Der Weg zum Olymp führt durch den Konsumtempel. Vor dem Eingang zum Olympischen Park, dem Hauptaustragungsort der diesjährigen olympischen Sommerspiele, wird der Besucher durch “Westfield” geschleust, einem gigantischen Einkaufsparadies im Osten Londons.
Zu spät, aber dann doch noch rechtzeitig
Es ist eines der allergrössten seiner Art in Europa, wo man ziemlich alles kaufen kann. Fast alles. “Hier gibt es keine Tickets!” mahnt ein Lautsprecher den Besucher ohne Eintrittskarte an sein mangelhaftes Kaufverhalten. Denn in der Logik der Veranstalter hätten Eintrittskarten längst online ersteigert werden müssen, und zwar mit der Kreditkarte des einzigen Zahlungspartners der Sommerspiele 2012.
Und ohne Ticket gibt es nichts: keinen Zutritt zu den Wettkämpfen, aber auch keine Besichtigung des an eine geschmolzene Bohrinsel erinnernden Aussichtsturms und nicht mal einen Spaziergang über das Olympiagelände mit der warenhausgrossen Filiale der offiziellen Hamburgerkette (1400 Sitzplätze) und dem möbelhausgrossen Souvenirladen. Mit ein wenig Glück aber bekommt man zu guter Letzt fehlende Eintrittskarten geschenkt. Mitarbeiter von Sponsorkonzernen mit überschüssigen Eintrittskarten und Besucher mit teuer bezahlten Sitzplätzen, aber ohne Begleitung, boten dem Schreibenden gleich mehrere Tickets gratis an.
Antike Quellen frei interpretiert
Im Vergleich zu den Spielen der Antike haben sich die Olympischen Wettkämpfe verändert und vermehrt, aber der grösste Wandel fand abseits der Sportstätten statt. Längst sind die Olympischen Spiele nicht mehr nur Spiele, sie sind globales Unterhaltungsspektakel, internationale Werbeplattform, und staatliches Entwicklungsprogramm ärmlicher Stadtgebiete zugleich. Um diesen diversen Interessen gerecht zu werden, vollbringt das Olympische Komitee, eine gemeinnützige NGO mit Sitz in Lausanne, einen Spagat zwischen seiner universellen Botschaft des friedenstiftenden Sport und dessen hemmungsloser Kommerzialisierung.
„Die Olympische Bewegung bedient sich einer absolut entstellten, unbelegten Interpretation der Antike“ sagt der britische Soziologe David Goldblatt im Gespräch. Über die ursprünglichen Wettkämpfe wisse man schlicht sehr wenig, und viele Elemente der heutigen Spiele wie die Eröffnungszeremonie und der Einlauf der Athleten, sind moderne Erfindungen, nicht zuletzt der Nazis. Diese verwandelten die Olympischen Spiele 1936 in Berlin erstmals in eine Show und prägten die Inszenierung der Spiele nachhaltig. „Die Nationalsozialisten wollten sich als Erbe der vermeintlich arischen griechischen Zivilisation darstellen. Unsinn, aber eben wirksamer Unsinn in der damaligen Zeit“. Der Fackellauf von Athen nach Berlin sollte diese Verbindung symbolisieren und ist seither fester Bestandteil der Zeremonie.
Zahlreiche Anekdoten
Goldblatts Interesse ist die internationale Sportkultur. Er besuchte im Auftrag der BBC Fussballstadien in der ganzen Welt, dokumentierte die Leidenschaft der Derbys in Buenos Aires sowie den blanken Rassismus der Fans des Jerusalemer Vereins Beitar. In seinem Buch „How to watch the Olympics“ (Profile Books, 2011) stellt er die Olympischen Spiele in ihren geschichtlichen Kontext, erklärt den Ursprung und die Regeln der heutigen Disziplinen und erzählt Anekdoten der 26 Sommerspiele seit 1896.
Wer wusste schon, dass Federbälle aus 16 Federn von ausschliesslich linken Gänseflügeln gefertigt sind (wegen der Krümmung)? Das Kapitel zu Ping Pong erinnert an eine Begegnung zwischen Tischtennisspielern der USA und China 1971. Ein Turnier des internationalen Tischtennisverband brachte die Spieler der zwei Länder damals in Japan zusammen. Die sportliche Begegnung bot den Politikern die Gelegenheit, ihre seit 1949 abgebrochenen diplomatischen Beziehung wieder aufzunehmen. Die im Nachhinein als „ping pong diplomacy“ bekannt gewordene Episode führte nur ein Jahr später zum Besuch des amerikanischen Präsidenten Nixon in Peking.
Olympischer Fluch und Segen
Wenn die ganze Welt zuschaut, will sich die Gastnation von ihrer besten Seite zeigen - und dabei Geld verdienen. Ob die Olympischen Spiele aber wirklich kurzfristig die Wirtschaft ankurbeln und langfristig das Vertrauen ausländischer Investoren steigern, ist erfahrungsgemäss unklar. Viel eindeutiger belegt ist die Auswirkung eines Austragungsortes auf die Anzahl gewonnener Medaillen der Gastgeber: Die letzten zehn Gastgeberländer erreichten im eigenen Land über 50 Prozent mehr Podestplätze als auf anderen olympischen Arenen. Ausserhalb der olympischen Stätten war London in der ersten Olympiawoche auffallend leer: Zwar sind viele Besucher für die Spiele nach London gereist, aber es sind weniger als die Stadt in dieser Jahreszeit normalerweise anzieht.
Zentral für die Durchführung des Megaevents sind die Sponsoren. Um ihre Exklusivität zu schützen wird ein bisweilen absurdes Regelwerk angewendet: Einem Cafébesitzer im Süden Londons wurde mit einer Strafe von 20.000 £ gedroht, falls er die aus Brotringen gefertigten Olympiaringe nicht aus seinem Schaufenster entferne; Polizeibeamte sollten ihre Kartoffelchips in durchsichtige Plastiktüten schütten, um nicht unabsichtlich Werbung für die Marke des Chipsherstellers zu machen. Droht die Sponsorenbureaukratie den Olympischen Geist zu ersticken?
Wozu dient ein Esstisch?
Wer die diesjährigen Olympischen Spiele in London besucht, spürt Freude unter den Besuchern und vor allem den angeblich 70.000 freiwilligen Helfern, die den Besuchern freundlich lachend empfangen, Auskunft geben und sich immer wieder für die Visite bedanken. Es sind junge und ältere Menschen, Studenten und Rentner, und ihr Enthusiasmus trotzt dem sterilen Kommerz der flächendeckenden Werbung.
Vielleicht liegt es im Charakter der Briten, die Olympischen Spiele und vor allem sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Als Londons Bürgermeister Boris Johnson am Ende der Spiele 2008 in Peking symbolisch die Olympische Fahne übernahm, sagte er: „Ping Pong entstand auf den Esstischen Englands des 19. Jahrhunderts [...]. Und darin liegt der Unterschied zwischen uns und dem Rest der Welt. Andere Länder, die Franzosen, sahen in Esstischen die Möglichkeit, zu Abend zu essen. Wir [Engländer] sahen in unseren Esstischen die Möglichkeit, Ping Pong zu spielen.“