Allenthalben ist vom «Produktionsfaktor», vom «Rohstoff» Wissen die Rede: das Mantra der Wissensgesellschaft. Der Zeitgeist hätschelt seinen Sonnyboy, den Wissenschafter-Unternehmer. Der Cocktail aus «reinen» und industriellen Erkenntnisinteressen ist gang und gäbe. Die Grenzen zwischen Laboratorium und Alltag sind sehr durchlässig geworden, ja, man ist versucht zu sagen, unser Alltag, bis in die Intimzonen konsumatorisch beherrscht, verwandle sich zusehends in ein einziges grosses Laboratorium.
Mit Ignoranz wirtschaften
In einem solchen Kontext gewinnt neben der Wissens- auch die Nichtwissensproduktion zunehmend an Bedeutung. Mit Ignoranz kann man wirtschaften. Firmen nehmen wissenschaftliche Forschung in Dienst und Pflicht, nicht nur, um neue «wissensbasierte» Produkte herzustellen, sondern vermehrt, um diese Produkte «gut aussehen» zu lassen. Vor allem dann, wenn sie mit Gesundheitsrisiken verbunden sind.
Die Bereitschaft von grossen Konzernen und Wirtschaftsverbänden, Forschungsresultate firmenkonform zu gestalten, wächst direkt proportional zum kritischen öffentlichen Bewusstsein. Gegen Konsumenten- und Umweltschutzorganisationen werden dann Anwaltspraxen, Public-Relations-Agenturen und Beratungsfirmen mobilisiert, die die prekären Produkte dadurch verteidigen, dass sie den wissenschaftlichen Konsens mit Gegenexpertisen unterminieren. «Ungewissheits-Management» heisst das heute in betriebsökonomischem Neusprech.
«Unser Produkt ist der Zweifel»
Man kennt diese Praxis des industriegesponserten Skeptizismus seit über einem halben Jahrhundert aus der Tabakindustrie. Gegen den wissenschaftlichen Konsens lancierte sie eine Kampagne nach der andern mit dem ersten Ziel, Zweifel zu streuen. Grundtenor: Der wissenschaftliche Konsens ist konstruiert. Schwer zu denken gibt der Slogan aus einem internen Memorandum des Zigarettenherstellers Brown and Williamson: «Unser Produkt ist der Zweifel, denn er ist das beste Mittel, den ‚Stand der Erkenntnisse’ anzufechten, der gemäss öffentlicher Meinung existiert.»
Es gibt zahlreiche Taktiken der Ungewissheitsproduktion. Eine heisst: Ablenken! So identifizierte der «Tobacco and Health Report» in den 1960er Jahren die Ursachen für Lungenkrebs in Vogelhaltung (Milben im Gefieder), Infektion durch seltene Pilze, Erbanlagen, Viren, städtische Luftverschmutzung und allen anderen möglichen Gründen – ausser im Tabak. Als die Datenlage sich aber zugunsten eines Zusammenhangs von Rauchen und Krebs erhärtete, wechselte man die Taktik. Nun wurde versucht, die Eindeutigkeit der Forschungsresultate in Zweifel zu ziehen. Ein beliebtes Standardargument lautete schon damals, dass die epidemiologischen Studien über die Gefährdung durch Rauchen ja «blosse Statistik» seien und keine eindeutigen Belege für einen Kausalzusammenhang liefern.
Filibuster-Forschung
Damit verband sich eine andere bewährte Taktik, die «Filibuster-Forschung». Filibustieren bedeutet endloses Reden im Parlament, um Abstimmungen zu verhindern und Zeit zu schinden. Den Tabakherstellern war natürlich daran gelegen, die Frage nach der Gesundheitsgefährdung mit der Devise «mehr Forschung» offen zu halten, um offizielle Massnahmen als nicht gerechtfertigt erscheinen zu lassen, gegebenenfalls sogar als Ritter lauterer wissenschaftlicher Skepsis gegen eine «dogmatische» Forschung auftreten zu können.
Schliesslich ist Krebs eine komplexe Krankheit mit mehr als einer Ursache, und war man es den armen Opfern dieser Geissel der Menschheit nicht schuldig, die Frage nach ihren Ursachen mit aller Gewissenhaftigkeit zu beantworten? Man stand dann vor allem in Schadenersatzprozessen gut da, weil man in perfekter Doppelzüngigkeit behaupten konnte, trotz der unsicheren Beweislage (an deren Erhalt man fleissig arbeitete) doch viel für die Forschung getan zu haben.
Ignoranzfabrikanten
Die wichtigsten Schlachten in den «Krebskriegen» (so der Titel eines Buches des amerikanische Historikers Robert Proctor) mögen geschlagen sein. Aber die Taktiken und Argumente der Tabakhändler bleiben virulent. Man kann sie neuerdings in der Klimaforschung, in der Pharma- und Nahrungsmittelindustrie wiederentdecken.
Spätestens hier melden sich mindestens zwei Einwände. Erstens: Auf die meisten brennenden Fragen unserer Zeit – Klima, Umwelt, Energieversorgung, Ernährung, Gesundheit, Bevölkerungswachstum – gibt es schlicht und einfach keine eindeutigen wissenschaftlichen Antworten. Und zweitens gehören Ungewissheit und damit Kontroversen zu den Wesensmerkmalen des wissenschaftlichen Geistes.
Wissenschafter sind Experten des Zweifelns, sie haben sich die Skepsis als Ethos selbst auferlegt. Forschung – so lehrte uns Karl Popper – kommt voran in der Überwindung von Falschheit, aber sie führt nie zu absoluter Wahrheit, bestenfalls zu einem robusten, aber hinterfragbaren Konsens. Wissenschaft wäre eigentlich mit «Zweifelschaft» besser gekennzeichnet. Insoweit sind beide Einwände berechtigt.
Aber das Problem ist nicht die selbstauferlegte Ungewissheit der Wissenschaft, sondern die bewusste Herstellung von Ungewissheit im Namen von Wissenschaft. Dass gute Forschung Zeit braucht, ist die eine Sache. Eine andere Sache ist es, wenn Repräsentanten der Industrie «mehr Forschung» rufen in einer Situation der Ungewissheit, die sie zum Teil selbst erzeugen. Sie setzen Zweifel und Ungewissheit im Grunde nicht als Erkenntnis-, sondern als Verkaufsmittel ein, und sie entwürdigen eigentlich die Objektivität in deren Namen. Man müsste eigentlich eine eigene Kategorie für sie einführen: Ignoranzfabrikanten.
Symptom der Monopolmacht
Ignoranzfabrikation ist ein Symptom der Monopolmacht globaler Konzerne. Mit ihr wächst auch ihre wissenspolitische Macht: die Neigung und die Verlockung also, im Zweifel für die Firma zu entscheiden – und eben noch mehr: Zweifel im Namen und zugunsten der Firma zu erzeugen. Das entspricht dem allgemeinen Trend, Wissen (oder eben auch Unwissen) als ein ökonomisches Gut oder einen Trumpf zu betrachten.
Der Homo oeconomicus etabliert sich auch hier: Wissen als Portfolio, das den «Wissenden» auf dem Markt positioniert. Das kann zu einem Konflikt führen zwischen den Pflichten, die Firmen ihren Forschern auferlegen, und der eigentlichen Forscherpflicht, nämlich die Wahrheit zu suchen. Und die Machtstellung einiger Firmen verleitet wohl nicht wenige Forscher dazu, die beiden Pflichten gar nicht mehr zu unterscheiden: Firmenpflicht und Wahrheitspflicht sind letztlich identisch.
Wissen ist ein Ethos
Damit aber wäre das Ende der althergebrachten Wissenschaft besiegelt. Weil Wissen entsprechende Erkenntnistugenden einfordert – und nicht bloss «Kompetenzen» und «Ressourcen» für Best Practice. Eine Kardinaltugend lautet: Misstraue allen, die sagen, zu jeder Meinung gebe es eine ebenso begründete Gegenmeinung; Fakten seien lediglich Konstrukte von Experten, geronnene Meinungen letztlich. Es mag zutreffen, dass Uneindeutigkeit und Ungewissheit als normales Risiko heutigen Denkens und Handelns in Kauf genommen werden müssen – was sich vom Ozonloch über das Waldsterben bis zur Finanzkrise gezeigt hat.
Umso nachdrücklicher macht sich geltend: Wissen ist ein Ethos! Primär ein Instrument der Wahrheitssuche, und nicht der merkantilen Vorteilssuche. Man mag das als traditionalistisch belächeln. Aber wer das tut, sollte sich einmal Rechenschaft darüber geben, dass die ganze Tradition der wissenschaftlichen Erkenntnis – der Stolz des «Westens» – mit diesem Ethos steht und fällt. Die Reduktion des Wissens auf ein Wirtschaftsgut setzt exakt das aufs Spiel, worauf wir bauen. Universitäten sollten sich daher als Pflegestätten dieses Ethos wiederentdecken, statt es erodieren zu lassen.
Die Ignoranzexplosion
Das Szenario erscheint vielleicht alarmistisch. Aber es präsentiert uns die Rückseite eines Zeitalters, das sich als «wissend» und «informiert» feiert. Tatsächlich aber erzeugen die neuen Technologien des Wissens im Zentrum der «Informationsexplosion» eine «Ignoranzexplosion», welche der Soziologe Michael Smithson bereits vor über zwanzig Jahren diagnostizierte. Pointiert gesagt, hat uns das Internet nicht in eine Wissensgesellschaft katapultiert, sondern in eine Nichtwissensgesellschaft.
Robert Proctor sieht in dieser Rückseite ein neues kulturwissenschaftliches Forschungsfeld Kontur annehmen. «Agnotologie» nennt er es, also: das Studium von kulturell und industriell gemachter Ignoranz. Das wird ein Forschungsfeld der Zukunft sein. Denn der reflektierte Umgang mit solcher Ignoranz erscheint umso nötiger, als «agnotologische» Nebenwirkungen einen wichtigen Aspekt von Risikoabschätzungen darstellen. Vermehrt müssen wir heute entscheiden und handeln ohne sicheres wissenschaftliches Netz. Zudem könnte eine «agnotologische» Besinnung die übergrossen Erwartungen, die heute von neuen Disziplinen geweckt werden – etwa von Stammzellenforschung oder Nanotechnologie – auf ein Normalmass zurückstutzen.
Leibniz’ Warnung
Nicht zuletzt aber behält Agnotologie im Bewusstsein, dass das Nichtwissen mit dem Wissen wächst. Einer der philosophischen Pioniere der Informationstechnologie, der kluge Gottfried Wilhelm Leibniz, hat uns übrigens früh gewarnt. Trotz der «wunderbaren Veränderungen» der Wissenschaften, schrieb er 1680, vermehre sich die Zahl der Dispute und die Zufriedenheit mit Scheinargumenten, und es sei deshalb zu befürchten, «dass die Menschen nach nutzloser Vergeudung des Wissensdranges (...) der Wissenschaften überdrüssig werden und durch eine unheilvolle Verzweiflung in die Barbarei zurückfallen.” – Steuert die Wissensgesellschaft heimlich diesen Kurs?