Der Aufstand im Ghetto von Warschau ist ein herausragendes Ereignis des Zweiten Weltkriegs, weil er als Beispiel dafür steht, dass sich nicht alle Juden während der NS-Zeit von den Nazi-Schergen „widerstandslos wie Schafe zur Schlachtbank führen liessen“. Vereinzelt hatte es immer wieder Gegenwehr gegeben, sogar in den Vernichtungslagern.
Anders wäre es nicht möglich gewesen, dass auch die Schweiz durch Polen, denen die Flucht etwa aus Auschwitz gelungen war und die den westlichen Alliierten sowie ihrer Exilregierung in London bereits 1942 Bericht über den fabrikmässigen Judenmord erstatteten, Informationen über die Mordmaschinerie erhielt. Und ignorierte. Der Aufstand des Ghettos von Warschau beschäftigte die Übermacht der SS und der Waffen-SS beinahe einen ganzen Monat.
Ghettos als Teil der „Endlösung“
Im Oktober 1940 pferchten die deutschen Besatzer die 350’000 in Warschau lebenden Juden in ein enges Viertel, das bald überfüllt war. Es wurde abgeriegelt und zum Ghetto erklärt. Hier starben die Menschen zu Tausenden – an Hunger, Krankheiten, Seuchen oder mutwilligen Morden der SS-Leute.
1942, einige Monate nach der Wannsee-Konferenz, an der die „Endlösung“, also die Ermordung der europäischen Juden beschlossen worden war, begannen die Deportationen aus dem Ghetto ins Vernichtungslager Treblinka.
Bereits damals gab es bewaffnete Störmanöver durch junge Juden, während denen viele der Menschen fliehen konnten, bevor sie zur Fahrt ohne Rückkehr in die Güterzüge nach Treblinka getrieben werden konnten. Viele ihrer Retter dagegen wurden erschossen.
Jüdischer Widerstand in Polen
Kopf und Herz des Widerstands war der erst 23-jährige Mordechai Anielewicz. Ausserhalb des Ghettos wurden mit grossen Risiken Waffen beschafft und ins Ghetto geschmuggelt. Die polnische Heimatarmee musste auf Weisung der Exilregierung einigen der Widerstandsgruppen im Ghetto dabei helfen.
Die ideologisch und politisch stark zersplitterten Widerstandsgruppen im Ghetto schlossen sich unter dem Kommando von Anielewicz zur Jüdischen Kampforganisation mit mehr als tausend Kämpferinnen und Kämpfern zusammen. In den meist zusammenhängenden Kellern der Ghetto-Gebäude entstanden 16 Bunker.
Die zu allem Entschlossenen zelebrierten noch den Seder-Abend am Beginn des jüdischen Pessach-Feiertags, der an das Ende der jüdischen Sklaverei in Ägypten vor Jahrtausenden erinnert. Und anderntags, am 19. April 1943, wurden die deutschen Soldaten angegriffen.
Die SS- und Waffen-SS-Truppen waren überrascht. Bis dahin hatten sie überall mit den Juden machen können, was sie wollten. Nun mussten sie mehrere Tage lang stets zurückweichen. Sie rückten jedoch bald mit immer mehr Einheiten und vor allem mit schwerem Gerät an. Das Ghetto wurde Block für Block in Brand geschossen. Für die kümmerlich bewaffneten Kämpfer wurde es immer enger. Einige Gruppen flohen durch die Kanalisation und wurden an vorbesprochenen Stellen – meistens – von Helfern erwartet und in die Wälder zu den Partisanen gebracht.
Anielewicz und sein Stab kämpften mit dem Mut der Verzweiflung weiter, zumindest bis zum 8. Mai 1943. Es wird angenommen, dass sie kollektiven Selbstmord begingen, im Kommandobunker an der Mila 18. Diese Adresse lieferte den Titel für den berühmten Roman von Leon Uris.
Dokumente aus dem Ghetto-Alltag
Es gab aber auch zivilen Widerstand im Ghetto von Warschau. Der Historiker Emanuel Ringelblum sammelte rastlos Dokumente aus dem Alltag des Ghettos mit einer verschworenen Gruppe von Helfenden, zu denen auch Marcel Reich-Ranicki gehörte, der aus Berlin nach Warschau umgesiedelt worden war.
Die Tagebücher und Aufzeichnungen wurden in zehn Metallkisten und mehrere Milchkannen gepackt und im Keller einer Schule vergraben. Ringelblum wurde aus dem Ghetto geschmuggelt, aber im März 1944 mit seiner Frau und dem kleinen Sohn sowie anderen Flüchtigen und ihren Beschützern verhaftet und von der SS im Pawlak-Gefängnis erschossen.
Doch nach dem Krieg fanden die Überlebenden der Ringelblum-Gruppe das vergrabene Archiv. Heute wird es in einem Jüdischen Institut in Warschau aufbewahrt. Es wurde 1999 ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen.
Sühne und Erinnerung
Das Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht. Am 16. Mai 1943 wurde nach Berlin gemeldet, das ehemalige jüdische Gebiet existiere nicht mehr. Der SS-Kommandant Jürgen Stroop wurde nach dem Krieg von den Amerikanern in Deutschland zum Tode verurteilt, aber dann an Polen ausgeliefert. 1952 wurde er in Warschau nach einem Prozess nochmals zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Heute gibt es an der Stelle des Ghettos einen Platz mit einem kleinen Park. Eine der Strassen rundherum wurde nach Mordechai Anielewicz benannt. Vor dem Haus Mila 18 steht seit 1948 ein Denkmal. Unvergesslich: Hier sank Willy Brandt einst in die Knie.
„Muss als vertraulich betrachtet werden“
Der Aufstand im Ghetto von Warschau fand seinen Niederschlag auch in der Schweiz. Vor allem der mutige Schweizer Konsul Franz von Weiss in Köln sammelte Informationen, die ihm etwa von Geschäftsreisenden überbracht wurden. Auf dem Dienstweg musste er sie erst nach Berlin zum schweizerischen Gesandten Hans Frölicher senden, der sie später nach Bern an Aussenminister Marcel Pilet-Golaz weiterleitete.
Nicht erst nach dem Krieg wurde bekannt, welche täglichen Tragödien sich im Warschauer Ghetto abspielten. Dank Franz von Weiss wurde der Bundesrat ausführlich informiert. Am 8. Dezember 1941, einen Tag nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, schickte von Weiss einen Bericht nach Berlin, der im Bundesarchiv aufbewahrt wird und in Band 14 der Dipolomatischen Dokumente der Schweiz (DDS) als Dokument 185 dank der von den Herausgebern geführten Datenbank Dodis zu lesen ist.
Vier Tage später leitete Frölicher den Bericht weiter, mit einem gewöhnlichen Begleitschreiben, auf dem Aussenminister Marcel Pilet-Golaz am 18. Dezember 1941 vermerkte: „Muss als vertraulich betrachtet werden und darf keinesfalls im Informationsbulletin erscheinen.“
Ein Auszug aus von Weiss’ Bericht vom 8. Dezember 1941: „Die Behandlung, die den Juden im Osten zuteil wird, soll einfach jeder Beschreibung spotten. Der Gatte einer mir bekannten Dame, der aus der Nähe von Petrograd über Warschau nach hierher kam, hatte in der letztgenannten Stadt Aufenthalt. Er liess sich dazu verleiten, das dortige Ghetto aufzusuchen. Wie mir seine Frau sagte, war das, was er dort sah, so fürchterlich, dass er ihr nicht alles erzählen konnte. Leichen von Kindern und auch von Erwachsenen lagen auf der Strasse, von wo sie später von der Müllabfuhr abgeholt wurden. Ich wollte diesen Angaben zuerst selbstverständlich keinen Glauben schenken. Am vergangenen Samstag erhielt ich jedoch den Besuch des gleichen Grossindustriellen, mit dem ich im vergangenen Juli von Freiburg nach Köln zurückgefahren war (...).Von sich aus erzählte er, wie schrecklich die Zustände in den jüdischen Vierteln von Lodz und Minsk und auch in Polen seien. Die dortigen Juden sterben vor Hunger buchstäblich wie Fliegen. Die Leichen werden nachts nur dürftig in Papier eingepackt und auf die Strasse gesetzt. Am nächsten Tag werden sie von der Müllabfuhr abtransportiert. Auch schwerkranke Leute, die im Sterben liegen, werden einfach auf die Strasse gebracht, damit sie nicht in ihrer Wohnung enden und eine Desinfektion der betreffenden Räume nicht erforderlich ist. Die Wohnungsinhaber scheuen sich, eine solche vornehmen zu lassen, da sie nicht wissen, ob sie die Wohnung wieder beziehen können.“
Blanker Zynismus
Der schlimmste Bericht, voll von blankem Zynismus, stammt von Frölicher selber. Im gleichen Band 14, als Dokument 350 vom Mai 1943, berichtete er aus Berlin an Aussenminister Pilet-Golaz „vertraulich“ über einen Besuch von Professor François Naville, der für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz an einer Mission von Neutralen (Schweden und Spanien verweigerten übrigens die Teilnahme) zur Aufklärung des Massakers an polnischen Offizieren bei Katyn teilgenommen hatte. Die Kommission war Gast des deutschen Militärs: „Die Aufnahme von deutscher Seite sei, wie Herr Naville sagt, vorzüglich gewesen“, schrieb Frölicher nach Bern, „ebenso die Verpflegung. Französische Liköre und Weine habe man mehr gesehen als in Frankreich. Das deutsche Militär in Smolensk habe einen ausgezeichneten Eindruck gemacht.“
Während seines Besuchs in Berlin erzählte Professor Naville dem Schweizer Diplomaten Frölicher von einer weiteren Beobachtung, die dieser am 4. Mai 1943, als sich im Ghetto von Warschau die letzten jungen jüdischen Kämpfer noch immer verzweifelt gegen die Übermacht der SS-Truppen wehrten, nach Bern berichtete: „Auf dem Hinflug habe man in Warschau in einem Quartier Rauch und Feuer gesehen. Auf die Frage der Experten, um was es sich dabei handle, habe man deutscherseits geantwortet, es habe sich im Ghetto etwas ereignet. In der Tat höre ich von anderer Seite, dass Unruhen im Warschauer Ghetto ausgebrochen waren und dass sie mit militärischen Massnahmen unterdrückt wurden.“
Der Bericht von Frölicher, wo über das „Ereignis im Ghetto“ kurz berichtet wird, findet sich unter dem Permalink dodis.ch/47536.