In dieser Nacht wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen zerstört und jüdische Männer unter 60 verhaftet. Wegen der eingeschlagenen Scheiben hiess dieses Pogrom im Volksmund «Reichskristallnacht». – 80 Jahre danach wurden in der Schweiz zum Gedenken die Synagogen beleuchtet.
Verbrecherisch stupider Anschlag
Staatssekretär Ernst von Weizsäcker (1882–1951) nahm kein Blatt vor den Mund, als er am 15. November 1938 nach einem Mittagessen «im engsten Familienkreise» mit dem Schweizer Gesandten in Paris, Walter Stucki (1888–1963), parlierte. Beide kannten sich aus Bern, wo von Weizsäcker deutscher Gesandter gewesen war, und beide hatten Tage zuvor an der Trauerfeier für den vom 17-jährigen jüdischen Studenten Herschel Grynszpan am 7. November 1938 tödlich verletzten 29-jährigen deutschen Legationssekretär der deutschen Gesandtschaft in Paris, Ernst vom Rath, teilgenommen.
Im Bericht Stuckis vom 15. November 1938 an den Schweizer Aussenminister Giuseppe Motta verurteilte er das Attentat: «Der verbrecherisch-stupide Anschlag, dem ein junger Sekretär der hiesigen deutschen Botschaft zum Opfer gefallen ist, hat hier überall berechtigte und grosse Entrüstung und Teilnahme hervorgerufen.» Stucki hatte bereits vor der «schönen» Trauerfeier dem deutschen Gesandten einen Kondolenzbesuch abgestattet.
Grynszpans Familie war Ende Oktober 1938, wie Tausende andere in Deutschland lebende Polen, vom Grossdeutschen Reich nach Polen deportiert worden, bevor ihre Pässe abliefen. Polen hatte mit dem Ablaufen gedroht, und NS-Deutschland wünschte keine – unfreiwilligen – Staatenlosen im Land.
Kein Mitleid mit den Juden
Nach dem Mittagessen sprach Stucki nach anderen politischen Themen die Pogrome der vergangenen Tage in Deutschland an: «Ich habe das Gespräch dann auch auf die gegenwärtig akute Judenfrage gebracht. Herr von W. hat nicht den geringsten Versuch unternommen, das zu verteidigen, was in letzter Zeit, illegal und legal, gegen die Juden in Deutschland unternommen wurde.» Mit ihm habe der Gast bedauert, dass Deutschland in der Welt nun wieder schlecht dastehe. Seiner Ansicht nach sei «die nationalsozialistische Partei derart im Kampf gegen das Judentum engagiert, dass sie nicht mehr zurück, ja nicht einmal mehr stillhalten kann».
Und dann sprach der deutsche Freiherr Klartext. Die noch in Deutschland verbliebenen circa 500’000 Juden sollten unbedingt irgendwie abgeschoben werden, denn sie könnten in Deutschland nicht bleiben. Wenn, wie bisher, jedoch kein Land bereit sei, sie aufzunehmen, so gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen.
Später, im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen die Beamten an der Berliner Wilhelmstrasse, ging es darum, dass von Weizsäcker Deportationsbefehle für französische Juden nach Auschwitz abgezeichnet hatte. Er behauptete trotz Belegen, nichts von der Wannseekonferenz im Januar 1942 zur «Endlösung der Judenfrage» gewusst und vom wahren Charakter des Vernichtungslagers Auschwitz erst nach dem Krieg erfahren zu haben – für einen der höchsten Beamten im Auswärtigen Amt und hoch dekorierten SS-General nicht recht glaubwürdig. Diese Verteidigung schützte ihn nicht vor einer Haftstrafe von fünf Jahren.
Ein Jahr nach seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg 1950 im Rahmen einer Amnestie starb Ernst von Weizsäcker. Sein Sohn Richard, der später ein grossartiger deutscher Bundespräsident wurde und vor dem Bundestag zum Entsetzen von Ewiggestrigen das Ende des Kriegs als Befreiung bezeichnete, hatte sein Jurastudium unterbrochen, um als Hiflsverteidiger am Prozess gegen seinen Vater mitzuwirken. Er bezeichnete auch später noch das Nürnberger Urteil als «historisch und moralisch ungerecht».
Falsche Prognose für Frankreich
Im «freundschaftlichen» Gespräch im November 1938 in Paris mit Walter Stucki hatte der hohe deutsche Diplomat betont, es gebe keinen Konfliktstoff mehr zwischen Deutschland und Frankreich; er hatte sogar die Möglichkeit eines Nichtangriffspaktes angedeutet. 17 Monate später überfielen Nazi-Truppen Frankreich, und Walter Stucki verzog sich nach der Kapitulation mit seiner Gesandtschaft und einem geschmuggelten Kurzwellensender, um Nachrichten nach Bern zu senden, nach Vichy im nominell «freien», unbesetzten Süden Frankreichs an den Hof des Kollaborations-Präsidenten Marschall Philippe Pétain.
Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 fuhr Stucki ins Zentralmassiv, um mit den anrückenden französischen Befreiern eine unblutige Einnahme Vichys und die reguläre Verhaftung des betagten Marschalls zu vermitteln. Dank Stucki unterblieb die geplante alliierte Bombardierung von Vichy, und die Wehrmacht rückte kampflos ab.
Fürsprache für jüdische Landsleute
Andere Schweizer Diplomaten hielten sich nach dem Novemberpogrom nicht wie Stucki mit der Beurteilung des Attentats von Paris auf, sondern beschrieben für Hans Frölicher, dem Schweizer Gesandten in Berlin und daher ihrem direkten Vorgesetzten, was sie an Übergriffen, Zerstörungen und Brandschatzungen gesehen hatten. Vor allem aber kümmerten sie sich tatkräftig um das Schicksal ihrer jüdischen Landsleute in Deutschland. Eindrücklich sind die Berichte von Hans Dasen, Verweser des Schweizer Konsulats in Frankfurt am Main, und von Franz Rudolph von Weiss, Konsul in Köln.
dodis-Forschungsstelle in Bern
Historikerinnen und Historiker geben regelmässig Bände mit den Jahrgängen diplomatischer Dokumente heraus. Ihre Forschungsstelle heisst dodis, Kurzform von «Documents Diplomatiques Suisses». Zuhanden der Öffentlichkeit publizieren die Forschenden zu Eckdaten der Zeitgeschichte ein e-Dossier, das darüber informiert, was die Schweizer Behörden darüber wussten, so auch anlässlich des 80. Jahrestags der Reichspogromnacht in Deutschland und auch im deutsch besetzten Österreich unter dodis.ch/dds/11371. Direktor von Dodis ist der Historiker Prof. Sacha Zala. Es ist ein Unternehmen der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.
«Da ich für unsere Landsleute jüdischen Glaubens fürchtete», schrieb Dasen am 11. und 12. November 1938 nach Berlin, «begab ich mich im Laufe des Vormittags auf das Polizeipräsidium, wo ich von dem stellvertretenden Herrn Polizeipräsidenten, Regierungsrat Voss, empfangen wurde. Ich forderte für die Landsleute Schutz für Leben und Eigentum, was er mir auch zusagte. Er erbat sich von mir eine Liste der Landsleute jüdischer Konfession, welche ich ihm in den Nachmittagsstunden übergeben liess. Bei der Verabschiedung von Herrn Regierungsrat Voss äusserte er sein Bedauern über die Vorfälle und sagte, dass der Polizei die Hände gebunden seien.»
Der Einsatz des tapferen Konsulats-Verwesers trug auch meist Früchte. In der Tat hatte Propagandaminister Joseph Goebbels für die Nacht vom 9. November nach Rücksprache mit Hitler die rücksichtslosen Angriffe auf Juden und die Zerstörung ihres Eigentums befohlen. Der Alarm erging von ganz oben an SA-Einheiten und auch an Mitglieder der Hitlerjugend. Polizei und Feuerwehr sollten nicht eingreifen.
Dasen beschrieb auch anschaulich, was sich in Frankfurt zugetragen hatte: «Rotten von halbwüchsigen Jungen, mit Äxten und Brechstangen bewaffnet, durchzogen die Stadt und zerstörten in den jüdischen Geschäften die Scheiben, drangen in dieselben ein und schlugen alles kurz und klein. An verschiedenen Orten warfen sie die Ware auf die Strasse und zündeten sie an, die vier Synagogen der Stadt sind ausgebrannt. Ferner wurden bei Juden Haussuchungen vorgenommen und die Männer unter 60 Jahren verhaftet und in Schutzhaft abgeführt.»
Dasen nannte Namen von schweizerisch-jüdischen Geschädigten und was mit ihren Geschäften und Liegenschaften geschehen war. Er telefonierte sogar mit dem Polizeipräsidium in Mainz und fuhr selber hin, als dem Konsulat ein schwerer Übergriff gemeldet wurde.
Keine spontane Aktion
Konsul von Weiss meldete am 12. und 13. November nach Berlin, dass es in Köln schwerere Zerstörungen gegeben habe als in Berlin. Das rühre vielleicht daher, mutmasste der Diplomat, dass den Banden der SA in Berlin nach dem Alarm durch die Parteispitzen nur «wenige Nachtstunden» zur Verfügung gestanden hätten, bevor sie wieder zur Arbeit mussten. In Köln dagegen hätte viel mehr Zeit für die Zerstörung jüdischer Geschäfte und Wohnungen zur Verfügung gestanden.
Der Konsul widersprach in seinem Bericht vehement der deutschen Sprachregelung von Propagandaminister Joseph Goebbels, es habe sich bei der Reichspogromnacht um eine spontane Racheaktion nach dem Attentat auf den deutschen Legationssekretär in Paris gehandelt. Als Beweis führte von Weiss die Unversehrtheit des alteingesessenen jüdischen Juweliergeschäfts Goldschmidt beim Kölner Dom an. Es war Tage vor dem Pogrom nach Belgien verkauft worden, was den Drahtziehern offenbar bekannt gewesen sei. Auch der Kölner Konsul nahm sich der Schicksale von jüdischen Schweizern in Deutschland und ihres Eigentums an. Es wurden auch Plünderungen gemeldet.
Ein Stückchen Tora-Rolle für Frölicher
Erschütternd ist die Schilderung der Zerstörung der Kölner Synagoge und des besonderen Geschenks an den Gesandten Frölicher in Berlin: «Ein Trupp in blauen Drillichanzügen unter Führung eines Chargierten stürmte nachts die hiesigen Synagogen. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben wurden Ekrasitbomben geworfen, und als der Zugang frei war, wurde geradezu mit Raffinement alles kurz und klein geschlagen.»
Die Zerstörung der Tora-Rollen beschreibt von Weiss so: «Ebenso ging es mit den pietätvoll aufbewahrten Pergamentrollen, auf denen das Alte Testament geschrieben steht; ich darf Ihnen hier ein Stückchen einer solchen Rolle zusenden, die, wie mir mein Gewährsmann sagte, ein Stück aus der Genesis des Pentateuch enthält. Diese Rollen wurden dann von der johlenden Jugend zerrissen und verbrannt.» Der Gewährsmann, so von Weiss, «erzählte mir, dass die Stimmung der Zuschauer geteilt gewesen sei, die Jugend konnte nicht genug Sadismus zeigen, während die Erwachsenen mit vielsagendem Kopfschütteln reagiert hätten».
Weisung aus Bern: Bloss keine Vorbehalte
Frölicher erhielt nicht nur ein Stückchen von einer zerstörten Tora-Rolle aus Köln, sondern aus Bern am 21. November 1938 auch eine Aufforderung zur Zurückhaltung.
Von Aussenminister Giuseppe Motta in Bern erhielt Frölicher die Weisung, sich bei der Deutschen Regierung um eine Wiedergutmachung des entstandenen Schadens seiner Mitbürger zu bemühen, falls nicht die Versicherungen der Geschädigten angegangen werden müssten – diplomatischer Schutz werde ihnen, so sie ihn nachsuchen, «nicht verweigert werden können». Allerdings solle es der Gesandte tunlichst unterlassen, «allgemeine, grundsätzliche Vorbehalte anzubringen», die «als eine Stellungnahme zu den Massnahmen Deutschlands gegen die Juden missdeutet werden könnten».
Eine ähnliche Version dieses Textes ist am 9. November 2018 im jüdischen Wochenmagazin der Schweiz «Tachles» erschienen.