Sollen die Sanktionen gegen Syrien aufgehoben oder beibehalten werden? Eine Beibehaltung könnte zu einer humanitären Katastrophe führen. Ein Aufhebung würde das verbrecherische Assad-Regime rehabilitieren. Soll der Westen kapitulieren?
Gemessen an der üblichen Gemächlichkeit der schweizerischen Aussenpolitik war die vergangene Woche fulminant: Bundesrat Cassis tadelte im Uno-Sicherheitsrat in New York offen Russland, und zwei Tage zuvor profilierte sich Botschafterin Pascale Baeriswyl im gleichen Gremium erfolgreich mit der Vorlage einer Resolution zu Syrien: Die Schweiz setzte, zusammen mit Brasilien, durch, dass ein Grenzübergang von der Türkei in das von Assad-Gegnern kontrollierte Gebiet um die Stadt Idlib in Syrien wenigstens für sechs Monate (für die Lieferung humanitärer Güter) offen bleibt.
Das ist eine Übergangslösung. Die wichtigere Frage lautet: Soll die internationale Gemeinschaft die Sanktionen gegen das Assad-Regime beibehalten – oder schaden sie nur den Menschen in Syrien, nicht aber der Regierung?
Syrien – nur noch am Rande zur Kenntnis genommen
Es lohnt sich, den grösseren Rahmen genauer zu betrachten – auch, weil die nunmehr schon zwölf Jahre dauernde syrische Tragödie von den Medien und der Politik im Westen nur noch am Rande zur Kenntnis genommen wird. Und wenn, dann nur, wenn es um die Themen Flüchtlinge, Asyl oder Rückführungen respektive Abschiebungen geht.
In der Schweiz stellten in der letzten Zeit jährlich rund 1000 Menschen aus Syrien einen Asylantrag, von ihnen erhielten, ebenfalls im Schnitt, gut 50 Prozent einen positiven Bescheid, etwa 35 Prozent eine vorläufige Aufnahme. Die anderen 15 Prozent sollten ihren Antrag in einem anderen Land des Schengen-Dublin-Raums, also andernorts in Europa, stellen.
Neun Millionen auf der Flucht
Solche Zahlen wirken auf den ersten Blick wohl einigermassen beruhigend – aber dahinter spielt sich eine selbst im globalen Vergleich ungeheure Tragödie ab. Mehr als neun Millionen Menschen in Syrien (Gesamtzahl der Bevölkerung ca. 22 Millionen) wurden seit 2011 zu Flüchtlingen – das heisst, fast jeder Zweite, jede Zweite musste irgendwo ein Dach über dem Kopf suchen. Gut vier Millionen fanden dieses Dach in Syrien, fast drei Millionen flüchteten in die Türkei, rund 800’000 nach Libanon, eine knappe Million nach Jordanien. Und ein paar hunderttausend nach Europa.
Innerhalb Syriens bildete sich ein Ballungsraum von unvorstellbarer Dichte: Im Gouvernement Idlib, im Nordwesten Syriens, leben jetzt zwischen 2,5 und drei Millionen Menschen – auf einem Gebiet von 6000 km2, vergleichbar jenem des Kantons Bern (5960 km2).
Ist das Assad egal? Wahrscheinlich schon
Um Nothilfe für die Menschen in diesem Gebiet geht es bei der Resolution des Uno-Sicherheitsrats – sie bezweckt, den dort eingepferchten, teils in Zelten überlebenden Menschen medizinische Artikel und andere essentielle Güter zu liefern. Würde all das ausbleiben, drohte eine Katastrophe in unvorstellbarem Ausmass.
Nun fragt man sich wohl: Ist das alles dem syrischen Präsidenten, Bashir al-Assad, egal? Da können wir nur mutmassen – wahrscheinlich schon. Denn Männer und Frauen, die ins Gouvernement Idlib geflüchtet sind, gehören ja aller Wahrscheinlichkeit nach zur Opposition, zur Regime-Gegnerschaft. Schliesslich herrscht in Idlib die islamistische «Tahrir ash-Sham», ein Ableger der Terrororganisation al-Qaida, und wer sich für ein Leben dort entschieden hat, wird ja mindestens nicht grundsätzlich gegen die Ideologie der Islamisten eingestellt sein. Gut für das Assad-Regime auch, dass schon Millionen ins Ausland gezogen sind – je weniger von ihnen zurückkommen, desto besser …
Diplomatische Re-Integration
Und auch das ist für Bashir al-Assad wohl klar: Je länger sich dieses Weder-Krieg-noch-Frieden hinzieht (seit 2019 gibt es nur noch sporadisch Gefechte), desto besser für das Regime. Denn mit jedem Monat zeigt sich deutlicher: Die so genannte internationale Gemeinschaft findet sich mit vollendeten Tatsachen ab. Innerhalb der nahöstlichen Region gibt es Anzeichen zu einer diplomatischen und wirtschaftlichen Re-Integration.
Die Vereinigten Arabischen Emirate zelebrieren bereits wieder «brüderliche Beziehungen» mit al-Assad, Jordanien hat die Grenze geöffnet, Ägypten ist interessiert am Bau einer Erdölleitung nach Syrien, Irak ist auf eine pragmatische Lösung erpicht. Und ganz neu zeigt auch der türkische Präsident Erdoğan Interesse an einer Entkrampfung der Kontakte mit Damaskus. Wenn nicht alles täuscht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der «Pariah» Assad wieder zum vollwertigen Mitglied der nah- und mittelöstlichen Welt wird.
Monströse Verstösse gegen die Menschenrechte
Was soll dann jener Teil der Welt tun oder lassen, der sich als Hort der Menschenrechte betrachtet? Gleichziehen mit den Autokraten der Region, also al-Assad trotz monströser Verstösse gegen die Menschenrechte wieder «in Ehren» begegnen oder mindestens die Sanktionen aufheben?
Sanktionen sind das relativ stärkste Mittel, um ein Regime in die Schranken zu weisen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Sanktionen oft viel mehr die Bevölkerung treffen als die Herrschenden. Im Fall Syriens ist dieser Misserfolg besonders eklatant, aus verschiedenen Gründen. Erstens erwies sich seit dem Beginn des Konflikts (2011) die Armee solidarisch mit der Führungsspitze (das war im «Arabischen Frühling» in Ägypten oder Tunesien anders), zweitens kann sich al-Assad darauf verlassen, dass Russland und Iran (aus unterschiedlichen Gründen) ihn an der Macht halten wollen – und drittens, dass Israel ihm nur begrenzte, gezielte militärische Schläge versetzen will. Weil die diversen israelischen Regierungen lieber einen Brutalo-Diktator als Nachbarn haben als Islamisten, die möglicherweise nach einem Machtwechsel in Damaskus die Herrschaft übernehmen könnten. Und schliesslich hat Bashir al-Assad wohl auch schon von seinem Vater, Hafez al-Assad, gelernt, dass es sich lohnen kann, internationale Spannungen einfach auszusitzen, dass die so genannte internationale Gemeinschaft irgendwann einmal durch andere Probleme so absorbiert ist, dass sie kein Interesse mehr am vergleichsweise kleinen Syrien hat.
Soll der Westen kapitulieren?
Was zur Frage führt: Sollen westliche Länder die Syrien-Sanktionen weiterführen – oder sollen sie kapitulieren? Die Uno hat beschlossen: Weiterführen bis zunächst Juni 2023. Die USA scheinen entschlossen, ihre so genannten Caesar-Sanktionen ohne Zeitlimit weiter beizubehalten – sie sind rigoros in dem Sinn, als irgendwelche internationale Firmen, die in Wiederaufbau-Projekte in Syrien investieren wollen, mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen müssen. Sie verhindern auch Geld-Überweisungen und damit fast jeglichen Handel.
Aber macht das Sinn, führt all das nicht zum Resultat, dass kaum jemand aus der Millionenschar der ins Ausland geflüchteten Menschen zurückkehren will, weil die alten Behausungen kaputt oder sogar dem Erdboden gleichgemacht worden sind?
Die Kröte schlucken?
Die Kontroverse um Für und Wider Sanktionen geht quer durch die verschiedenen internationalen Gremien. Die Uno-Sonderberichterstatterin Alena Douhan vertritt die Meinung: Die Sanktionen müssen aufgehoben werden, sonst droht eine humanitäre Katastrophe nie gekannten Ausmasses. Rim Turkmani von der London School of Economics (sie stammt aus Syrien) verharrt im Dilemma – würden die Sanktionen beendet, bedeutete das für das verbrecherische Assad-Regime die internationale Rehabilitation.
Was sollte die Schweiz unternehmen? Ich meine: Als Mitglied des Uno-Sicherheitsrats sollte sie in diesem Gremium eine offene Diskussion um das schwierige Thema in die Wege leiten. Die internationale Gemeinschaft wird über kurz oder lang ohnehin die dicke Kröte schlucken, das heisst, sie wird sich mit dem Assad-Regime abfinden. Im Wissen, dass die gegenteilige Haltung zu noch mehr menschlichem Elend führen würde.