Jordanien hat am 23. Januar ein neues Parlament gewählt. Es waren vorgezogene Wahlen, von denen die Regierung gehofft hatte, dass sie ein repräsentativeres Parlament hervorbrächten, als es die vorausgehenden, mehrmals vorzeitig aufgelösten gewesen waren.
Die Regierung braucht ein Parlament, mit dem die Bevölkerung sich identifizieren kann, weil das Land sich gezwungen sieht, sehr unpopuläre und für die einfachen Leute schmerzhafte Sparmassnahmen durchzuführen. Der Internationale Währungsfonds, dessen Hilfe dringend benötigt wird, fordert als Vorbedingung neuer Anleihen, dass Jordanien seine Subventionen für Gas, Erdölprodukte, Elektrizität und Weizen abbaue. Er regt auch eine Reduktion der zahlreichen Staatsstellen an, die bisher dazu gedient haben, die Position der Monarchie im Lande zu stützen.
Fast unentbehrliche Subventionen
Die hohen Subventionen kosten das Staatsbudget viel. Doch sie helfen den breiten jordanischen Unterschichten in entscheidender Art und Weise, über die Runden zu kommen. Die Armen leben weitgehend von Brot und Tee, und jedermann kocht mit Butangas. Die Benzinsubventionen verbilligen die Transporte; wenn sie wegfallen, werden sich alle Preise erhöhen. Die hohe Arbeitslosigkeit ist einer der wichtigsten Gründe für die im Lande herrschende Unzufriedenheit.
Die Strasse meldet sich zu Wort
Am vergangenen 13. und 14. November gab es heftige Demonstrationen, die in Gewalt umschlugen. Ein Toter und 17 Verwundete waren zu beklagen. Die Demonstranten forderten zum ersten Mal nicht nur den Sturz der Regierung, sondern jenen des Königs. Anlass der Demonstrationen war eine erste Anhebung der Gas- und Benzinpreise. Häufig finden stärker politisch ausgerichtete Demonstrationen der oppositionellen «Islamischen Aktionsfront (FAI)» statt, doch sie vermochten nie derart grosse Menschenmengen auf die Strassen zu bringen, wie die Preiserhöhungen es taten.
Boykott durch die eigentliche Opposition
Im Vorfeld der Wahlen hatte die Regierung auf Weisung des Herrschers versucht, die Islamische Aktionsfront, deren weitaus wichtigste Komponente die Muslimbrüder bilden, von ihrem Standpunkt abzubringen. Die Front hatte beschlossen, die Wahlen zu boykottieren, wenn das Wahlgesetz nicht geändert werde. Verhandlungen darüber fanden statt, und es kam zu einem neuen Wahlgesetz. Doch dieses entsprach nicht den Wünschen der Front, und sie blieb bei ihrer Boykottparole.
Da die Islamische Aktionsfront die einzige grössere und landesweit organisierte Partei in Jordanien darstellt und daher als die weitaus wichtigste Parteiformation Jordaniens gilt, hat ihr Boykott den Hauptzweck dieser Wahlen von vornherein in Frage gestellt. Dieser Zweck war, ein Parlament zu bilden, mit dessen Repräsentanten die Bevölkerung sich identifizieren kann.
Das permanent umstrittene Wahlgesetz
Das neu formulierte, aber dennoch die Vorstellungen der Opposition nicht befriedigende Wahlgesetz fiel ziemlich kompliziert aus. Alle Jordanier erhielten zwei Stimmen. Die eine diente, um 27 der 150 Parlamentarier auf Grund von Parteilisten nach dem Proporzsystem zu wählen. 15 Delegierte mussten Frauen sein. Die zweite Stimme diente dazu, die übrigen 108 Abgeordneten in den Wahlkreisen des Landes nach dem Majorzsystem auszuwählen. Die Oppositionsfront forderte vergeblich, mindestens die Hälfte der Abgeordneten sollten auf Grund von Parteilisten gewählt werden.
Gerrymandering als Grundlage aller Wahlen
Ausserdem protestierte die Opposition gegen die ungleichen Wahlkreise, die in der Tat die ländlichen und die Stammesregionen begünstigen und die städtischen Wahlkreise stark benachteiligen (Gerrymandering). Es braucht in den Stadtquartieren dreimal mehr Stimmen, um einen Sitz zu erlangen als in den ländlichen Landesteilen. Dies ist in Jordanien eine alte Tradition. Sie hat immer dazu gedient, den ländlichen «transjordanischen» Landesteilen, die als besonders königstreu gelten, mehr Gewicht zu verschaffen. Die Städte sind Schwerpunkte der Opposition, weil dort die meisten Palästinenser leben. Sie werden unterrepräsentiert.
Ein mikroskopischer Schritt der Demokratisierung
König Abdullah hat versprochen, der zukünftige Ministerpräsident werde so ausgewählt werden, dass er die parlamentarische Mehrheit hinter sich habe. Dies war bisher nicht notwendigerweise der Fall gewesen. Der König hatte den Regierungschef nach eigenem Ermessen ernannt. Doch solange keine landesweit organisierten Parteien im Parlament vertreten sind, bleibt die Frage, welche Parlamentarier hinter einem zu ernennenden Regierungschef stehen und welche nicht, ziemlich offen.
Die nicht in Parteiformationen zusammenfassbaren Individuen, welche die grosse Hauptmasse der Parlamentarier bilden, müssen sich einzeln entscheiden, ob sie den Kandidaten des Königs ablehnen oder annehmen wollen. Sehr viele von ihnen werden sich sagen, es sei für sie selbst und für die Gruppe von Wählern, deren Interessen sie vertreten, gewiss am vorteilhaftesten, wenn sie dem vom König Ernannten zustimmten.
Geringe Macht des Parlamentes
Die Vollmachten des Parlamentes waren bisher beschränkt, in der Zukunft könnten sie möglicherweise erweitert werden; so jedenfalls lauteten die Reformversprechen vonseiten des Königs und des Ministerpräsidenten. Doch für die Gegenwart gilt: Das Parlament kann Gesetze formulieren, doch sie werden erst gültig, wenn Senat und Regierung ihnen zustimmen. Der Senat wird vollständig vom König ernannt. Die Regierung kann ihrerseits ebenfalls Gesetzesvorschläge formulieren.
Mehr Politik auf der Strasse
Die Oppositionsfront ist entschlossen, ihre Politik auf der Strasse fortzuführen. Sie will regelmässig Demonstrationen organisieren, von denen sie hofft, dass sie friedlich verlaufen. Opposition auf der Strasse wird ihr Gelegenheit bieten, nicht nur die aus politischen Gründen Unzufriedenen zu mobilisieren, sondern auch die viel grössere Masse von Leuten, denen es primär um die Lebenskosten und Lebensbedingungen geht.
Die jordanischen Staatsfinanzen stehen so, dass diese Kategorie von Unzufriedenen, die schon heute sehr gross ist, unvermeidlich weiter anwachsen wird.
Die Sprecher der jordanischen Sicherheitskräfte kennen natürlich diesen Zusammenhang. Sie werfen der islamischen Oppositionsfront vor, sie versuche das Unglück des Landes auszunützen, um daraus politische Gewinne für sich zu ziehen. Sie unterstreichen, dass dies eine «sehr gefährliche Haltung» sei.
Die Wahlbeteiligung: umstritten
Der Urnengang ist am Mittwochabend zu Ende gegangen, und die Regierung gab bekannt, die Beteiligung an den Wahlen habe 56,5 Prozent betragen. Die Oppositionsfront hat sofort entgegnet, diese Zahl sei künstlich aufgeblasen. In den letzten drei Stunden der Wahlen seien die Urnen manipuliert worden.
Die Beteiligungsziffer ist unter den gegebenen Umständen politisch wichtiger als die Namen der gewählten Abgeordneten. Diese sind erneut in ihrer immensen Mehrheit lokale Dignitäre. Ihre politische Grundeinstellung ist kaum festgelegt. Sie dürfte jedoch in den weitaus meisten Fällen darauf hinauslaufen, dass sie sich mit den vorherrschenden Mächten verständigen, um über sie den Einfluss zu gewinnen, dessen sie bedürfen, um ihre Klientel nach Möglichkeit zufriedenzustellen.
Stabilität auf Kosten der Reform
Das neue Parlament wird offensichtlich den bisherigen jordanischen Volksvertretungen sehr ähnlich sehen. Damit dürfte wie bisher eine Art von politischer Stabilität hergestellt werden, die jedoch bei der Hauptmasse der Bevölkerung auf Kosten der Glaubwürdigkeit des Parlamentes geht. Damit stellt diese Stabilität, die auf Starrheit hinausläuft, auf längere oder schon mittlere Frist die bestehende Ordnung in Frage.
Der König und seine Berater wissen dies, und sie suchen deshalb nach Wegen, um «Reformen» einzuführen. Diese möchten sie aber soweit in Grenzen halten, dass ihnen die eigentliche Entscheidungsgewalt über das Geschick des Landes und seiner Monarchie nicht entgeht. Es ist ein Bestreben, das man mit der Quadratur des Zirkels vergleichen kann.