in der Nähe der Zivilbevölkerung aufhalten.
Die Alliierten haben offenbar militärische Berater eingesetzt, die den Gegnern Ghadhafis helfen sollen, sich zu organisieren. Doch die Stämme des Jebel Nufus kämpfen als Stämme. Sie besitzen ihre eigenen Traditionen und Vorstellungen von Kriegsführung. Diese sind ohne Frage wirksamer als das Vorgehen der enthusiastischen, aber ziemlich ahnungslosen Zivilisten aus der Grossstadt Benghazi.
Defensive Kriegsführung in Misrata
In Misrata haben sich die Gegner Ghadhafis nach opferreichen Kämpfen gehalten. Unter anderem auch, weil es für ungeübte Kämpfer einfacher ist, ihre eigenen Häuser und Strassen zu verteidigen, als im offenen Wüstengelände einen offensiven Krieg zu führen.
Ghadhafi musste seine Kämpfer nach Monaten der Belagerung aus Misrata zurückziehen. Sie begnügen sich dieser Tage damit, die Stadt aus der Ferne mit Artillerie zu beschiessen. Inzwischen haben Ghadhafis Gegner nach eigenen Angaben auch den Flecken Zlitan erobert. Dort waren bisher Geschütze Ghadhafis stationiert.
Vermutlich musste Ghadhafi seine Soldaten aus Misrata abziehen, weil deutlich geworden war, dass er die ganze Stadt nicht erobern konnte und weil er seine Truppen in der Region des Jebel Nufus benötigt. Dort geht es für ihn wegen der letzten offenen strategischen Strasse nach Tripolis um Wichtigeres.
Feindschaften und Loyalitäten der Stämme
Bei den Kämpfen am Fusse des Jebel Nufus geht es aber auch um Stammesfragen. Die Berber des Gebirges wurden von Ghadhafi niedergehalten, schon deshalb, weil sie Tamazigh, nicht Arabisch sprechen.
In der Ebene östlich der Berge hat Ghadhafi Stämme begünstigt, die den Berbern feindliche sind. Diesen Anti-Berber-Stämme durften Dörfer und Ländereien in Besitz zu nehmen, die früher den Berbern gehörten. Diese Stämme müssen nun befürchten, sie würden von ihren alten Feinden aus ihren Häusern und Ländereien vertrieben, wenn diese sich ihrer Dörfer bemächtigten. Sie leisten deshalb erbitterten Widerstand.
Die Plünderungen und Vertreibungen, für welche die Menschenrechtsforen in erster Linie Ghadhafi, jedoch auch seine Gegner verantwortlich machen, dürften auf der Seite der Aufständischen auf Spannungen dieser Art zurückgehen.
Ghadhafi hat stets die Stämme gegeneinander ausgespielt, um seine eigene Macht zu sichern. Rund um Tripolis herum hat er zahlreiche Stämme begünstigt und angesiedelt: stets zum Nachteil von anderen, die weichen mussten. Diese neu angesiedelten Stämme sind auf ihn und seine Macht angewiesen, wenn sie weiterhin ihre Privilegien geniessen wollen. Daher halten sie zu ihm.
Gharian, Schlüssel der Abschnürung
Die Isolierung von Tripolis ist noch nicht voll gelungen. Sie ist jedoch zweifellos das strategische Ziel der Kämpfe, die sich gegenwärtig abspielen. Der Flecken Gharyan liegt an der strategischen Strasse, und die Feinde Ghadhafis meldeten, sie hätten ihn besetzt. Doch die Gegenseite dementiert. Wahrscheinlich ist der Ort gegenwärtig umkämpft.
Wenn er endgültig von den Gegnern Ghadhafis besetzt würde, wäre die Schlinge um Tripolis zugezogen. Dies könnte sehr wohl den Anfang vom Ende für Ghadhafi bedeuten. Das Prestige seiner Regierung würde schwer leiden, und seine Gegner rechnen damit, dass die Bewohner von Tripolis sich früher oder später erheben könnten.
Noch nicht die letzte Zuflucht Ghadhafis
Doch selbst wenn dies eintritt, wird der Krieg in Libyen noch nicht völlig zu Ende sein. Ghadhafi hat noch die Möglichkeit, sich in seine Heimatstadt Sirte zurückzuziehen. Dort könnte er sich mit Hilfe seines eigenen Stammes und gestützt auf den Fezzan verteidigen. Sabha, die Hauptstadt der Oasenprovinz Fezzan, im Inneren der Sahara, gilt als eine Hochburg der Macht Ghadhafis.
Vom Fezzan aus hat er Verbindungen nach Mali und Tchad, Länder aus denen er seine Söldner bezieht. Doch sobald Ghadhafi das Geld ausgeht, würde seine Macht und sein Einfluss wohl auch im Fezzan bröckeln. Doch man muss damit rechnen, dass er versuchen wird, bis zum letzten auszuharren - es sei denn, seine Umgebung würde ihn dazu zwingen, doch noch abzudanken oder ein Exil auszuhandeln.
Nutzen und Nachteil der Flugverbotszonen
Die Lehre, die man schon heute aus der libyschen Luftaktion ziehen kann, lässt sich so formulieren: Auch einer stark überlegenen Luftwaffe allein gelingt es nicht, ein Territorium zu erobern und zu halten. Dazu braucht es Stiefel auf der Erde. Defensive Positionen hingegen lassen sich durch Luftaktionen absichern und können den dortigen Kriegern erlauben, sich besser zu organisieren und mit der Zeit in die Offensive zu gehen. Doch die Zeiträume, die dazu notwendig sind, sollte man nicht unterschätzen. Wenn es sich um nicht kriegerisch geübte Bevölkerungen handelt, muss man mit Fristen von mehreren Monaten, wenn nicht gar Jahren rechnen, bis sie erfolgreiche Offensiven organisieren und auslösen können.
Vergleichbare Lehren konnte man schon 1991 im Irak ziehen. Damals richteten Amerikaner, Briten und zeitweise auch die Franzosen Flugverbotszonen ein, die bis ins Jahr 2001 Bestand hatten – solange, bis Bush beschloss, den Irak direkt anzugreifen.
Damals vermochten die Kurden, berühmte Guerilla-Kämpfer, ihre Gebirge mit Hilfe des Flugverbotes zu halten und dort ein eigenes Staatswesen zu improvisieren. Doch den Schiiten des Südens, Bewässerungsbauern der Ebene, brachte das Überflugverbot der Alliierten keinerlei Nutzen. Sie fielen zu Tausenden den Tanks, den Kanonen und der grausamen Rache der Schergen Saddams zum Opfer.