Nein, der European Song Contest (ESC) ist ganz und gar nicht überflüssig, wie es manchmal heisst. Er wirft in vielen Ländern die Motoren des einheimischen Musikschaffens an. Ob zum Schluss eine gute Wahl getroffen wird, um jemanden an den ESC zu delegieren, ist vielleicht Glückssache – vielleicht auch hinterher ein Spiegel, den sich die Musikszene aller Gremien vor die schamroten Gesichter halten muss, weil sie nicht besser vorgearbeitet haben.
Eine grosse Show entfaltete sich auf dem Bildschirm, begleitet von vielen elektronischen Blitzen auf der grossen Bühne. Und ebenso viele Blitze erhellen die noch grössere Bühne des Himmels über dem Zürichsee, ein kompatibles Gewitter-Schauspiel drinnen und draussen.
Keine «Zéro points»
26 Länder, darunter die Schweiz, kämpften um die Punkte der anderen. O Wunder: Australien gehört im ESC zu Europa! Weshalb? Vielleicht weil die britische Queen das Staatsoberhaupt ist? Aber dann müssten auch Kanada und noch einige andere weit entfernte Länder dazu gehören. Wie auch immer: Australien bot eine gewaltige, athletische, schräge Show zwischen Elektropop und Opernkoloraturen, die einige Punkte einheimste.
Es ist einige Jahre her, seit es Anna Rossinelli in den Final eines ESC schaffte und noch viel länger, seit die Schweiz den Sieg davontrug. Dieses Jahr gewann Luca Hänni die Schweizer Ausmarchung. Er schaffte es in Tel Aviv in den Final und platzierte sich ganz ausgezeichnet auf dem vierten Rang. Es gab also keine Schandbank mehr, auf der die Schweiz mit «La Suisse zéro points» sitzen gelassen wurde.
Häme für Madonna
Es ist schon so, wie es Superstar Madonna vor ihrem Gastauftritt formulierte: Jeder Teilnehmende an einem ESC ist ein Gewinner, denn der Weg, der dorthin führte, war weit, lang und beschwerlich. Madonna erklärte, dass die Musik die Menschen zusammenbringt. Und das ist eine grosse Errungenschaft angesichts der vielen Konflikte, die in vielen Weltregionen schwelen oder gar ausgebrochen sind. Das Urteil der Kritiker ist ungnädig: Alle hätten an diesem Abend in Tel Aviv besser gesungen als Madonna. Auch in den sozialen Medien regnet es Häme.
Auch der Austragungsort erwies sich als goldrichtig. Das Land, das den Wettbewerb im Jahr zuvor gewann, richtet die Mega-Show aus. Die Hunderte von Raketen, die kurz zuvor aus dem Gazastreifen auf Israels Mitte abgefeuert wurden, mit der Drohung der radikalislamischen Organisationen Hamas und des Islamischen Jihad, sie hätten auch Raketen (aus dem Iran, notabene), die bis Tel Aviv reichen würden, verschreckten niemanden, die mit dem ESC zu tun hatten oder ihn besuchen wollten.
Verstärkte Sicherheitsmassnahmen
Mit ägyptischer Vermittlung zahlte Israel ein Lösegeld, damit sicher alles im Süden ruhig blieb: Die Ablieferung einiger hundert Millionen Dollar aus dem Scheichtum Katar an die Hamas wurde zugelassen und die Fischereigründe wieder erweitert. Allerdings wurden zusätzliche Raketenabwehrsysteme vom Typ «Iron Dome» in Stellung gebracht. Die verstärkten Sicherheitsmassnahmen nahm das Publikum in der Halle und die grosse Menge im frühlingshaft lauen Freien bei den Public Viewings als normal hin. Auch die Künstler selber liessen sich nicht von den Druckversuchen davon abhalten, nach Israel zu reisen.
Der grössste Druck wurde auf Madonna ausgeübt, die sich souverän darüber hinwegsetzte. Dies zeigt, wie wirkungslos die Bewegung «Boykott, Desinvestition, Sanktionen» (BDS) ist, die so krampfhaft erfolglos versucht, Israel zu schaden, statt vor der jeweiligen eigenen Haustür zu wischen, beispielsweise in Südafrika. Es war bei der Punkteverteilung der einzelnen nationalen Jurys ausgerechnet der Sprecher aus Österreich, der wie alle anderen den Organisatoren für die tolle Show dankte und dann hinzusetzte, dieser Abend habe gezeigt, dass Rassismus und Ausgrenzung nirgends Platz haben dürfen.
Keine Ohrwürmer
Nächstes Jahr wird das Königreich der Niederlande den ESC ausrichten. Die Messlatte liegt hoch, denn die Show in Tel Aviv war wie die meisten dieser riesigen Anlässe grandios und künstlerisch wie technisch hochstehend. Für die Schweiz moderierte Sven Epiney, wie immer gut informiert, locker und eloquent. Er hatte schon die ganze Woche Clips aus Tel Aviv geliefert. Vor Beginn der ESC-Show stellte er noch eine Stunde lang die weltoffene, fröhliche Metropole Tel Aviv vor, in der auch Schweizer leben und arbeiten.
Dieses Jahr waren allerdings Kulissen und Einspielungen zwar fulminant, aber eigenartig farblos, sogar die Kostüme, so dass beinahe ein Schwarzweiss-Fernsehgerät gereicht hätte. Nur der Italiener trug ein rotgemustertes Hemd. Die Sängerinnen und Sänger sowie ihre Begleitungen müssen im Fitness-Studio Überstunden geschoben haben, denn sie zeigten sich alle bewundernswert agil. Nur der Sieger aus Holland, der seine schöne selbstgeschriebene dunkle Ballade selber am Klavier begleitete, musste keine Akrobatik vorführen.
Luca Hänni mit seinem bereits äusserst erfolgreichen, anzüglich getexteten Song, prächtig präsentiert, zeigte eine erfrischende, jugendliche Natürlichkeit, die nicht einstudiert wirkte. Er durfte auf einen vorderen Platz hoffen, die Buchmacher Tel Aviv führten ihn teilweise gar als Sieger, aber ein vierter Platz ist ausgesprochen respektabel und lässt auf eine grössere Karriere hoffen. Das Fazit lautet, dass trotz Hännis Lied an diesem Abend kein Ohrwurm dabei war – ausser vielleicht das Lied von Spanien, das allerdings sehr erfolglos blieb.