Ahmed Chalabi ist am 3. November in seinem Bett verstorben. Anscheinend erlitt der 71-Jährige Finanzier, Spion, Lobbyist und Politiker im Schlaf einen Herzinfarkt. Das "anscheinend" ist wichtig, weil der Schein im Falle Chalabis (ausgesprochen Tschalabi) immer von grosser Bedeutung war.
Jugend in den USA
Chalabi stammte aus einer reichen schiitischen Familie von Bagdad. Er war gut in Mathematik. Als seine Familie 1956 nach den USA auswanderte, konnte der damals 12-jährige Ahmed in den USA zur Schule gehen und studieren. Er erhielt als 25-Jähriger ein Doktorat in Mathematik von der Universität von Chicago. Er wurde danach Mathematikprofessor an der Amerikanischen Universität von Beirut.
Dort wirkte er von 1973 bis 1980. Er heiratete 1971 Laila Osseiran, die Tochter des damals wohl wichtigsten und sehr wohlhabenden schiitischen Politikers Libanons, Adil Osseirans. Dieser hatte viele Jahre lang als Sprecher des libanesischen Parlamentes gewirkt. Seine Position galt als das drittwichtigste Amt im libanesischen Staat.
Eine Bank in Jordanien
Im Jahr 1977 gründete sein Schwiegersohn, Ahmed Chalabi, eine Privatbank in Amman, Jordanien, die Petra Bank. Diese galt bis 1989 ahnungslosen Kunden als der aufsteigende Stern am Finanzhimmel Jordaniens. Kenner warnten vor ihr. 1989 erliess der jordanische Staat ein Gesetz, nach dem alle Banken des Landes 35 Prozent ihrer Reserven bei der Zentralbank hinterlegen mussten. Alle taten dies. Nur die Petra Bank war dazu nicht in der Lage. Das führte zu einer Untersuchung und in der Folge zu einer Anklage wegen Betrugs und gefälschter Buchhaltung. Die Bank brach zusammen, und die Zentralbank musste 350 Millionen Dollar einschiessen, um die Finanzen Jordaniens zu stabilisieren.
Chalabi floh ausser Landes und wurde in Abwesenheit verurteilt. Er blieb immer bei seiner Version, seine Bank sei aus politischen Gründen durch Saddam Hussein ruiniert worden.
Im Schatten des Ersten Golfkrieges
Kurz nach dem Bankrott in Amman kam es zum Ersten Golfkrieg. Saddam Hussein besetzte am 2. August 1990 Kuweit, und die Amerikaner mit 24 verbündeten Staaten befreiten den Ölstaat. Nach diesem Krieg hielten die USA und Verbündete unter Zustimmung des Sicherheitsrates der Uno Saddam Hussein gute zehn Jahre lang unter einem internationalen Boykott. Dieser erlaubte es Saddam Hussein, sich selbst und seine Anhänger zu bereichern, brachte jedoch der irakischen Bevölkerung Entbehrungen und schweres Leid. Saddam konnte unter der Hand irakisches Erdöl verbilligt verkaufen, während die offiziellen Erdölexporte des Landes dem Boykott unterlagen.
Zweck des Boykottes war, den Diktator zu zwingen, seine Massenvernichtungswaffen aufzugeben. UN-Inspektoren sollten dies sicher stellen. Ihre Inspektionen dauerten, unterbrochen von politischen Krisen und von amerikanischen Strafaktionen durch Luftangriffe, über zehn Jahre lang bis zur zweiten amerikanischen Invasion des Iraks vom 20. März 2003.
Lobbyist in Washington
In diesem Klima trat Ahmed Chalabi als Stimme der irakischen Opposition gegen Saddam in Washington auf. Zu diesem Zweck gründete er eine politische Gruppe, die er INC nannte (Iraki National Congress). Er unterhielt gute Beziehungen mit der damals einflussreichen Gruppierung der Neo-Konservativen, darunter Personen wie Paul Wolfowitz und Richard Perle. Die CIA finanzierte Chalabis INC mit Millionenbeträgen. Vizepräsident Richard B. Cheney förderte Chalabi, und Chalabi nutzte Cheney aus.
Desaster in Kurdistan
Im Irak unterhielt Chalabis INC Verbindungen zu den Kurden, die sich gegen Saddam erhoben hatten und sich in der Lage fanden, dem Gewaltherrscher zu widerstehen und ihr eigenes Regime einzurichten. Dies dank dem durch die Amerikaner und westlichen Verbündeten Saddam auferlegten Überflugverbot der kurdischen Provinzen. In Kurdistan und von Kurdistan aus wirkte Chalabi gemeinsam mit der CIA, um das Regime Saddams zu untergraben.
Doch unter den Kurden brach Streit aus. Hauptgrund dafür waren Erdölgelder. Das aus dem Irak unter Umgehung des Boykotts geschmuggelte Erdöl reiste durch Kurdistan nach der Türkei. Die im Norden lebenden Kurden an der türkischen Grenze konnten "Zölle" darauf erheben. Jene des Südens waren der Ansicht, auch sie hätten Anrecht auf dieses Geld. Im Norden herrschte die KDP Barzanis, im Süden die PUK Talabanis. Die beiden führten von1994 bis 1998 Krieg gegeneinander. Die Barzani-Partei erbat 1996 von Saddam Hussein Unterstützung, als die Talabani Partei zu weit nach Norden vordrang. Saddam schickte seine Landtruppen. Die CIA-Leute wurden rasch ausgeflogen. Viele der Aktivisten von Chalabis NIC konnten nicht mehr fliehen und verloren ihr Leben. In Washington wurde der Rückschlag kleingeredet. CIA Unternehmen, die fehlschlagen, werden verschwiegen, soweit es geht.
Helfer der "Neocon" Vorhaben
Dann kam der der 11. September 2001. Er veränderte das politische Klima zu Gunsten Chalabis. Die "Neocons" und Präsident Bush forderten Rache. Die "Neocons" hatten Pläne, nach denen der ganze Nahe Osten "demokratisiert" werden sollte. Die USA hatten ja den Kalten Krieg "gewonnen". Sie waren die einzige verbleibende Supermacht. Um die einzige Supermacht zu bleiben, "von jetzt an für immer", so schrieben und redeten sie, müsse die amerikanische Armee weltweit überall eingreifen, um die Interessen Amerikas zu bewahren.
Nicht bloss in Afghanistan, wo der Terrorist Osama Ben Laden Unterschlupf gefunden hatte. Das wäre den „Neocons“ zu wenig gewesen. Der ganze Nahe Osten sei politisch neu zu ordnen - ausgenommen "unser Verbündeter" Israel. Den Anfang habe man mit dem Irak zu machen, weil Saddam Hussein nach wie vor ein gefährlicher Gegner sei. Die Demokratie, die man im Irak schaffen werde, so verhiessen sie, werde sich dann auf die anderen arabischen Staaten ausdehnen. Es habe eine Demokratie im amerikanischen Stil zu werden mit kapitalistischer Marktwirtschaft. Natürlich sei dann auch die irakische Erdölwirtschaft nach diesen Grundsätzen neu zu organisieren, mit "Hilfe" der amerikanischen Erdölgesellschaften. Der Krieg gegen Saddam, so sagten sie auch, werde schnell vorbei gehen und kaum Geld kosten. Die Erdölgewinne würden ihn finanzieren.
Gewährsmann der "Neocons"
Chalabi wurde der Vertrauensmann dieser Kreise. Als angeblich führender Oppositionspolitiker des Iraks, diente er als Gewährsmann, um ihren Thesen und Ansichten Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ein Iraker, der amerikanisches Englisch sprach und die Kunst des Lobbyierens beherrschte, (er beschäftigte auch eine Public Relations Agentur in Washington - finanzierte er sie mit CIA-Geldern?) versicherte als Insider all jenen, die es so gerne hören wollten, dass erstens Saddam Hussein weiterhin über gefährliche Massenvernichtungswaffen verfüge; dass zweitens die Iraker nur darauf warteten, von den Amerikanern befreit zu werden; dass drittens Verbindungen zwischen Saddam und Osama Ben Laden bestünden; dass viertens der Krieg im Irak schnell zu bewältigen sei und billig, ja rentabel sein werde. Die irakische Armee sei bereit, überzulaufen oder die Waffen zu strecken. Rentabilität ergab sich schon vor Kriegsbeginn - besonders für das Waffengeschäft. Fünftens werde es Frieden mit Israel geben, wenn einmal die Demokratie in den arabischen Ländern eingeführt sei.
Desinformation
Auch in den Medien erlangte Chalabi grossen Einfluss bis hinein in die New York Times, deren führende Nahostkorrespondentin er zu verführen verstand. Die CIA stand ihm und den angeblichen Tatsachenberichten, die er über den Irak und Saddam verbreitete, skeptisch gegenüber. Doch das schadete nichts. Vizepräsident Cheney zog seinen eigenen parallelen Nachrichtendienst auf, dessen Hauptaufgabe es war, die angeblichen Fehler und Mängel der CIA-Berichte aufzudecken und den angeblich wahren Sachverhalt zu verbreiten, nach welchem Saddam Hussein die Sicherheit Amerikas gefährde.
Die amerikanische "Sicherheit"
Dass dies geglaubt werde, war nach der Erschütterung durch den Anschlag vom 11. September leicht zu erreichen. Die angeblich gefährdete Sicherheit war der Hauptgrund dafür, dass die amerikanische Bevölkerung und Volksvertretung den Kriegsplänen mit grosser Mehrheit zustimmten. Chalabi war dabei ein wichtiger Faktor, um den Lügenkampagnen der „Neocons“ Glaubwürdigeit zu verleihen. Sein angeblicher Informant unter dem Decknamen "Curveball" (er hiess in Wirklichkeit, Rafic Ahmed Alwan al-Janubi) erfand Schauermärchen, Hunderte von Seiten mit angeblichen Augenzeugenberichten über aus der Luft gegriffene Fabriken für biologische Kriegsführung, die sich im Irak auf Eisenbahnschienen bewegten.
Der deutsche Geheimdienst warnte die amerikanischen Kollegen, "Curveball" sei nicht zuverlässig. Doch dies verhinderte nicht, dass seine Schauermärchen in das "Sicherheitsdokument" einflossen, das General Colin Powell, der Sieger im Ersten Golfkrieg, als Staatssekretär vor dem Sicherheitsrat der Uno verlas und damit seinen Inhalt bestätigte. Wieweit "Curveball" direkt im Auftrag Chalabis arbeitete, ist umstritten. Doch jedenfalls bestätigte und benützte dieser seine und ähnlich lautende Fälschungen.
Erst für, dann gegen die USA im Irak
Ahmed Chalabi kehrte mit der amerikanischen Invasion nach Bagdad zurück. Den damals im Zentrum der Macht stehenden "Neocons" galt er als der zukünftige Starke Mann für den Irak, der dort die Demokratisierung durchbringen werde. Sie sollte natürlich auch eine "Amerikanisierung" werden. Chalabi wurde Mitglied des ersten Regierenden Rates des Iraks, den Paul Bremer ernannte. Bremer war der zweite amerikanische Gouverneur des Landes, ein "Neocon" Anhänger und der Verantwortliche für einige der schwersten Fehler der Amerikaner im Irak.
Anklage und Freispruch
Einige Amerikaner begannen, sich näher mit Chalabi zu beschäftigen, als klar wurde, dass viele seiner früheren Behauptungen nicht zutrafen. Er selbst erklärte öffentlich, was er früher gesagt habe, sei nun nicht mehr wesentlich. Hauptsache sei, dass Saddam gestürzt worden sei. Er behauptete auch, er sei zum "Sündenbock der Amerikaner" geworden, als sich die ersten Rückschläge im Irak einstellten.
2004 durchsuchte die neue irakische Polizei unter amerikanischer Anleitung die Büros Chalabis. Die CIA stellte die Zahlungen von monatlich 330´000 Dollar ein, die sie bis dahin an Chalabis INC geleistet hatte. Es kam zu gerichtlichen Anklagen wegen Fälschungen und Unterschlagungen. Doch der irakische Richter sprach Chalabi frei wegen mangelnder Beweise. Chalabi seinerseits brach mit den Amerikanern. Er blieb aktiv in der irakischen Politik, obwohl er 2005, als die ersten Parlamentswahlen organisiert wurden, durchfiel.
Chalabi verwandelte sich in einen schiitischen Politiker. Er war von Haus aus Schiite aber war nicht religiös, sondern eher säkular eingestellt. Dennoch vermochte er es, eine politische Allianz mit religiös orientierten schiitischen Gruppen zu schmieden. Er besuchte Teheran und soll dort - den Hintergrundberichten nach - den Iranern verraten haben, dass die Amerikaner den Code geknackt hatten, den die iranischen Diplomaten gebrauchten, und daher deren Kommunikationen abhören konnten.
Eine Brücke nach Teheran
Gute Beziehungen zu Teheran waren wichtig, wenn es galt, unter den irakischen Schiiten eine Rolle zu spielen. Ministerpräsident Nouri al-Maleki benützte Chalabi und umgekehrt. Unter Maleki war Chalabi vorübergehend Erdölminister und Stellvertretender Ministerpräsident. Maleki ernannte ihn auch zum Vorsitzenden einer "Dienst-Kommission" aus acht Ministern und dem Bürgermeister Bagdads, die dafür sorgen sollte, dass die Infrastrukturen in der Hauptstadt und ihrer Umgebung wieder hergestellt würden: Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung, Gesundheitswesen, Schulen, lokale Sicherheit. Doch die Kommission blieb wirkungslos und wurde später wieder aufgelöst.
Fachmann für "Reinigung"
Ein dauerhaftes Wirkungsfeld fand Chalabi dagegen als der Vorsitzende der „Ent-Baathiserungskommission“. Ihre Aufgabe war, die in der Baath Partei, der Staatspartei Saddams, führenden Personen ausfindig zu machen und sie einem Politverbot zu unterstellen. Ministerpräsident Maleki und seine Anhänger von der schiitischen Dawa Partei benützten die Kommission, um Politiker auszuschalten, die ihnen unliebsam waren, in erster Linie Sunniten. Als ihr Reinigungsarm belegte Chalabi vor den Wahlen von 2010 gegen 500 sunnitische Parlamentskandidaten mit Politverbot.
Dies war nicht schwer, weil unter Saddam jedermann, der irgendeine soziale Position einnahm, bis hinab zum Schulmeister und Beamten, der Staatspartei angehören musste, wenn er seine Stellung behalten wollte. Doch die Ausschaltung der sunnitischen Politiker, Stammeschefs und Würdenträger, mit ihrem ganzen Anhang natürlich, half entscheidend mit, die sunnitische Gemeinschaft in die Arme des Widerstands gegen die amerikanische Besetzung zu treiben und jederlei Versöhnung mit der schiitischen Mehrheit auszuschliessen. Aus dem Widerstand gegen die Amerikaner, der von Sunniten getragen wurde, ging "al-Qaeda im Irak" unter Zarkawi hervor – blutrünstige Feinde aller Schiiten. Aus den Anhängern Zarkawis - verstärkt durch zahlreiche ehemalige Geheimdienstoffiziere Saddams – sollte schliesslich das "Kalifat" von IS werden.
Politiker bis zum Ende
Als Maleki 2014 zu Fall kam, nachdem der IS Mosul erobert hatte, befand sich Chalabi unter den Kandidaten für seine Nachfolge. Doch die Amerikaner verhinderten seine Wahl. Er blieb bis zu seinem Tod im irakischen Parlament, das 2014 gewählt worden war. Er diente dort als Vorsitzender der parlamentarischen Finanzkommission. Schliesslich war er ja immer ein guter Rechner gewesen.