Kann man im guten Glauben handeln und doch etwas Falsches tun? Das ist eine alte philosophische Frage, genauer: eine ethische Frage, die uns heute vermehrt beschäftigen sollte. Ich erläutere sie an zwei Beispielen.
Erstes Beispiel: Tony Blair
Der sogenannte Chilcot-Bericht übte 2016 vernichtende Kritik am britischen Ex-Premierminister Tony Blair und seinem Entscheid für den Eintritt in den Irakkrieg 2003. An einer Pressekonferenz bedauerte Blair einmal mehr die Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung, hielt aber an der Invasion nach wie vor als an einer gerechtfertigten militärischen Aktion fest; und zwar, weil er nach eigener Aussage aufrichtig an die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins glaubte: „Ob Menschen mit meiner Entscheidung, militärisch gegen Saddam Hussein vorzugehen, einverstanden sind oder sie ablehnen, ich traf sie in gutem Glauben und meiner Meinung nach im besten Interesse des Landes.“ – „Tony Blair zeigt keine Reue“ titelte der „Guardian“ daraufhin. Man könnte auch sagen: Herr Blair setzt seine innere Stimme der Aufrichtigkeit dem objektiven Urteil entgegen.
Nun muss zu seiner Entlastung gesagt werden, dass damals die Faktenlage nicht eindeutig war. Aber die „evidence“ sprach doch für die Nichtexistenz von Massenvernichtungswaffen. Und wenn nun eine sorgfältig erarbeitete evidenzbasierte historische Lagebeurteilung vorliegt, dann möchte man meinen, sei sie die Instanz, die sagt, „was der Fall war“, und nicht eine Politikerüberzeugung. Blair reklamiert den erkenntnistheoretischen Vorrang seines „guten Glaubens“ vor der Autorität der Wahrheit.
Zweites Beispiel: Jürg Jegge
Der als aufmüpfiger Pädagoge bekannt gewordene Jürg Jegge hat neuerdings ein weiteres, nicht so schmeichelhaftes „Renommee“ als Pädophiler. Jegge gibt seine sexuellen Übergriffe auf Jugendliche zu, macht allerdings geltend, dass er aufrichtig überzeugt gewesen sei, „richtig“, das heisst im Sinne der Emanzipation des Schülers, gehandelt zu haben: „Ich war damals der Überzeugung, dass eine derartige Sexualität einen Beitrag leiste zur Selbstbefreiung und zur persönlichen Weiterentwicklung der Schüler (...) Und wenn es dazu kam, habe ich das, so paradox es heute klingen mag, unter Stärkung und Selbstbefreiung für meine Schüler abgebucht. Natürlich nicht bei allen, sondern nur bei jenen, bei denen ich das Gefühl hatte, sie hätten es besonders nötig.“
Man beobachtet auch hier die Rechtfertigungstaktik des „guten Glaubens“. Sie erlaubt immer auch eine gewisse Relativierung: Damals war ich „im guten Glauben“, das Richtige zu tun. Genau das ist jedoch das Problem. Wie Pädagogen und Psychologen betonen, war schon zur Zeit von Jegges Übergriffen die wissenschaftliche Faktenlage so, dass sie Jegges Überzeugung keineswegs stützte. Er handelte also im guten Glauben, das Richtige zu tun, ohne hinreichende Gründe. Man könnte auch sagen: Sein Missbrauch Jugendlicher war ideologisch getrieben.
Aufrichtigkeit oder Wahrheit?
Es geht hier nicht um die moralische Abrechnung mit einem Politiker oder einem Pädagogen. Es geht, wie gesagt, um ein allgemeines philosophisches Problem. Aufrichtigkeit gilt als eminente Tugend. Sie bedeutet – in eine Formel gegossen – die Übereinstimmung zwischen dem, was man glaubt, und dem, was man sagt und tut. Aber aufrichtig bedeutet nicht richtig. Ich kann aufrichtig meinen, dass intime Kontakte mit Jugendlichen eine befreiende Wirkung haben, auch wenn dies nicht stimmt. Was ist nun wichtiger: Wahrheit oder Aufrichtigkeit?
Wir verwickeln uns hier unversehens in ein philosophisches Knäuel, in dessen Kern die Frage steckt: Kann man jeden Unsinn, jede Absurdität im „guten Glauben“ vertreten und verantworten? Zum Beispiel: Ein Vater, nota bene ehemaliger Präsident der American Natural Hygiene Society, verabreicht seiner siebenjährigen kranken Tochter eine Nur-Wasser-Fastenkur während 18 Tagen und setzt sie anschliessend auf Fruchtsaftdiät für weitere 17 Tage. Die Tochter stirbt an Mangelernährung.
Die Ethik der Überzeugung
Zu philosophischer Prominenz gelangte das Problem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. William Kingdon Clifford, streitbarer Philosoph und einer der zahlreichen mathematischen Cracks der Cambridge University, hielt 1876 in der angesehenen Londoner Metaphysical Society einen Vortrag mit dem Titel „The Ethics of Belief“.
Er begann seine Ausführungen mit einer Geschichte. Ein Schiffseigentümer ist im Begriff, sein Schiff vollbesetzt mit Auswanderern in See stechen zu lassen. Allerdings quält ihn die Sorge, dass das Schiff alt, in schlechtem Zustand und ohnehin nicht sonderlich solide gebaut ist. Zweifel melden sich, ob das Schiff überhaupt noch seetüchtig sei. Aber dem Eigner gelingt es, seine Skrupel zu überwinden, indem er sich sagt: Das Schiff hat so viele grimmige Stürme überstanden, also wird es auch eine weitere Seefahrt ohne Schaden überstehen. Ohnehin hat er Vertrauen in die Vorsehung, welche den armen Auswanderern das Glück in einer neuen Heimat gönnen würde. Und in diesem „guten Glauben“ schaut der Eigner zu, wie das Schiff in See sticht. – Es versinkt mitten im Ozean mit Mann und Maus.
Unethisch denken
Heute würde man wohl sagen, der Eigner habe fahrlässiges Risikomanagement betrieben. Clifford bezeichnet ihn ohne Ironie als „aufrichtigen“ Mann. Aber trotzdem handelt der Mann in schlechtem Glauben. Der neue Aspekt, den Clifford in die ethische Diskussion bringt, liegt darin, dass er die moralische Komponente nicht erst in den Folgen, sondern bereits in der Begründung der Entscheidung sieht:
„Denjenigen, der das wirklich glaubt, was ihn zu einer Handlung treibt, hat es nach der Handlung bereits gelüstet; er hat sie in seinem Herzen bereits begangen.“ Eine Überzeugung ist immer eine Handlungsvorbereitung. Deshalb muss man sie auch sorgfältig prüfen. Oder anders gesagt: Eine Überzeugung ohne genügende Prüfung ist unethisch. Der Schiffseigner handelt nicht bloss unethisch, er denkt unethisch, weil er unzulängliche Beweisgründe hat.
Wir entscheiden „subrational“
Das Problem wird dadurch nur vertrackter, denn: Was heisst „genügende“ Begründung? Wir alle kennen die Situation, uns ohne genügende Gründe entscheiden zu müssen. Man denke nur an Abstimmungen oder an Wahlen. Wir entscheiden uns oft für diese Partei, weil wir seit langem gewohnt sind, für sie zu stimmen; wir entscheiden uns gegen jenen Politiker, weil uns seine Visage missfällt. Wir entscheiden also in der Regel „subrational“, ohne alle relevanten Faktoren abgewogen zu haben. Der „gute Glaube“ ist, anders gesagt, nie bloss mit rationalen Gründen, sondern auch und wahrscheinlich viel mehr mit Vorlieben, Ressentiments, persönlichen Motiven gespickt.
Der Mensch: ein Glaubenwoller
Genau dies hielt William James, der grosse amerikanische Philosoph, in seinem berühmt gewordenen Essay, „Der Wille zum Glauben“, Clifford entgegen. Der Wille, an eine Behauptung zu glauben, ist für James ebenso wichtig wie ihre Begründung. Er gehört schlicht zu unserer kognitiven Ausstattung. „Objektive Evidenz und Gewissheit sind sicherlich sehr schöne Ideale, mit denen sich spielen lässt; aber wo sind sie zu finden auf diesem mondbeschienenen, von Träumen heimgesuchten Planeten?“ Die Wissenschaften mögen uns eines Besseren belehren, uns von tief verwurzelten Überzeugungen abbringen, aber es wird ihnen nie völlig gelingen. Der Mensch ist und bleibt ein Glaubenwoller.
Dieser philosophische Befund muss uns heute umso aktueller und brisanter vorkommen, als ja die neuen Formen der Kommunikation und des sozialen Verkehrs das Glaubenwollen geradezu beflügeln. Jeder kann die Überzeugung haben, die er will, und er findet stets die nötigen Unterstützer. Es gibt eine Industrie der Überzeugungen und einen entsprechenden Markt. Newsfeeds „speisen“ uns mit der uns bekömmlichen Informationsnahrung ab. Mit der Privatisierung der Meinung und dem parallel verlaufenden Relativismus hat das Glaubenwollen sogar seinen bisherigen Zenit erreicht.
Im Zeitalter „nach der Wahrheit“
Mittlerweile weiss es auch der Biertisch: Wir leben im Zeitalter „nach der Wahrheit“. Die Faktenlage ist oft unsicher und vieldeutig. Woran sich orientieren? Das Glaubenwollen gedeiht in einem Klima, in dem jede Behauptung gekontert werden kann mit „Wer bist du denn, der sowas sagt?“ oder mit „Du sagst: 2 + 2 = 4; das ist deine Meinung“. Deshalb sollten wir gerade im Zeitalter „nach der Wahrheit“ zu Partisanen der Wahrheit werden. Nicht, indem wir als Besserwisser oder Oberlehrer auftreten, sondern, indem wir im Sinne von Clifford unbeirrbar und sogar mit Kampfgeist eine Überzeugung auf ihre Gründe – oder umgekehrt: auf ihre Bullshithaltigkeit – hin abklopfen. Clifford schliesst seinen Vortrag mit den bedenkenswerten Worten: „Es ist in allen Fällen unrecht, auf ungenügende Beweise hin zu glauben; und wo es eine Anmassung ist, zu zweifeln und zu forschen, da ist es noch schlimmer als Anmassung, zu glauben.“
Glauben wollen genügt nicht, man muss glauben können, aus guten Gründen. Man mag darin die Ansicht eines Erzrationalisten sehen. Aber schaden kann es keineswegs, beim Satzanfang „Es ist meine aufrichtige Überzeugung ...“ hellhörig zu werden. Denn im guten Glauben zu handeln ist oft das Gegenteil von gutem Handeln.