Drei Monate nach der Hamas-Massenmord-Attacke vom 7. Oktober befinden sich die Akteure aller Kräfte in auswegloser Situation.
- Die Chefs von Hamas sind im Gazastreifen in den Tunneln unter den Trümmern der zerbombten Städte ohne Chance, den Krieg überleben zu können;
- Israels politische und militärische Führung sind ohne Aussichten, ihre Ziele (totale Vernichtung der Terror-Organisation und Befreiung der Geiseln) zu erreichen;
- Hizbullah in Libanon befindet sich zwischen Hammer und Amboss: zwischen dem Hammer der Verpflichtung, mit militärischen Aktionen an der Nordgrenze Israels Loyalität gegenüber Hamas und dem fernen Drahtzieher Iran zu beweisen, und dem Amboss israelischer Vergeltungsschläge – Schläge, die zu einer Eskalation des Kriegs mit ganz Libanon führen können.
Eine solche Eskalation zu vermeiden, ist jetzt das Ziel von zeitgleich drei internationalen Möchtegernvermittlern: US- Aussenminister Blinken reist, einmal mehr, kreuz und quer durch die Krisenregion. Auf Missionen mit gleichen Zielen reden Josep Borrell, Aussenbeauftragter der EU, und Annalena Baerbock, deutsche Aussenministerin, auf die Verantwortungsträger der verschiedenen Seiten ein.
… dann explodiert das Pulverfass
Wo versprechen sie sich wenigstens minimale Chancen? Offenkundig am ehesten noch beim schwelenden, noch nicht voll ausgebrochenen Konflikt zwischen Israel und der libanesischen Hizbullah-Miliz. Deren Chef, Hassan Nasrallah, gab in zwei Reden in den letzten Tagen zu erkennen, dass er eigentlich eine Eskalation vermeiden möchte. Hizbullah sei «bereit» für einen Krieg, sagte er in noch recht vagen Worten in der ersten Rede, in der zweiten aber folgte die Ankündigung, seine Miliz werde die Ermordung des hochrangigen Hamas-Funktionärs Saleh al-Aruri in Beirut rächen. Einen Tag später schon flogen mehr als 60 Hizbullah-Raketen auf einen militärischen Stützpunkt Israels im Norden des Landes. Was die israelischen Truppen prompt mit einem Gegenangriff auf echte oder vermutete Kommandozentralen der Miliz im Süden Libanons beantworteten.
Noch bleibt es bei sporadischen Attacken und Gegen-Attacken – es braucht aber nur einen weiteren Funken, dann explodiert das Pulverfass. Dann wird Israel, nach dem Gaza-Krieg, in einen weiteren Konflikt verwickelt. Er könnte für die israelischen Truppen noch schwieriger werden als der nun schon drei Monate dauernde mit Hamas im Gaza-Streifen. US-Experten innerhalb des Teams von Präsident Joe Biden hätten Netanjahu gewarnt, Israel könne einen solchen Krieg nicht gewinnen, liess die «US Defense Intelligence Agency» (DIA) zu den Medien durchsickern.
Mehr als 100’000 Raketen stehen bereit
Aber der israelische Premier bleibt bei seiner Forderung an Hizbullah: Er forderte ultimativ eine «grundlegende Änderung» an der Grenze zu Libanon. Verteidigungsminister Joav Galant doppelte nach mit dem Hinweis, mehr als 80’000 Israeli, die aufgrund der Raketenangriffe durch die libanesische Hizbullah-Miliz in den letzten zwei Monaten zur Evakuierung aus den grenznahen Regionen gezwungen wurden, müssten nun die Möglichkeit zur Rückkehr erhalten. Galant ergänzte: «Es gibt nur noch ein kurzes Zeitfenster für diplomatische Verständigungen.»
Eine grundlegende Änderung in der Region wird Hizbullah nicht akzeptieren. Die Miliz bezieht ihre vorrangige Raison d’être innerhalb des komplexen Machtapparats Libanon in erster Linie aus dem vor Jahren erreichten Erfolg gegen die israelische Besetzung von Teilen Südlibanons. Sie wurde als Befreierin gefeiert und entwickelte sich, dank iranischer Unterstützung, zur potentesten Macht in Libanon – mit mindestens 30’000 aktiven Kämpfern und einem Waffen-Arsenal von, unter anderem, mehr als 100’000 Raketen. Hizbullah ist im libanesischen Parlament mit einer starken Fraktion vertreten und hat seine Ableger auch in der Regierung. Ausländische Regierungen versuchten und versuchen zwar weiterhin, eine Trennlinie zu ziehen zwischen der Miliz und den politischen Institutionen von Hizbullah und setzten die Miliz auf eine Sanktionsliste, die politischen Institutionen dagegen nicht. In der Praxis hat sich die scharfe Trennung als unmöglich erwiesen, das heisst, wer die Hizbullah als Miliz isolieren will, müsste auch die Regierung des Landes isolieren. Der interimistische Premier von Libanon, Najib Mikati, warnt nun, das Land werde tagtäglich gravierender destabilisiert, aber das Gesetz des Handelns liegt bei Hasan Nasrallah, dem Chef von Hizbullah.
Dann hätte Nasrallah keine Wahl mehr
Hizbullah anderseits ist Teil jener Achse des Widerstands, zu der Iran, die jemenitischen Huthi und auch Hamas gehören – das heisst, Nasrallah ist eingebunden in ein Geflecht von schwer durchschaubaren Verpflichtungen. Die Spitze von Hamas wirft ihm seit dem Beginn des Konflikts im Oktober vor, er drücke sich vor der Verantwortung. Würde Hizbullah Israel mit all der ihr zur Verfügung stehenden Macht herausfordern, könnten die israelische Luftwaffe und die Bodentruppen ihre Attacken im Gaza-Streifen nicht weiter fortsetzen, lautet die Argumentation.
Noch widersetzt sich Hizbullah solchen Appellen – aber sollte Israel sich dazu entschliessen, die jetzt noch punktuellen Angriffe in Libanon auszuweiten, hätte Nasrallah keine Wahl mehr.
Einen solchen «point of no return» zu vermeiden, ist das zentrale Ziel der Gespräche des amerikanischen Aussenministers, der deutschen Aussenministerin und des EU-Beauftragten Josep Borrell bei den verschiedenen Akteuren in der Krisenregion. Die Erfolgsaussichten allerdings stehen schlecht: Der Konflikt hat eine derartige Eigendynamik erreicht, dass er von aussen kaum mehr zu beeinflussen ist.