Der Name Zingaretti ist in ganz Italien bekannt. Fast so bekannt wie der Name des Papstes. Luca Zingaretti ist Schauspieler und ein Star. Seit über zwanzig Jahren verkörpert er in der Fernsehserie „Commissario Montalbano“ den etwas verschrobenen Kommissar. Die Serie, die in Italien jedes Kind kennt, basiert auf den Kriminalromanen des im vorletzten Jahr verstorbenen Andrea Camilleri.
Doch jetzt steht nicht Luca, sondern sein Bruder Nicola Zingaretti in den Schlagzeilen. Im März 2019 war er zum Vorsitzenden des sozialdemokratischen „Partito Democratico“ (PD) gewählt worden – als Nachfolger des unglücklichen Matteo Renzi.
Der Brückenbauer
Nicola Zingaretti gehört zweifellos zu den vernünftigsten italienischen Parteichefs. Es ist ihm gelungen, die Partei, die sich wieder einmal im Selbstzerfleischungsmodus befunden hatte, in ruhigere Fahrwasser zu lenken. Er führte seine Truppe mit kompetenter, verantwortungsvoller Hand und brachte die verschiedenen ideologischen Strömungen – zumindest vordergründig – unter einen Hut. Der PD ist heute mit knapp 20 Prozent Zustimmung die zweitstärkste italienische Partei – hinter der rechtspopulistischen Lega.
Das gemässigte, demokratisch gesinnte Italien hat Zingaretti viel zu verdanken. Vor allem dank ihm, diesem Brückenbauer, kam im Sommer 2018 die Koalitionsregierung zwischen den Sozialdemokraten und der Protestbewegung „Cinque Stelle“ zustande. Ohne Zingaretti wäre Giuseppe Conte wohl nicht Ministerpräsident geworden, und ohne Zingaretti wäre das Land wohl in den Sumpf des Matteo Salvini geraten. Der PD-Chef war es auch, der in mühsamen Gesprächen die Fünf Sterne überzeugte, in der Regierung Draghi mitzuwirken.
Fassungslos
Und jetzt dies: Zur Überraschung aller schmeisst der weitgehend respektierte Parteichef sein Amt hin. Laut Medienberichten soll er niemanden in der Partei im Voraus informiert haben. Sowohl die Schwergewichte in der Partei als auch das Fussvolk sind fassungslos, denn Zingaretti ist bei vielen beliebt und wird respektiert. So sah es zumindest aus.
Nach dem Sturz der Regierung Conte bildete Mitte Februar Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank (EZ), eine neue Regierung: eine Art grosse Koalition mit Beteiligung fast aller einflussreichen Parteien. Da die Gefahr bestand, dass sich die Schwergewichte der Parteien in der neuen Regierung sogleich in die Haare gerieten, griff Draghi zu einem kreativen Trick. Er berief keines dieser Schwergewichte in seine Regierung. Er formierte sein Kabinett vorwiegend mit Vertretern aus der zweiten oder dritten Reihe.
„Das muss ich mir nicht bieten lassen“
Zingaretti wurde von einigen seiner Leute offenbar vorgeworfen, bei den Koalitionsverhandlungen zu wenig hart verhandelt zu haben. Gemäss italienischen Journalisten wurde er von mehreren Mitstreitern „rüde“ angegangen. „Das muss ich mir nicht bieten lassen“, soll er gesagt haben. „Diesen Leuten geht es nicht um Italien, sie sehen nur sich selbst.“
Offenbar ging es nicht nur um die Verteilung von Ministerposten. Es ging auch darum, wer Staatssekretär, Vizeminister oder Vizestaatssekretär wird. Die einen forderten eine stärkere Vertretung des Nordens, andere des Südens, andere des linken Parteiflügels, andere des rechten Flügels. Und dann meldeten auch die Frauen eine stärkere Vertretung an.
Rücktritt vom Rücktritt?
Es war das übliche italienische Geschacher um Posten. Was mit Italien geschieht, war für viele zweitrangig. Zingaretti, einer der wenigen, der das grosse Ganze im Blick hat, hatte genug. Jetzt steht die Partei kopflos da – zumindest vorläufig.
Schon wird Zingaretti bekniet, er solle doch weitermachen und vom Rücktritt zurücktreten. „Ich verstehe den Gefühlausbruch von Nicola Zingaretti“, sagte Matteo Ricci, der Bürgermeister von Pesaro. „Aber wir müssen ihn jetzt alle bitten, zu bleiben.“
Am kommenden Samstag oder Sonntag will nun die Partei einen neuen Parteiführer wählen – oder den bisherigen erneut auf den Schild heben, was (Stand: Samstag, 6. März) eher unwahrscheinlich ist.
Drei Kandidaten
Wer könnte neuer Parteichef oder neue Parteichefin werden? Natürlich zirkulieren bereits Namen: Interessant ist, dass die drei aussichtsreichsten Kandidaten alle vom linken Flügel der Partei kommen und ihre erste politische Heimat in der Kommunistischen Partei hatten. Doch die italienischen Kommunisten waren schon lange eine offene, demokratische, „sozialdemokratisierte“ Partei.
Gehandelt wird der Name von Andrea Orlando, Zingarettis Stellvertreter, ein gemässigter, besonnener Mann. Der aus Ligurien stammende 52-Jährige hatte schon mehrmals erfolglos für das Parteipräsidium kandidiert. Sein Handicap ist, dass er in der Regierung Draghi Arbeits- und Sozialminister ist und wenig Zeit für sein Amt als Parteipräsident hätte. Seine Stärke ist seine Erfahrung.
Gute Chancen haben offenbar auch zwei Frauen: Die aus Genua stammende 59-jährige Roberta Pinotti, eine ehemalige Verteidigungsministerin und die 65-jährige, aus Catania stammende frühere Magistratin und Ministerin Anna Finocchiaro.
„Ein Chaos können wir uns nicht leisten“
Italien steht wieder einmal an einem Scheideweg. Bis Ende April muss die Regierung Draghi Brüssel im Detail mitteilen, wie das Land die 207 Milliarden Euro des EU-Aufbaufonds verwenden soll. Einigt man sich in Rom nicht, würde das Geld verlorengehen.
Umso wichtiger ist es, dass die Regierung zusammensteht. „Ein politisches Chaos können wir uns jetzt nicht leisten“, sagt sogar der Rechtspopulist Matteo Salvini.
Und jetzt?
Wie wirken sich die Turbulenzen bei den Sozialdemokraten auf die Arbeit der Regierung Draghi aus? Schon wird da und dort der Teufel an die Wand gemalt. Die Regierung sei erschüttert. Es würde nun noch schwerer, einen Kompromiss beim Aufbaufonds zu finden, heisst es. Der Rücktritt Zingarettis sei ein schwerer Schlag für die neue Regierung Draghi.
Wirklich?
Draghi ist ein mit allen Wassern gewaschenes Schwergewicht. Er weiss, was er will. Und er ist wohl auch der Einzige, der weiss, was Brüssel will und wie der Aufbaufonds aussehen soll. Er wird sich kaum in den Strudel parteiinterner Streitereien ziehen lassen. Ein Journalist in Rom sagt es flapsig: „Draghi tut ohnehin, was er will. Dass die Sozialdemokraten streiten, kümmert ihn wenig.“