Aserbaidschan hat mit einer Blockade der armenischen Enklave Bergkarabach den Konflikt mit Armenien neu angeheizt. Die Spannungen in der Region sind seit dem Zerfall der Sowjetunion virulent. Nach dem dortigen Krieg von 2020 schaut der Westen auch diesmal weg.
Der international kaum zur Kenntnis genommene Konflikt um Bergkarabach im Kaukasus mit seinen etwa 120’000 Menschen spitzt sich erneut zu. Aserbaidschan stranguliert die 4’400 Quadratkilometer kleine armenische Enklave seit mehreren Monaten mit einer Blockade der Zufahrtsstrasse nach Armenien. Selbst humanitäre Hilfslieferungen für die Karabacher kommen nicht mehr durch. Am 1. September entluden sich die Spannungen einmal mehr: Bei einem Schusswechsel kamen vier Armenier ums Leben, drei Aseris wurden verletzt.
Der Westen ist nicht bereit, sich zugunsten einer Vermittlung zu engagieren. Das würde ja einen gewissen Druck auf die Regierung Aserbaidschans voraussetzen, und davor scheuen die europäischen Regierungen zurück. Man will es sich mit dem autoritären Regime in Baku nicht verscherzen, denn man braucht Aserbaidschan als Lieferanten von Erdgas und Erdöl.
Hohle Bekenntnisse zum Schutz der Armenier
Dieses Abseitsstehen widerspricht diametral den jahrzehntealten Bekenntnissen europäischer Politiker zugunsten eines Schutzes der Armenier. Auch die Schweiz schweigt. Noch im Oktober 2022 hatte sie in Genf ein bilaterales Treffen zwischen den Aussenministern Armeniens und Aserbaidschans ermöglicht. Es führte zu einer leider nur trügerischen Entspannung. Aber auch unser Land will sich jetzt nicht weiter exponieren. Die Schweiz hat, Vorbehalte gegenüber dem Demokratiedefizit Aserbaidschans hin oder her, mehr wirtschaftliche Interessen in Richtung Baku als in Richtung Jerewan. Für uns alle das sichtbarste Zeichen sind die vielen Tankstellen des Socar-Unternehmens (im Besitz der Regierung Aserbaidschans).
Die wenigen westlichen Medien, die dem Karabachkonflikt in den letzten Wochen einige Zeilen widmeten, schieben die Schuld für die Spannungen (auch für den Krieg im Jahr 2020) einseitig Aserbaidschan zu. Das ist insofern berechtigt, als das Regime in Baku sich nicht dazu durchringen will, Bergkarabach mit seinen rund 120’000 armenischen Einwohnern eine Autonomie zu gewähren, die diesen Namen wirklich verdienen würde. Baku stellt sich auf den Standpunkt, die Mini-Region in, wie erwähnt, der Grösse eines mittleren schweizerischen Kantons, gehöre völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Das hat übrigens auch der Europarat (dem sowohl Armenien wie Aserbaidschan angehören) so anerkannt. Armenien anderseits beruft sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Karabachbewohner.
Dass Karabach ein Teil Aserbaidschans sei, dekretierte schon das Sowjetregime, bis 1991 Herrscher über den ganzen Kaukasus. Aber der Kreml verfügte: Aserbaidschan muss Karabach Autonomie gewähren. Nie sei das realisiert worden, sagen dazu unisono die Armenier und die armenischen Bewohner von Bergkarabach. Das Regime in Baku widerspricht – aber glaubhaft ist es nicht, dagegen sprechen die Erfahrungen der Karabacher.
Strangulierung der Enklave durch Aserbaidschan
Was in den letzten Monaten geschah, widerspricht all dem, was vereinbart wurde: Im Widerspruch zu dem nach dem Krieg von 2020 geschlossenen Abkommen begann Aserbaidschan im Dezember 2022, die Zufahrtswege zwischen Armenien und Karabach (der sogenannte Latschin-Korridor, ca. 45 Kilometer durch Gebiet der Aserbaidschaner führend) zu blockieren, bis es ab dem Frühsommer zur fast totalen Strangulierung kam.
Das Regime in Baku rechtfertigt sich: Über die gut ausgebaute Strasse würden Waffen transportiert, was nichts anderes bedeuten könne, als dass die Karabach-Armenier einen weiteren Konflikt vorbereiteten. Und ausserdem sabotiere die Regierung Armeniens eine Verbindungslinie Aserbaidschans zu seiner Enklave Nachitschewan (diese liegt südwestlich von Armenien, angrenzend an die Türkei). Der armenische Regierungschef kapitulierte schliesslich im Juli 2023. Er willigte ein, die Souveränität Aserbaidschans über Karabach zu akzeptieren, forderte aber klare Garantien für die Menschen in der Enklave. Die jedoch will Aserbaidschan nicht geben. Worauf sich der Konflikt erneut zuspitzte.
All diese Details führen uns, die aussenstehenden Beobachter eines erneut eskalierenden Konflikts, zur Frage: Weshalb das alles? Was sind die tieferen Ursachen?
Vielvölkerregion zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer
Die Kaukasusregion war schon in der Antike ein Puzzle von Ethnien und Sprachen. Römische Historiker schrieben, man benötige beim Queren der Region vom Schwarzen zum Kaspischen Meer 108 Dolmetscher. In neuerer Zeit stritten sich Perser, Ottomanen (Türken, würden wir heute sagen) und Russen um Einfluss im Kaukasus. Die Sowjetunion unter der Diktatur Stalins (der übrigens aus der Region stammte, aus Georgien) verschob skrupellos Grenzen und Kompetenzen. So wurden beispielsweise Abchasien und Südossetien an Georgien angeschlossen, und die von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach kam zu Aserbaidschan. Dabei wurde weder auf die jeweilige Ethnie noch auf die Religion Rücksicht genommen. Stalin und seine Nachfolger waren einzig daran interessiert, lokale oder regionale Apparatschiks entweder zu beglücken oder zu bestrafen.
Solange die Sowjetunion bestand, schien es für Millionen nicht wirklich wichtig, in welcher (letzten Endes immer von Moskau kontrollierten) Republik sie lebten und arbeiteten. Es gab eine breitflächige Mobilität, überall war man Sowjetbürger oder -bürgerin. Russen und Russinnen konnten nach Armenien versetzt werden – oder nach Baku, Kiew, Riga, Taschkent etc., es war alles irgendwie selbstverständlich.
Aber als 1991 die UdSSR zerfiel akzentuierten sich die Sichtweisen. Nun wurden die Zugehörigkeiten zu einer bestimmten Ethnie oder einer Sprachgruppe sehr schnell erkennbar. Aber nicht nur die Zugehörigkeiten, sondern auch die Differenzen – um zum konkreten Konfliktpunkt zurück zu kommen: etwa zwischen Aserbaidschanern und Armeniern. Es kam zu blutigen Konflikten: Aus Armenien wurden Aseris vertrieben, aus Baku Armenier. Zehntausende Menschen fielen der Gewalt der einen oder anderen Seite zum Opfer.
Das prägt, rund dreissig Jahre später, die Gegenwart. Wer durch Aserbaidschan reist, wird wohl konsterniert zu hören bekommen, in dieser Region habe es nie Armenier gegeben. Noch vorhandene armenische Kirchen, sagt der örtliche Guide, sind nichts als Überreste von albanischen Tempeln (die Ethnie der Albanier, nicht zu verwechseln mit den europäischen Albanern, gab es tatsächlich in der Spätantike). Aber Armenier? Die lebten hier nie, niemals, sagt er. Das ist klar Verleugnung der Geschichte. Ähnliches erfährt man auch bei einem Besuch der Hauptstadt Baku. Man zeigt den Besuchern ein «Holocaust-Memorial». Wer nun meint, da werde auf den Völkermord an den Armeniern hingewiesen, irrt: Erinnert wird an etwas mehr als hundert Aseris, die durch Gewalt von Armeniern im frühen 20. Jahrhundert in Baku ums Leben kamen.
Armenisches Trauma nach Genozid von 1915
In Armenien hört man dagegen keine Geschichtsklitterung; da herrscht schlicht Angst. Diese beruht auf dem Trauma des durch Türken begangenen Genozids an Armeniern im Jahr 1915 und auf der geografischen Isolation: ein feindseliger Nachbar im Osten (Aserbaidschan), ein Problemnachbar im Westen (Türkei). Und eine dem Land durch wirtschaftliche Not aufgezwungene Nähe zu Putins Russland (Armenien ist eingebunden in die Wirtschaftsgemeinschaft mit Moskau).
Also hofft die armenische Regierung auf Solidarität vonseiten des Westens. Ja, schöne Worte gibt es zuhauf, aber jetzt zeigt sich: Im Notfall (und der ist jetzt für die Armenier und die Regierung in Jerewan real) schweigen die «Freunde».