Im deutschen Grundgesetz, das nach der Naziherrschaft 1949 in Kraft gesetzt wurde, heisst es in Artikel drei, dass «niemand wegen seines Geschlechts, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden» darf.
Eine Scheindebatte?
Im Furor der in diesen Tagen aus den USA herüberschwappenden Rassismus-Debatte fordern nun Führungsfiguren der deutschen Grünen wie Robert Habeck, das Wort Rasse aus der Verfassung zu streichen. Dieser Begriff und das damit verbundene Konzept sei längst wissenschaftlich und gesellschaftlich diskreditiert. «Es gibt keine Rassen, es gibt Menschen.»
Die Forderung scheint in Deutschland auf einiges Verständnis zu stossen. Auch Vertreter der Linkspartei und der FDP äusserten Zustimmung. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der CSU-Innenminister Seehofer meinten, sie seien offen für eine Debatte über eine Streichung des Rasse-Begriffs aus der Verfassung. Dafür wären allerdings Zweidrittelmehrheiten des Bundestages und des Bundesrates (Länderkammer) notwendig.
Unumstritten ist das Änderungspostulat aber keineswegs. Manche kritischen Stimmen sprechen von reiner Symbolpolitik und von einer Scheindebatte. Unklar bleibt vorderhand auch, ob das Wort «Rasse» im Grundgesetz ersatzlos gestrichen oder eventuell durch das Wortpaar «ethnische Herkunft» ersetzt werden soll. Aber was genau der Unterschied zwischen «Rasse» und «Ethnie» sein soll, dürfte in der Öffentlichkeit auch nicht so leicht zu erklären sein.
Uno-Charta und Schweizer Bundesverfassung
Zwar ist in Frankreich unter Präsident Macron das Wort Rasse bereits 2018 aus der Verfassung eliminiert worden. Doch damit ist der Begriff bei weitem noch nicht dabei, wegen seines angeblich diskriminierenden Beigeschmacks aus dem Verkehr gezogen zu werden. In fast allen grossen humanrechtlichen Abkommen der Nachkriegszeit wie der Uno-Charta von 1950, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder der Europäischen Erklärung der Menschenrechte von 1950 ist das Wort «Rasse» weiterhin präsent. Das gilt auch für die revidierte Schweizer Bundesverfassung von 1999.
Ebenso ist der Rasse-Begriff in der sogenannten Rassismus-Strafnorm des schweizerischen Strafgesetzbuches enthalten. Dieses Gesetz wurde 1994 gegen ein Referendum von SVP-Seite durchgesetzt. Erst im Februar des laufenden Jahres ist das Gesetz durch einen Zusatz über die sexuelle Orientierung mit einer Mehrheit von 63 Prozent des Stimmvolkes erweitert worden. Von Kritik am darin enthaltenen Rassebegriff war damals von keiner Seite etwas zu hören.
Seltsamerweise erfährt man nicht, wie die Aktivisten, die das deutsche Grundgesetz vom angeblich veralteten und politisch unkorrekten Rasse-Wort säubern wollen, es mit dem hochemotionalen Begriff «Rassismus» halten. Soll dieses Kampf- und Anklage-Wort, das heute mehr denn je in aller Munde ist und in unzähligen Ländern Demonstranten auf die Strasse treibt, auch abgeschafft oder geächtet werden?
Race und Racism – zwei Schlüsselbegriffe
Das wäre eine weltfremde Vorstellung. «Race» und «Racism» sind vor allem in den USA seit Jahrzehnten Schlüsselwörter der öffentlichen Debatte. Bisher ist es dort noch niemandem in den Sinn gekommen, diese Wörter aus irgendwelchen Dokumenten oder dem Sprachgebrauch zu streichen, weil deren ursprüngliche Bedeutung wissenschaftlich fragwürdig ist. Jeder weiss, welche gesellschaftlichen Realitäten heute damit gemeint sind. Mit welchem Begriff soll man einen Rassisten aus Fleisch und Blut benennen, wenn das Wort Rasse auf den Index der politisch unkorrekten Vokabeln gesetzt oder tabuisiert wird?
Gewiss, Wandel im Sprachgebrauch gibt es immer. Wörter mit bewusst oder unbewusst herabsetzender Tendenz gegen bestimmte Minderheiten wie Neger oder Judenschule sind inzwischen weitgehend aus dem gängigen Wortgebrauch verschwunden. In der Schweiz schlägt jetzt dem alten Mohrenkopf das letzte Stündlein.
Doch das Wort Rasse und vor allem der davon abgeleitete Begriff Rassismus ist im aktuellen Diskurs kaum zu ersetzen. Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass gerade die engagiertesten unter den Frontkämpfern des Antirassismus auf diesen Kampfbegriff verzichten würden.
Wahrscheinlich wäre es sinnvoll, in der überhitzten Auseinandersetzung um Rasse, Rassismus, richtiges Bewusstsein und Denkmalstürze sich weniger um abstrakte Pauschalbegriffe zu streiten und dafür vermehrt die differenzierten Wirklichkeiten im Problemfeld der ethnischen Minderheiten wahrzunehmen.
Wohltuende Gelassenheit
Eine wohltuend skeptische und gelassene Haltung zu diesem vielschichtigen Komplex äusserten unlängst die beiden afrodeutschen Schriftsteller Ijoma Mangold und Jackie Thomae in einem Gespräch in der «Zeit». Mangold, Feuilletonredaktor des Wochenblatts, erklärte, er selber habe kein Problem, wenn ihn jemand nach seiner Herkunft frage. Unangenehmer finde er es, dass man ihn neuerdings «im Tonfall der Erschütterung» einem Kollektiv zuordne, das man «die Betroffenen» nenne. Das gefalle ihm gar nicht, weil «die Betroffenen» eben kein kollektives Subjekt seien mit identischen Erfahrungen und Meinungen.
Und seine Gesprächspartnerin Tomae meint zur Frage nach diskriminierenden Erfahrungen als schwarze Bürgerin, sie wisse zwar, dass es das gebe, «aber in meinem Leben treffe ich meist auf ganz normale Leute». Ihr reiche es, dass man sich akzeptiert und anständig miteinander umgeht. «Und dann wäre auch diese Begriffshuberei nicht mehr nötig.»
Mit «Begriffshuberei» dürfte auch die übereifrige Aufgeregtheit um das R-Wort im deutschen Grundgesetz gemeint sein.