Der Druck auf eine radikale Lockerung des Lockdown steigt. Das war nicht anders zu erwarten. Man hat genug von geschlossenen Restaurants und Läden, genug von Versammlungsverbot und abgesperrten Seeufern. Man will wieder hinaus.
Was hörten wir alles in den letzten Tagen! Die Epidemie sei erfunden, damit einige wenige die Macht an sich reissen könnten. Bill Gates habe das Virus in die Welt gesetzt, um den Planeten zu entvölkern. Rechtsextreme, Linksextreme, Impfgegner, Evangelikale, Verschwörungsgläubige und Esoteriker mischen mit. Der Spiegel spricht von einer „Allianz des Schwachsinns“. „Wer verdient an Corona?“, heisst es auf einem Plakat. Ein Chefredaktor faselte von Seuchen-Sozialismus. Der deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller unterzeichnete einen Aufruf, indem es heisst, der Lockdown sei dazu da, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen. Dies sei der Auftakt zur „Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“. Man kriegt den Eindruck, als seien wir von Irren umzingelt.
Aber es gibt nicht nur Irre. Dass die stark gebeutelte Wirtschaft auf eine rasche Lockerung drängt, ist verständlich. Dass andererseits Virologen weiterhin vor der Gefahr warnen und Schutzmassnahmen für die Bevölkerung propagieren, ist ebenso verständlich. Zu den Aufgaben der Regierungen gehört es, beide Positionen abzuwägen und Massnahmen zu verordnen, die die Bevölkerung schützen und der Wirtschaft möglichst wenig schaden. Das ist nicht einfach. Wie viel kurzfristige wirtschaftliche Schäden will man mit einer vorsichtigen Gesundheitspolitik in Kauf nehmen? Die Frage enthält viel Zündstoff.
Aber: Ist der Lockdown der erste Schritt zur Diktatur? Zum Sozialismus? Wäre er das, stünde unser schweizerisches Staatsgebilde auf schwachen Füssen. Wie sagte das SP-Urgestein Helmut Hubacher: „Unsere Demokratie ist stark genug, das Notrecht zu ertragen, um es so bald wie möglich zu beenden.“
Trotzdem fragen sich einige: Hat der Bundesrat überreagiert? War alles doch nur halb so schlimm?
Wenn eine Pandemie ausbricht, ist es wichtig, dass man ganz am Anfang energische Massnahmen ergreift – dann nämlich, wenn die Zahl der Infizierten noch gering ist. Nur so kann es gelingen, dass sich die Seuche nicht explosionsartig ausweitet. Der Bundesrat hat das getan und am Anfang schnell und konsequent gehandelt. So konnte erreicht werden, dass es eben nicht zur Katastrophe gekommen ist: dass die Zahl der Angesteckten und Toten relativ gering blieb.
Doch gerade deshalb, weil die Katastrophe dank dem bundesrätlichen Handeln ausblieb, gerät die Landesregierung jetzt in die Kritik. Jetzt sagen einige: Seht euch die Zahlen an, alles gar nicht so schlimm, der Bundesrat hat überreagiert. Aber: Die Katastrophe ist ausgeblieben, weil die Regierung rasch gehandelt hat, und nicht weil die Pandemie nicht so schlimm ist.
Es gibt Leute, die haben Mühe, solchen Gedankengängen zu folgen. Sie weisen auch darauf hin, dass die bundesrätliche Politik nicht konsequent war: ständig Korrekturen und neue Empfehlungen. Die Corona-Pandemie hat alle überrascht, auch Wissenschaftler und Politiker. Noch heute weiss man wenig über das Virus. Man tastet sich an das Problem heran. Da kann es vorkommen, dass man zu neuen Erkenntnissen kommt. Ja, man kann sich auch irren und dazulernen. Dass der Bundesrat das zugibt, spricht für ihn. Dass er seine Empfehlungen ab und zu ändert, zeugt nicht von Schwäche, sondern von Lernfähigkeit und Stärke.
Auch viele Medien haben in jüngster Zeit umgeschwenkt und sparen nun nicht mit Kritik an der Landesregierung. Wie viele Journalisten – und natürlich auch Politiker – wissen plötzlich, was man hätte tun sollen und was nicht. Schade, sitzen einige von ihnen nicht in der Regierung – dann wäre alles besser.
Der Bundesrat hat uns bisher sicher – und mit einer offenen, klugen Informationspolitik – durch diese Krise gesteuert. Natürlich soll auch er sich der Kritik stellen. Es mag sein, dass einige Massnahmen übertrieben waren. Aber wenn man einen Graben überspringen muss, ist es besser, zehn Zentimeter zu weit zu springen, als zehn Zentimeter zu wenig. Der Unternehmer und frühere SVP-Nationalrat Peter Spuhler sagte es deutlich: „Der Bundesrat macht einen Super-Job.“