Österreich hat eins, Frankreich auch und die SVP ist der Ansicht, auch die Schweiz brauche eines: Ein Islamgesetz. Lega-Nationalrat Lorenzo Quadri hat bereits im Dezember 2020 die Motion «Der politische Islam soll auch in der Schweiz ein Straftatbestand werden» (Motion 20.4568) eingereicht, im Juni 2021 veröffentlichte die SVP ein Positionspapier zum Thema.
Wie bereits bei den Abstimmungen zu Minaretten und Gesichtsverhüllungen wird aber auch die Diskussion über ein allfälliges Islamgesetz unweigerlich zu heftigen Auseinandersetzungen in Politik und Medien führen. Dabei sind sich wohl alle Beteiligten darüber einig, dass militanter Extremismus zu verurteilen und Rechtsstaat und Demokratie zu schützen sind. Schwierig sind diese Diskussionen, weil sich in ihnen oft unterschiedliche Themenfelder überlappen. Es lassen sich drei Debatten unterscheiden: Eine erste Debatte über den politischen Islam selber, eine zweite über unser Verhältnis zum Islam, und eine dritte über die Demokratie.
Debatte 1: Politischer Islam oder politische Partizipation?
«Politischer Islam», das klingt nach allem, was den Islam problematisch macht: Burka und Scharia, Taliban und Terror. Trotzdem tun sich Wissenschaft und Medien immer wieder schwer, wenn es darum geht, den Begriff zu definieren. Handelt es sich beim «Politischen Islam» um eine klar benennbare und abgrenzbare Strömung? Oder geht es um «politischen» Islam, mit kleinem «p», also beispielsweise politische Positionen, die islamisch legitimiert werden? Aktuell wird der Begriff meist im Sinne einer klar benennbaren Strömung verwendet, synonym zu Islamismus (der im Übrigen ebenfalls nur schwer zu definieren ist, will man nicht einfach auf konkrete Gruppen wie die Muslimbruderschaft verweisen, die so bezeichnet werden).
Auch die österreichische «Dokumentationsstelle Politischer Islam» schafft mit ihrer Definition wenig Klärung bezüglich der Differenz zu Begriffen wie Islamismus oder Salafismus. Tatsächlich legt die Dokumentationsstelle nicht dar, worin das Problem eines politischen Islams liegt, sondern wählt gerade eine umgekehrte Strategie: Sie definiert den Politischen Islam über seine Problematik, nämlich über die Ablehnung der Demokratie. Eine Haltung fällt demgemäss unter die Bezeichnung «Politischer Islam», wenn sie eine islamisch begründete Beeinflussung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anstrebt, die im «Widerspruch zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten» steht.
Verschiedene Exponentinnen und Exponenten warnen seit Jahren vor derartigen politischen Strömungen, in der Schweiz prominent etwa Saïda Keller-Messahli. Von Behördenseite, beispielsweise der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), wird in diesem Kontext oft von «legalistischem Islamismus» gesprochen. Gemeint sind Einzelpersonen, Vereine und weitere Organisationen, die vordergründig die geltende Rechtsordnung respektieren. Im Hintergrund, so die Kritik, verfolgten sie aber eine antidemokratische Strategie und versuchten, die muslimischen Gemeinden entsprechend zu indoktrinieren.
Gegen diese Feinde der Demokratie und der geltenden gesellschaftlichen Normen also soll juristisch vorgegangen werden können. Hierzu brauche es entsprechende rechtliche Grundlagen – ein Gesetz gegen den Politischen Islam, oder gleich ein Islamgesetz.
Negative Konsequenzen eines Begriffs
Die Kriminalisierung des politischen Islams hat Kritik hervorgerufen, besonders aus den Fachwissenschaften. Das hat zunächst mit dem Begriff selber zu tun, der viel breiter ausgelegt werden kann, als in der Definition der Dokumentationsstelle – eben wenn auf dem kleinen «p» in «politisch» beharrt wird. Die Dokumentationsstelle weist sogar selber darauf hin, dass es durchaus legitime gesellschaftliche Partizipation durch Musliminnen und Muslime gebe, und dies auch auf religiöser Grundlage.
Ergibt es aber Sinn, mit «Politischer Islam» eine konkrete Programmatik zu bezeichnen, wenn islamisch begründete gesellschaftliche Partizipation gleichzeitig toleriert wird? Der Begriff «Politischer Islam», so daher die Kritik, benenne nicht die eigentliche Problematik, z. B. antidemokratische Positionen. Stattdessen laufe er Gefahr, jegliche religiös argumentierende politische Partizipation von Musliminnen und Muslimen zu kriminalisieren.
Wenn es diverse Formen derartiger Partizipation gibt, dann stimmt die Gleichsetzung von Islamismus, Fundamentalismus und Politischem Islam nicht mehr, die sich oft in Definitionen zum Politischen Islam findet. Die deutsche Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer hat daher in einem FAZ-Interview von Anfang Jahr als grobe Orientierung vorgeschlagen: «Vereinfacht könnte man sagen: Fundamentalismus – wie lese ich den Koran? Islamismus – wie gestalte ich mein Leben? Politischer Islam – wie verhalte ich mich politisch?»
Debatte 2: Der «Islam» und «Wir»
In Diskussionen über den Politischen Islam ist meist auch der Islam selber Thema. Dabei gehen die Sichtweisen unter denjenigen Kommentatorinnen und Kommentatoren auseinander, die sich bei der Deutung des Politischen Islams als Bedrohung noch einig sind. Die drei häufigsten Positionen betrachten den Islam entweder 1) als unproblematisch, 2) als reformbedürftig oder, aufgrund problematischer Koranstellen, 3) als grundsätzlich problematisch und mit der Demokratie unvereinbar. Diese dritte Version liegt offenbar dem Positionspapier der SVP zugrunde, wenn betont wird, dass die Abgrenzung von Islam und politischem Islam schwer zu fassen sei. Dahinter steckt die Annahme, dass Muslime aus ihrer Religion einen politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsanspruch generierten, bzw. dieser unumgänglich sei, wenn man den Islam «streng» praktiziere.
Solche Deutungen kommen dem Islamverständnis von Gruppierungen wie der Muslimbruderschaft oder salafistischen Bewegungen erstaunlich nahe. Musliminnen und Muslime in der Schweiz, die ihren Glauben anders deuten und auch anders leben, sehen sich so zeitweise mit der Aufgabe konfrontiert, gleichzeitig der Islamdeutung islamistischer wie derjenigen rechtskonservativer Kräfte entgegenzutreten.
So wird der Islam gleich von zwei Seiten her «fundamentalisiert». Das heisst, der Islam wird auf wenige Elemente reduziert, etwa den Koran oder gar einzelne Koran-Suren, und die entsprechenden Lesarten beanspruchen ausschliessliche Gültigkeit. Alternative Deutungen oder komplexere Herangehensweisen an Glaube und Frömmigkeit haben in dieser Praxis keinen Raum. Islamismus und Islamkritik folgen also oft der gleichen Logik und bestätigen sich gegenseitig.
Kritik an Fundamentalisierung und Essentialisierung
Dieser hier «Fundamentalisierung» genannte Prozess beschreibt der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer als Ambiguitätsintoleranz. Er sieht darin ein typisches Merkmal der Moderne. Wenn islamische Fundamentalisten den Islam auf eine exklusive, gar gewalttätige Dimension reduzieren, dann ist das weder spezifisch islamisch noch «mittelalterlich». Es handelt sich um das gleiche moderne Verhalten wie bei rechtsextremer Fremdenfeindlichkeit oder antisemitischen Vorurteilen.
Analog zur Fundamentalisierung von Religionen werden Menschen essentialisiert, also ebenfalls auf ein einzelnes Element reduziert. Muslime sind dann eben in erster Linie Muslime. Ihr gesamtes Denken und Handeln wird gemäss dieser Deutung durch ihre Religionszugehörigkeit bestimmt.
Dass diese Sichtweise nicht haltbar ist, müsste eigentlich ein einzelner Blick in die vielgestaltige Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften bereits zur Genüge aufzeigen. Fundamentalislierung und Essentialisierung rufen denn auch vielgestaltige Kritik hervor. Weder sollten Menschen auf ein einzelnes Element ihrer Identität, noch der Islam auf eine einzelne Deutung reduziert werden. Gerade diese Reduktion des Islams bestätige Islam-Verständnisse wie dasjenige gewaltbereiter Gruppierungen, und lasse gleichzeitig andere, wesentlich weiter verbreitete Deutungen als «weniger islamisch» erscheinen. Die Fundamentalisierung verstelle dadurch den Blick auf Debatten, die innerhalb der islamischen Welt selber über den Islam geführt werden.
Aus fundamentalisierungs-kritischer Sichtweise gibt es also keine «Schieberegler-Logik», bei der eine Islam-Skala von «strenggläubig und radikal» über «gemässigt» bis zu «säkularisiert» verlaufen würde. Vielmehr können auch Islamdeutungen «strenggläubig» und wahrhaft islamisch sein, die ein friedliches Zusammenleben mit anderen Religionen und Demokratie propagieren.
Wer ist «wir»?
Fundamentalisierung und Essentialisierung sind für die Beschäftigung mit dem Islam besonders problematisch, weil «Islam» nicht nur für sich genommen definiert wird, sondern auch als Gegenbegriff zum «Westen» dient. Demokratie, Säkularismus, Gleichberechtigung oder schlicht «wir» – spätestens seit dem 11. September 2001 ist «Islam» das Negativ-Konzept zu allem, was als westlich erachtet wird. «Islam» ist das Andere, und in der Differenz zu diesem Anderen wird das «Wir» definiert – eine klassische Alteritätskonstruktion. Das erklärt die obsessive Beschäftigung mit der Kompatibilität von Islam und Demokratie: Da der Islam als Gegenkonzept zu «uns» dient, ist nicht mehr denkbar, dass er «Teil von uns» sein kann. Entweder Islam oder Demokratie – oder Westen, oder Freiheit, was auch immer gerade definiert werden soll. An dieser Sichtweise wird kritisiert, dass «wir» mit solchen Polarisierungen die Augen vor dem gelebten Alltag verschliessen würden. Es gäbe Musliminnen und Muslime, die problemlos Teil von «uns» seien, weder extremistisch sind noch Frauen verachtend, von denen wir vielleicht gar nicht wüssten, welcher Religion sie angehörten.
Debatte 3: Demokratische Differenzen
Die dritte Debatte, die anhand des Islams in der Schweiz geführt wird, hat eigentlich gar nichts mehr mit dem Islam selber zu tun. Stattdessen dreht sie sich um unterschiedliche Auffassungen von Demokratie. Eine dieser Auffassungen ist vornehmlich in konservativen und politisch rechten Milieus anzutreffen. Sie geht von einem Volkswillen aus, der in politischen Regelungen seinen Ausdruck finden muss (was stark an die Positionen Carl Schmitts erinnert). Eine Forschungsgruppe der Universität Münster, die sich mit den Dynamiken zwischen Religion und Politik beschäftigt, bezeichnet diese Haltung als diejenige der «Verteidiger»: Sie würden sich oder das Gemeinwesen bedroht sehen durch Ereignisse wie Flüchtlingskrisen oder Unsicherheiten über den Umgang mit kulturellen Unterschieden und Wertkonflikten. Dieser Verteidigungsanspruch findet sich auch im Positionspapier der SVP. Dort werden «wirksame Sanktionen für Familien oder einzelne, die sich innerhalb und ausserhalb der Schule weigern, die Schweizer Umgangsformen und Gepflogenheiten zu akzeptieren» gefordert.
Eine solche Haltung beinhaltet oft die Vorstellung von einer mehr oder weniger homogenen Bevölkerung, die über einen geteilten Wertekonsens verfügt. Dieser Konsens sei durch das Fremde bedroht (insbesondere durch den Islam, der, wie oben gesehen, das «grundlegend Andere» darstellt). Denn die homogen imaginierte Bevölkerung oder der «Volkswille» werden als Grundlage für das demokratische System gesehen.
Homogenes Volk oder Grundrechte?
Dieses Demokratieverständnis ruft Kritik hervor, besonders aus den Reihen der politischen Linken. Demnach ist Demokratie nicht von Grundrechten zu trennen, welche die Gleichbehandlung der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten (und so freie politische Partizipation erst ermöglichen). Menschen dürfen nicht aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit unterschiedlich behandelt werden – auch nicht, um einen Wertekonsens zu verteidigen.
Das Positionspapier der SVP trägt kaum dazu bei, Befürchtungen vor religiöser Diskriminierung zu zerstreuen. Etwa, wenn die Diskussion über den Islam mit der Forderung nach einer gezielten Steuerung von Migration verknüpft wird. Sollten, so die Kritik, etwa Asylanträge unterschiedlich bewertet werden, je nachdem ob jemand Muslim sei oder Christ? Würden damit die «Werte», die angeblich verteidigt werden sollen, nicht bereits aufgegeben?
Somit stehen sich zwei Lager gegenüber (Carl Schmitt gegen Jürgen Habermas, gewissermassen): Die eine Seite sieht das politische System und den gesellschaftlichen Konsens gefährdet, wenn nicht ein Wertekonsens verteidigt und die Homogenität der Bevölkerung durch entsprechende Assimilation der «Anderen» gewährleistet wird. Sie richtet sich mit Verboten und Anforderungen an Musliminnen und Muslime in der Schweiz, da diese verdächtigt werden, den Konsens zu stören. Die andere Seite sieht die Demokratie gefährdet, wenn Menschen aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit verdächtigt und ungleich behandelt werden oder ihnen gar Grundrechte vorenthalten werden. Denn ob Grundrechte von Muslimen oder von «waschechten Eidgenossen» angegriffen werden, macht für sie keinen Unterschied.
Schutz oder Gesinnungsgouvernanz?
Die Aufschlüsselung anhand der verschiedenen Debatten zeigt: Die Diskussion über Islam und speziell über den politischen Islam wird darum so heftig geführt, weil verschiedene, teils abstrakte Ebenen sich gegenseitig überlagern. Oft wird zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen hin und her gewechselt, was die Verständigung erschwert. Es besteht also keine Uneinigkeit darin, dass Extremismus zu bekämpfen sei – wohl aber in der Frage, welche Methoden dafür gerechtfertigt und zielführend sind.
Was heisst das nun für die Debatte um den Islam und ein allfälliges Islamgesetz? Die Frage lautet hier: Muss eine Gesetzesgrundlage geschaffen werden, um gegen antidemokratische Haltungen überhaupt vorgehen zu können? Denn eine solche Gesetzesgrundlage, so deren Befürworter und Befürworterinnen, fehle bislang – was beispielsweise ein Vorgehen gegen den legalistischen Islamismus verhindere. Eine Anschlussfrage könnte hier zur Klärung beitragen: Sind solche antidemokratischen Haltungen nur ein Problem, wenn sie islamisch fundiert sind, oder liegt ihre Gefahr eben darin, dass sie antidemokratisch sind? Sollte die zweite Option stimmen, dann müsste allenfalls ein Gesetz geschaffen werden, dass nicht auf den Politischen Islam begrenzt ist.
Der Bundesrat hat bereits im Februar auf die Motion von Nationalrat Quadri für ein Islamgesetz geantwortet. Auch er argumentiert, dass die Begrenzung eines solchen Gesetzes auf eine einzelne Religion diskriminierend sei. Die Frage, ob die Schweiz einen Straftatbestand «politischer Islam» brauche, verneint das bundesrätliche Antwortschreiben kurz und bündig: «Ein Gesinnungsstrafrecht lehnt der Bundesrat ab.»