Die Seuche bläst Wind in die Segel von rechten und linken Populisten, Antikapitalisten und Impfgegnern. Ebenso von Wutbürgern, Antisemiten, Erleuchteten, bekloppten katholischen Würdenträgern, Esoterikern, Identitären und fanatischen Tierschützern.
In Deutschland kommen Rechtsextreme, Neonazis, AfD- und Pegida-Anhänger sowie Holocaust-Leugner dazu. Sie alle springen immer auf den Zug auf, wenn sie Krawall wittern und wenn die Regierung und „das System“ destabilisiert werden können.
Einige der Demonstranten, die im Schlamm des Irrsinns wühlen, sind offensichtlich ein Fall für die Psychiatrie. Erstaunlich ist, dass es ihnen immer mehr gelingt, unbescholtene Bürgerinnen und Bürger mit ihren konfusen, vertrackten und wirren Botschaften zu infizieren und anzutreiben. Und sie, die normalen Bürger, sind sich gar nicht bewusst, dass sie zu Steigbügelhaltern gefährlicher Kräfte werden.
Auch Dummheit ist ein Menschenrecht
Da soll eine Weltherrschaft der Eliten errichtet werden, heisst es. Bill Gates, dieser Satanist, soll allen Menschen einen Mikrochip einimpfen, damit sie dann auf Schritt und Tritt verfolgt werden können. Über die G5-Sendemasten würde das Virus ausgesprüht und in alle Welt verbreitet. Da seien natürlich auch die Juden, die Rothschilds und die Freimaurer am Werk, ebenso die „da oben“ und die systemkorrumpierten Journalisten. Die Demokratie solle abgeschafft werden, denn sie hindere die neuen Weltherren in ihrem Tun. Mit dem bewusst in die Welt gesetzten Virus soll bewusst Chaos geschürt werden, damit eine Diktatur errichtet werden kann. Und so weiter.
„Das Ende der Aufklärung?“, fragte das deutsche Wochenblatt „Die Zeit“. Natürlich kann man niemanden daran hindern, sich lächerlich zu machen und solch krude Botschaften zu glauben. Auch Dummheit ist ein Menschenrecht. Eher sonderbar ist es, wenn jene, die leugnen, dass sechs Millionen Juden vergast worden sind, jetzt plötzlich beklagen, dass die Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz „mit Füssen getreten“ werde.
Auch einige wenige Grüne verbreiten kühne Ideen und bezeichnen die bundesrätlichen Schutzmassnahmen als „total überzogen“. Ihre Chefin, die grüne Parteipräsidentin Regula Rytz, stellte sie schnell in den Senkel. „Wenn es brennt“, sagt sie, „ist es besser, man schickt ein Feuerwehrauto zu viel als eines zu wenig.“
Eine Portion Schwachsinn
Und da gibt es die besorgten Bürgerinnen und Bürger, die beklagen, dass der Bundesrat die demokratischen Rechte abschaffen wolle. Ausgeklammert wird da, dass die Landesregierung vor allem ein Ziel hat, nämlich diese Schreihälse vor dem Virus zu schützen. Das hat sie getan.
In keinem Land ist die Demokratie und der Volkswille bis in die letzten Fasern der Gesellschaft so verwurzelt wie bei uns. Nirgendwo hat die Demokratie eine solch starke Tradition. Es braucht schon eine Portion Schwachsinn, um zu glauben, in der Schweiz würde die Demokratie abgeschafft. Auch jetzt hat die Demokratie funktioniert: Das vom Volk gewählte Parlament hat, wie es der demokratische Prozess vorsieht, die bundesrätliche Politik abgesegnet. Nix also von: „über die Köpfe hinweg entscheiden“. Die Massnahmen des Bundesrates richten sich nicht gegen die Demokratie, sondern gegen das Virus.
„Diktatur stoppen“, hiess es am Samstag auf einem Transparent in Zürich. „Gib Bill Gates keine Chance“ stand auf Plakaten in Bern, Basel und München. In Stuttgart war man deutlicher: „Kill Bill“. „Eine Regierung, die mir vorschreiben will, wem ich die Hand geben soll, ist für mich gestorben“, schrieb ein Basler Demonstrant auf einen Karton. „Corona Wahn Stopp“ stand auf einem Plakat in Zürich. Selbst ein (angebliches) Zitat von Brecht bemühte man: „Wo Unrecht zu Recht wird, ist Widerstand Pflicht“. Der Widerstand des Mannes, der dieses Plakat vor sich liegen hatte, bestand darin, dass er einsam auf dem Platz sass und etwas verwirrt den vorbeiflatternden Möven nachschaute.
Happening
In München hiess es: „Corona ist ein politischer Spuk“. Und: „Schluss mit der kriminellen Corona-Politik“. Einem Kind wurde in Zürich ein Transparent in die Hand gedrückt: „Wir wollen selbst entscheiden“. Ein Journalist fragte die Mutter des Kindes, ob sie ab und zu abstimmen gehe. „Nein“, sagte sie, „das bringt nichts.“
Wenn die Polizei die Manifestanten auseinandertreibt, weil sie die Abstandsregeln nicht befolgen, heisst es: „Demokratie und Meinungsfreiheit werden abgeschafft.“
Für viele sind die Demonstrationen fast schon ein Volksfest, ein Happening: Mit Kinderwagen, Ballonen und bunten Transparenten zieht man am freien Samstagnachmittag auf die Plätze und glaubt, man setze sich für eine gute Sache und für eine bessere Welt ein.
Eine verschwindend kleine Minderheit
Wichtig ist, dass die Politik sich nicht von diesen Schnapsidee-Adepten beeinflussen lässt. Aber das tut sie nicht. Der Bundesrat macht zwar Fehler, kommuniziert manchmal nicht ganz klar, aber das ist in Anbetracht dieser für alle komplexen und neuen Situation nachvollziehbar. Er lässt sich auch nicht beirren von der Flut jener Selbstdarsteller, die nachher wieder einmal wissen, was man vorher hätte tun sollen. Die Landesregierung argumentiert mit Fakten. Und der wichtigste Fakt ist: Die Seuche ist noch immer da, und die Gefahr besteht, dass irgendwann eine zweite Welle auf uns zukommt.
Die Demonstranten sind zwar laut und aggressiv, aber eine verschwindend kleine Minderheit. Wie viele Leute nehmen an den Manifestationen teil? Ein paar hundert, ein paar tausend? Wenn in der Challenge League der Letzte auf den Zweitletzten trifft, können mehr Leute in einem Stadion mobilisiert werden.
Berechtigte Sorgen
Aber: All das soll nicht heissen, dass man dem Bundesrat einen Blankocheck ausstellen soll. Dass man ihn nicht auch kritisieren darf.
Natürlich gibt es nicht nur Phantasten, Sonderlinge und Spinner. Auf den Plätzen fanden sich an diesem Samstag auch viele echt besorgte, ernsthafte, vernünftige Menschen ein, die mit den exotischen Hitzköpfen nichts zu tun haben.
Viele haben heute berechtigte Sorgen und Nöte. Viele fürchten um ihre Arbeit oder haben sie schon verloren. Viele vereinsamen, stehen vor einem Burnout, sind überlastet, überfordert, haben Angst vor einer ungewissen Zukunft, Angst vor dem Konkurs, Angst, in der reichen Schweiz oder in Deutschland in die Armut abzurutschen. Ihre ganze Lebensplanung ist plötzlich in Frage gestellt. Die Corona-Epidemie ist für viele ein ernsthaftes, vielleicht gar ein existentielles Problem.
Von den Wirrköpfen in den Schatten gestellt
Dass die Wirtschaft, und die politischen Kreise, die hinter der Wirtschaft stehen, für eine schnelle Öffnung drängen, ist nachvollziehbar. Dass viele Menschen endlich wieder hinaus ins Freie möchten, ebenso.
Man kann durchaus sachlich darüber diskutieren – und sogar demonstrieren –, ob die Massnahmen des Bundesrat zu weit gegangen sind: ob man übertrieben hat und noch immer übertreibt.
Das Problem ist, dass die Menschen, die berechtigte und sachliche Anliegen vorbringen, von den Wirrköpfen in den Schatten gestellt und überschrien werden. Beide demonstrieren Seite an Seite und man kann nicht mehr unterscheiden, wer vernünftig und wer irre ist. Die Gefahr, dass die Vernünftigen von finsteren Kräften gekapert und radikalisiert werden, ist gross. Viele merken gar nicht, dass sie Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen und Verwirrten treiben.
Sich abgrenzen von Rechtsextremen und Spinnern
Deshalb ist es wichtig, dass sich jene, die diskutieren wollen und sachliche Argumente haben, sich klar von den Rechtsextremen und der lauten Meute der Wirren abgrenzen und sich von den Spinnern distanzieren. Das ist nicht einfach. Doch gelingt es ihnen nicht, schaden sie sich und ihrer Sache.
Dann nämlich werden sie in den gleichen Topf geworfen wie jene Illuminierten, die am Samstag mit verschränkten Beinen in Buddha-Stellung auf dem Platz sassen, die Augen schlossen, den Kopf gegen den Himmel wandten und wahrscheinlich den lieben Gott anflehten, er solle sie doch von den Virus-sprühenden Mobilfunkantennen erlösen.