«Ich weiss, dass ich sterben werde, bevor die arabische Welt ihre Dauerkrise überwindet», schreibt Arnold Hottinger wenig optimistisch 2004 in seinem Buch «Islamische Welt». Ulrich Schmid, einer seiner Nachfolger als Nahost-Korrespondent der NZZ, schreibt 2019 zum Ende seiner Tätigkeit optimistischer, dass der Umstand, dass sich Fata Morganen als Trugbilder entpuppten, zwar enttäuschend sei, aber auch Chancen biete:
«Die arabische Welt hat heftig geträumt vom Sieg über Israel, vom Paradies des Sozialismus, vom Panarabismus. Nichts davon ist in Erfüllung gegangen, und natürlich wird auch der Traum vom militanten Islamismus, der die permanenten Frustrationen vergessen machen soll, platzen. Vielleicht versucht man es dann wieder einmal mit der komplizierten, imperfekten und ach so mühsamen Demokratie.» Schön wär’s!
Als hätte Arnold Hottinger geahnt, dass dereinst Fake News das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Medien untergraben würden, hat er schon vor 14 Jahren in seinem Buch dafür plädiert, Journalisten sollten transparenter arbeiten. Als langjähriger Korrespondent weiss er, dass es keine völlig objektiven Berichte gibt und dass stets etwas vom persönlichen Leben und Erleben des Berichtenden einfliesst.
Nüchterne Selbstkritik, ehrliches Wissen um die eigenen Grenzen und grosse Sprachkenntnisse sind Eigenschaften, die Nahost-Korrespondenten nicht immer auszeichnen. Vor allem jene Spezies nicht, die im Krisen- oder Kriegsfall kurzfristig einfliegt und praktiziert, was die Angelsachsen «parachute journalism» nennen: «Der Begriff ’Fallschirmspringer’ hat im News-Geschäft einen schalen Beigeschmack und gründet auf der Annahme, dass ein Journalist, der von aussen kommt und nur kurze Zeit in einem Land oder einer Stadt bleibt, nur in den seltensten Fällen ein genügendes Gespür für die politische und kulturelle Landschaft eines Gebietes hat.»
Arnold Hottinger war vieles, mit Sicherheit aber kein «parachute journalist». Zehn Jahre, hat er einst erklärt, brauche ein Nahost-Korrespondent, um die arabische Welt zu begreifen. Diesen Erfahrungswert hat er um ein Mehrfaches übertroffen. Denn 60 Jahre, nachdem er für die NZZ aus Beirut über die Anfänge des ersten Bürgerkries im Libanon zwischen Maroniten und Muslimen zu berichten begann, hat er noch immer über den Nahen Osten geschrieben. Einfach nicht mehr für die NZZ, sondern für das «Journal21», einfach nicht mehr mit der Schreibmaschine, sondern mit dem Laptop.
Arnold Hottinger hat sich stets dem Trend zu intellektueller und journalistischer Trägheit widersetzt, sobald es um den Nahen Osten geht. Westlichem «Orientalismus», wie der Palästinenser Edward Said ihn definiert, ist er nie verfallen.
Er widersetzte sich dem, was Sarah Moawad, eine Amerikanerin saudischer Herkunft, eine vielleicht unbewusste, aber tiefsitzende Überzeugung nennt. Er widersetzte sich jenem Glauben, «dass die Region ein geheimnisvoller, fremdartiger Monolith ist, wo die Zeit stehen geblieben ist, eine Region mit einer seltsam unentzifferbaren Schrift und einer Neigung zu brutaler Gewalt.»
Arnold Hottinger war kein rasender Reporter, der atemlos über dramatisches Geschehen berichtet, sondern ein unaufgeregter Beobachter und Analyst von Ereignissen und Entwicklungen der arabischen Welt. Ihm ging es nicht um Scoops oder Sensationen, sondern um die Erhellung von Zusammenhängen, die seiner Leserschaft weitgehend fremd waren. Manchmal tauchte er, wie Erich Gysling erzählt, für Tage, ja sogar für Wochen ab. Nicht einmal seine Frau soll immer gewusst haben, wo er war.
Nachrichten über die arabische oder die islamische Welt, hat Arnold Hottinger gefordert, müssten anders gesehen werden als News über Ereignisse in der vertrauten Eigenwelt: «Die Zusammenhänge sind immer wieder der Schlüssel, der Europäern und natürlich auch den Amerikanern zum Verständnis der Lage fehlt.» A propos Kontext: «Die Fragen sind mir zu simpel», hat er einst einem jungen Fernsehmitarbeiter geantwortet: «Können Sie nicht differenzierter fragen?»
Oft habe er, hat sich Arnold Hottinger erinnert, wenn er ein Land besuchte, in dem er noch nie gewesen war, das betreffende Land trotz aller vorgängiger Lektüre ganz anders erlebt, als er es sich vorgestellt hatte. Diese Erfahrung habe ihn in Bezug auf die Wirkung seiner eigenen Arbeit bescheiden gemacht. Zu bescheiden, könnte einer argumentieren.
Der Islamwissenschaftler Heinz Halm erinnert daran, dass Arnold Hottingers scharfer Blick immer wieder «der Rückseite des Teppichs» gegolten hat: «dem hinter der Fassade der Institutionen (…), aber auch hinter dem islamischen Muster verborgenen Gewebe von Patronage und Klientel, von persönlicher Autorität und loyalem Gefolge, das in fast allen nahöstlichen Ländern das eigentliche Geschehen bestimmt.»
Der arabische Frühling, heute nur noch eine ferne Erinnerung, brach am 17. Dezember 2010 im tunesischen Sidi Bouzid aus, als sich ein Strassenhändler namens Mohammed Bouazizi nach einem Streit mit der Polizei mit brennbarer Flüssigkeit übergoss und anzündete. Der selbstzerstörerische Akt löste Proteste aus, die sich in der Folge auf das ganze Land ausweiteten und Mitte Januar 2011 zum Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali führten.
In Tunesien hat auch für Arnold Hottinger alles begonnen. Seine Mutter lud ihn während des Studiums zu einer ersten Reise in den arabischen Raum ein. Die Reise führte nach Tunis, wo ihn, wie er sich später erinnert, die Fremdheit des Ortes überwältigte: «Sie verfolgte mich noch Jahre im Traum. Nacht für Nacht verirrte ich mich im Basar von Tunis, in all diesen Farben, diesen Gerüchen, und fand nicht mehr heraus.»
Es war wohl, Kismet, Arnold Hottingers Bestimmung, sich damals in den Souks der Medina von Tunis zu verirren, und es ist, werte Anwesende, unser Glück, dass wir von dieser Verirrung so lange haben profitieren dürfen. Dafür «Shukran jazilan», Arnold Hottinger, tausend Dank!