Bei der anhaltenden Debatte unter westlichen Islamverstehern und Islamkritikern fühlt man sich oft an Ludwig Wittgensteins berühmte Metapher des Fliegenglases erinnert: Wir sitzen im Behälter unserer Voreingenommenheiten, den wir nicht sehen und an dessen Wände wir ständig wie die Fliegen prallen.
Befreien wir uns je aus dem kulturellen Glassturz? Nein. Es gibt nur Fliegengläser, engere und geräumigere. Das scheint nun zunächst einmal recht aporetisch anzumuten, könnte aber als ein Appell verstanden werden, das Fliegenglas, in dem man sitzt, etwas genauer zu inspizieren. Die sogenannte Islamdebatte weist meines Erachtens die typisch asymmetrische Struktur des Vorurteils auf: Es richtet sich nicht nach der Welt, sondern die Welt nach sich. Ich betrachte kurz drei solche Asymmetrien.
Aufklärung versus dogmatischen Schlummer
Erstens: Wir im Westen sind aufgeklärt – ihr im Islam verharrt im dogmatischen Schlummer.
Stillschweigend verbindet dieses Klischee die Aufklärung mit dem Europa des 18. Jahrhunderts. Aber Aufklärung findet ja überall da statt, wo man etwas nicht weiss, wo man zweifelt, wo man die Grenzen dessen erkundet, was man wissen und erkennen kann. Nun machen schon seit langem Expertinnen und Experten darauf aufmerksam, dass im Islam eine alte und lange Tradition solcher Grenzerkundung existiert. Und man sollte sich in diesem Zusammenhang nicht auf den üblichen lahmen historischen Hinweis beschränken: Ja, aber dieses „goldene Zeitalter“ ist halt schon lange vorbei! Tatsächlich belehrt ein interessierter Blick, dass heute überall reformistische, aufklärerische Postulate aus dem Innern des Islams erhoben werden. So ist vor noch nicht allzu langer Zeit das Buch „Kritik der arabischen Vernunft“ des 2010 verstorbenen marrokanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri auf Deutsch erschienen. Der Autor setzt hier zu einer Fundamentalkritik der traditionellen Koranlektüre an, die im verständnislosen Rezitieren von Versen bestehe. Auf diese Weise sei keine Autonomie gegenüber den heiligen Texten möglich: Nicht der Leser liest den Koran, sondern der Koran „liest“ ihn. Genau das meinte Kant mit der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“.
Wissen versus Glauben
Zweitens: Wir im Westen haben eine vom Wissen geprägte Kultur – ihr im Islam eine vom Glauben geprägte.
Nun lassen sich zweifellos Unterschiede in der westlichen und islamischen Wissenskultur ausmachen. Zum Beispiel postuliert der Islam einen Urzustand der Unwissenheit – Dschahiliyya –, den der Glaube in die heilige Schrift aufhebt. Als Muslim ist man gleichsam apriori „wissend“, wenn man nur an den Koran glaubt, weil darin alles „Wissen“ steckt. Das steht in einem scharfen Kontrast zum Skeptizismus der europäischen Tradition, der nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen fragt. Zumindest ist seit Hume und Kant derjenige, der beansprucht, sein Wissen aus einem heiligen Text zu beziehen, evidenzpflichtig, er muss sein Beweismaterial vor einem kritischen erkenntnistheoretischen Tribunal beibringen.
Der Weg der Aufklärung führt aber nicht einfach vom Glauben zum Wissen. Im Gegenteil: Er setzt Glauben und Wissen in eine neues Verhältnis. Seit Jürgen Habermas den Begriff der postsäkularen Gesellschaft aufgebracht hat, ist eine Debatte über die Rolle der Religion im säkular-öffentlichen Alltag des Westens im Gange; die Debatte um die Verträglichkeit von Atheismus und Glauben erhitzt die Gemüter, und sie ist umso nötiger, als szientistische Eiferer uns vom „Gotteswahn“ heilen wollen. „Aufkläricht“ nannte dies schon Lessing. Symmetrisch dazu nimmt man aber auch zur Kenntnis, dass sich einflussreiche islamische Denker wie der Iraner Abdolkarim Soroush schon seit längerem dafür einsetzen, religiöses Wissen einer Erkenntniskritik zu unterziehen, also zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Interpretation der heiligen Texte zu unterscheiden. Die Frage ist zentral für den Glauben: Ist das, was da steht, überhaupt Gottes Wort oder Zeugnis einer spirituellen menschlichen Erfahrung, die über Generationen tradiert und auch verzerrt worden ist?
Kritische versus buchstabengläubige Lesart
Drittens: Wir im Westen haben eine kritische Lesart der heiligen Schrift – ihr im Islam seid buchstabengläubig.
Auch das erweist sich als ein Klischee. Der ägyptische Koranwissenschafter Nasr Hamid Abu Zaid, ebenfalls 2010 verstorben, straft es Lügen. Abu Zaid personifiziert quasi Gläubigkeit und kritischen hermeneutischen Geist. Den Koran verehrte er als religiöser Mensch wie als Literaturwissenschafter gleichermassen. Und in diesem Sinne plädierte er für eine Beschäftigung mit dem Koran, die dessen Geschichten „nicht als historische Dokumente, sondern als literarische Erzählungen“ verstehen solle. Man nannte Abu Zaid auch den Spinoza des Islam. Vor allem aber betonte er, dass sich uns die Wahrheiten der heiligen Schrift nicht über mehr oder weniger legitimierte Exegeten und deren Interpretationskartelle erschliessen würden, sondern in erster Linie über die menschliche Vernunft. Gott hat uns allen dieses „natürliche Licht“ geschenkt und deshalb sind wir alle Schriftgelehrte. Radikal beim Wort genommen, kann man daraus den Schluss ziehen, dass alle zentralen Begriffe des Islams, wie etwa der Offenbarung, der Scharia oder Umma, neu und zeitangepasst gedacht werden müssten; inklusive der Begriff des Islams – der „Unterwerfung“ – selbst. Hört!
Die „Nos-quoque-Regel“
Die Beispiele liessen sich beliebig vermehren. Ihre Lektion: Der Andere ist vielleicht gar nicht so anders als man selbst; seine Andersheit kann auch gerade durch eine bestimmte Art von „Debatte“ festgeschrieben werden. Ich möchte es hier nicht unterlassen, den Schweizer Philosophen Elmar Holenstein in Erinnerung zu rufen, der schon vor über zwanzig Jahren ein „Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse“ vorgestellt hat. [1] Er prägte speziell die sogenannte „Nos-quoque-Regel“ – die „Auch-wir-Regel“: Was wir an den andern kritisieren, kommt auch bei uns vor. Was wir an uns loben, finden wir auch bei den andern. Buchstabengläubigkeit und kritischer Geist: in unserem wie im anderen Fliegenglas.
Die Debatte muss symmetrisch geführt werden
Man wird jetzt einwenden, solch schön-akademisches Räsonnement trüge den blutigen Machtverhältnissen im islamisch-arabischen Raum nicht Rechnung, wo man reformerische Denker gewöhnlich als Ketzer hinrichte oder ins Exil zwinge. Das ist eine skandalöse Tatsache, fürwahr. Aber erstens zersetzt man solche Gewalt längerfristig und am wirkungsvollsten von innen, mit dem Spaltpilz des Gedankens. Zweitens geht es um die hiesigen Verhältnisse. Der Islam ist schweizerischer Alltag. Und dieser Alltag ist auf weiten Strecken geprägt von gegenseitiger Unkenntnis.
Deshalb ist die Wahrnehmung, dass wir alle in kulturellen Fliegengläsern sitzen, nicht bloss von akademischer, sondern von eminent kulturpolitischer, ergo bildungspolitischer Bedeutung. Und aus solchem Grund erscheint es umso dringlicher, dass die kommenden Generationen – eingesessene und eingewanderte – lernen, ihr Fliegenglas-Dasein wahrzunehmen und die Debatte entsprechend symmetrisch zu führen.
Die Grenzen verlaufen mitten durch uns selbst
Kurz: Das „Nos quoque“ gehört in unseren Schulunterricht. Für uns „Hiesige“ heisst das: Minimalkenntnisse der islamischen Tradition; für die Muslime: Förderung von Lehrern, die kritisch mit ihrer Tradition und ihren heiligen Schriften umzugehen wissen und nicht einfach Koranverse in pubertierende Schädel stopfen. Im Besonderen sollten wir jene „Lehrer“ im wachsamen Auge behalten, die uns im Ungeist eines erzreaktionären, ölverseuchten Wahabismus zu indoktrinieren suchen. Eine Islamdebatte im besten Sinne des Wortes unterliefe also jene Grenzlinien, die durch Willen zur Macht, geistigen Provinzialismus, vermauerte Orthodoxie und verfaulte politische Korrektheit gezogen worden sind. Diese Grenzen verlaufen nicht zwischen Kulturen, sondern mitten durch uns selbst.
[1] Einer der besten erkenntnistheoretischen Einstiege in den interkulturellen Diskurs; them.polylog.org/4/ahe-de.htm