Der Islamismus bedroht uns nicht nur in der Gegenwart, er hat auch seine Geschichte. Seine Herkunft und Entwicklung lassen erkennen, wie er zustande kam, was ihn antrieb und was ihn weiterbewegt.
Erst heute, wo das "Kalifat" des „Islamischen Staats“ (IS) weltweit Schösslinge hervorbringt und Ableger schafft, wird uns klar, dass es sich um eine Ideologie von weltbedrohendem Ausmass handelt.
Nicht einmal Nine-eleven, die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York und Washington, haben bewirkt, dass diese Ideologie als Ideologie ernst genommen wurde. Man sprach damals von Terrorismus und vom Krieg gegen den Terrorismus, der geführt werden müsse. Doch womit dieser Terrorismus hervorgerufen wurde, fragte man nicht. Es gab nur die unbestimmte und in ihrer Vagheit sachlich falsche Vermutung "der Islam" stecke dahinter. Eine Vermutung, die in der Folge oftmals und zu recht dementiert wurde: "Der Islam" war es nicht.
Seit 1928 bekannt
Die Ideologie, die diesen Terror hervorruft, war seit langem bekannt. Sie war seit 1928 mit der Gründung der Muslimbrüder offen aufgetreten. Jedermann konnte sich über sie informieren. Diese Ideologie hatte im Verlauf der Jahrzehnte viele unterschiedliche Richtungen und Branchen entwickelt, die man alle unter dem Begriff "Islamismus" zusammenfassen kann.
Dieser Begriff meint „ideologisierte Formen der Religion des Islams“. Die islamistischen Ideologien in allen Varianten nehmen Versatzstücke aus dem weiten Meer der religiösen Grundschriften des Islams, des Korans und Hadiths (Hadith ist die sakrale Überlieferung von Tun und Sagen des Propheten) und stellen sie derart zusammen, dass sie als Stützen ihrer ideologischen Gebilde dienen können. Diese Konstrukte werden von den Ideologen des Islamismus so aufgebaut, dass sie Weisungen und Vorschriften ergeben, welche sehr viel unflexibler und eindeutiger sind als jene, die aus der Gesamtheit der komplexen religiösen Überlieferung hervorgehen, so wie sie die Fachgelehrten (Theologen) des Islams über die Jahrhunderte hinweg gehandhabt haben und weiter handhaben.
"Krieg der Ideen" oder "Krieg der Waffen"
Die Theologen suchten Gottes Willen aus den sakralen Grundlagen der Religion zu erschliessen. Die Ideologen hingegen suchen ein Heils- und Erfolgsrezept zu akkreditieren, das ihren Wünschen und Hoffnungen entspricht und von dem sie annehmen, dass es auch ihre Gefolgsleute ansprechen wird. Die zu dem Heilsrezept passenden islamischen Versatzstücke aus den Heiligen Schriften dienen ihnen dazu, ihr ideologisches Narrativ islamisch zu verbrämen und ihren Heilsverheissungen dadurch Prestige zu verschaffen.
Da die Islamisten gegen all jene kämpfen wollen, die ihren Ideen nicht folgen wollen, muss ihr Narrativ ein kriegerisches sein. Es kann sich aber je nach Variante des Islamismus um "Krieg der Ideen" handeln oder um "Krieg mit den Waffen".
Warheitsanspruch
Immer läuft die Ideologisierung des Islams darauf hinaus, dass eine Innengruppe gebildet wird, die sich allen anderen, den Aussengruppen, entgegenstellt. Jede Ideologie enthält einen Wahrheitsanspruch, der andere Ideengebäude zurückweist. Dieser Anspruch kann schroffer durchgesetzt oder milder gehandhabt werden, je nach dem Gutbefinden der Ideologen.
Im Falle des Islamismus in all seinen Varianten handelt es sich um eine politische Ideologie. Ihr Kern liegt immer darin, dass sie "islamische Staaten" oder einen umfassenden "Islamischen Staat" anstrebt. Einen „Islamischen Staat“ definiert sie als einen, der nach der Scharia regiert wird. Da die Scharia aus einem gewaltigen Korpus von nicht kodifizierten Rechtsvorstellungen besteht, die sich als Gottesrecht definieren, gibt es auch in ihr die gleiche Auswahlmöglichkeit für die islamistischen Ideologen wie im Falle von Koran und Hadith. Sie können die ihnen passende Aussage herauspicken und alle anderen übergehen. Damit gewähren sie sich die Auslegungshoheit, die sie verwenden, um ihre Wünsche und Anliegen durchzusetzen und sie zugleich zum "Willen Gottes" zu erklären.
Verkanntes Potential des Islamismus
Die europäische Welt müsste eigentlich in der Lage sein, Ideologien zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Sie hat soeben eine Zeit hinter sich gebracht, die zu recht als das Zeitalter der Ideologien beschrieben wurde: Imperialismus, Kapitalismus und Kommunismus gegenüber Nationalismen unterschiedlicher Färbung und Intensität, einschliesslich des Nazismus, sowie Liberalismus in unterschiedlichen Ausprägungen haben unsere jüngste Geschichte bestimmt.
Doch die Potenziale des Islamismus entgingen den Beobachtern aus dem Westen. Seine frühen Manifestationen erschienen ihnen als blosse Rückständigkeit kolonialer oder eben erst aus dem Kolonialismus entlassener Völker, die sich noch zu "entwickeln" hätten. Der dort auftretende Islamismus galt als fanatisch und rückständig, der jedoch letzten Endes durch den unvermeidlich bevorstehenden Fortschritt dem Untergang geweiht sei.
Wachsendes Publikum für den Islamismus
Diese herablassende Einschätzung wurde auch durch viele der in den jungen muslimischen Staaten herrschenden Oberschichten geteilt. Auch sie glaubten an Fortschritt im Sinne der Europäer und Amerikaner, den sie ihren Staaten zu bringen versprachen. Die Forderung der Islamisten nach einem "islamischen Staat" gemäss ihrer Islamauslegung erschien demgegenüber anachronistisch und rückständig - rückwärtsgewandt.
Verkannt wurde aus dieser "westlichen" Sicht, dass den islamistischen Ideologen ein wachsendes, nicht ein abnehmendes Publikum zur Verfügung stand, das sich ihren Lehren öffnete.
Es gab zwar "Fortschritt" in den neuen Staaten der islamischen Welt. Doch dieser erwies sich in vielen Fällen als stark eingeschränkt auf bestimmte Oberschichten, die Willens und in der Lage waren, den Verkehr mit einer Aussenwelt aufzunehmen, die nicht in der islamischen Religion und Kultur verankert war. Anfänglich waren ihre Partner die "Metropolen" der Kolonialstaaten, Paris, London, Moskau. Später wurden es die "entwickelten Länder", in erster Linie der westlichen Welt, und am Ende stand "die Globalisierung", die weitgehend eine Amerikanisierung wurde. Amerikanisierung im Sinne der Übernahme von Konsumgewohnheiten und -freuden nach dem Modell der Amerikaner.
Kluft zwischen Ober- und Unterschicht
Verkehr mit diesen machtmässig und materiell überlegenen Partnern bedeutete Handel und Geschäftsbeziehungen verbunden mit der Übernahme von in den anderen Kulturen hervorgebrachten Regeln und Leitbildern.
Die "verwestlichten" Oberschichten der heutigen islamischen Welt behielten einige Bindungen bei, die sie weiterhin als Angehörige ihrer eigenen Länder, ihrer eigenen Kulturen und Religionen markierten. Jedoch die Abstände wuchsen zu den gewaltigen Unterschichten, die nicht in der Lage waren, die Verwestlichung ihrer Führungsschichten nachzuvollziehen. Ihnen fehlten Voraussetzungen wie die Schulbildung, Fremdsprachen, Reisemöglichkeiten, enge Kontakte zu Personen und Institutionen der nicht islamischen, meist westlichen Aussenwelt.
Vernachlässigte Unterschicht
Eine relativ dünne Oberschicht erhielt Zugang zur westlich dominierten Weltkultur. Dies waren Schichten, welche nun die Möglichkeiten hatten, sich am Import westlicher Güter, Ideen und Institutionen zu beteiligen. Sie wurden dadurch in vielen Fällen zu wohlhabenden und Macht ausübenden Oberschichten. Sie wurden auch 'par excellence' die Gesprächspartner der westlichen Mächte, oftmals so sehr, dass die Existenz gewaltiger Unterschichten, die in ihrer angestammten Kultur "hängen blieben", als irrelevant hingenommen wurde.
Von Paris, London und Washington aus gesehen, zählten diese Unterschichten nicht wirklich mit. Sie waren ja "die Vergangenheit", dazu bestimmt, vom Fortschritt überholt zu werden.
Eine vergleichbare Sicht übernahmen in vielen Fällen die westlich akkulturierten Oberschichten in den Ländern des Islams, wenn sie auf ihre eigenen Unterschichten blickten. Diese Zurückgelassenen zahlenmässig immensen Mehrheiten in ihren städtischen und ländlichen Elendsquartieren verloren in ihrer Armut Teile ihrer angestammten eigenen Kultur.
Bereicherung auf Kosten der Armen
In Ägypten wuchs das Nationaleinkommen in den dreissig Jahren der Herrschaft Mubaraks um 6 bis 10 Prozent jährlich. Doch die Zahl der Ägypter, die unter der Armutsgrenze leben mussten, wuchs in der gleichen Zeit von 13 auf 24 Prozent.
Das heisst, grob geschätzt: die Bevölkerung wuchs um rund 70 Prozent, das Bruttosozialprodukt um rund 240 Prozent. Das verbleibende Netto-Wachstum von 170 Prozent wurde so verteilt, dass die Zahl der Armen sich beinahe verdoppelte. Was bedeuten muss, dass das Netto-Wachstum alleine den Oberschichten zugute kam und darüber hinaus die untersten Schichten zum Bereicherung der Oberen beitragen mussten.
Verwaiste, ausgeschlossene Arme
Über all diese 30 Jahre hin diente die ägyptische Geheimpolizei dazu, genügend Druck auf die ägyptischen Unterschichten auszuüben, dass diese sich still verhielten. Die wachsende Armut bedeutete auch zunehmenden Verlust durch Verarmung der eigenen Kultur. Die Reichen wandten sich mehr und mehr der "globalisierten" Kultur zu, die sie mitkonsumierten. Die Armen, die nicht konsumieren konnten, blieben verwaist und ausgeschlossen.
Das Auseinanderleben der unterbemittelten und der überbemittelten Schichten führte zu Aussichtslosigkeit und Identitätskrisen bei der grossen Mehrheit auf dem unteren Drittel der in ihren untersten Teilen sehr breiten sozialen Pyramide. Das Ganze schwappte über mit den Grossdemonstrationen gegen "das Regime" im Jahr 2011, ohne jedoch zu einer wirklichen Veränderung der sozialen Verhältnisse zu führen.
Islamismus gegen Hoffnungslosigkeit
Deshalb fallen die Verheissungen der islamistischen Ideologie auf fruchtbaren Boden. Die Ideologen finden ihr Publikum bei Personen und Gruppen, die ihre gegenwärtige Lage als ungerecht und gleichzeitig als hoffnungslos empfinden. Die Ideologie verschafft ihnen Zugehörigkeit und Aussichten, Orientierung, wo es zuvor nur Hoffnungslosigkeit gab.
Die islamistische Ideologie erklärt sich als "islamisch" und brandmarkt alle ihr nicht Angehörigen als "unislamisch". Dadurch spricht sie den wichtigsten überlebenden Teil der erschütterten Identität von jenen an, die nur noch wenige andere Identitätsanker besitzen als ihre Zugehörigkeit zur Religion des Islams.
Der Islam als letzter Anker
Kurz nach der Entlassung in die Unabhängigkeit war die Identität der zuvor kolonial beherrschten islamischen Völker stark durch Nationalismus geprägt. Doch die auf die eigene Nationalität gesetzten Erwartungen und Hoffnungen brannten aus, besonders wohl im arabischen Bereich. Die arabischen Nationalstaaten erlitten unmittelbar nach ihrer Unabhängigkeit militärische Niederlagen (in Kriegen gegen Israel), dann Militärdiktaturen im Zeichen von Dolchstosslegenden und Nationalismus, dann der Pseudo-Stabilität unter privilegierten und oftmals korrupten Oberschichten, bis zur Entfremdung der Hauptmasse der Bürger von ihrem Staat.
Der Islam war (neben der Familie) als Hauptidentitätsanker verblieben, und die islamistischen Ideologen traten auf im Namen des Islams (dessen Manipulation durch die Ideologie jenen entging, die sich zu ihr bekehren liessen).
Die Jugend im Sog der Ideologien
Eine solche heilsverheissende Ideologie kann ihren Anhängern innere Sicherheit und Halt gewähren. Sie sehen sich selbst, oftmals durch ein Bekehrungserlebnis, erlöst und gerettet. Dies verschafft dem Ideologen und seiner Lehre einen starken Einfluss auf seine Gläubigen und Bekehrten. Der Einfluss kann dermassen absolut sein, dass der Bekehrte bereit ist, sein Leben für die angeblichen Ziele der Ideologie zu opfern. Ob dabei Versatzstücke aus dem religiösen Repertorium zur Verwendung kommen, oder solche weltlicher Art, wie im Nationalismus oder Kommunismus, ist nicht entscheidend. Hauptsache ist, dass die Ideologie überzeugt und fraglos hingenommen wird.
Erfahrungsgemäss sind junge Leute besonders empfänglich für ideologische Engagements. Die Jugend befindet sich auf Orientierungssuche in einer Welt, in die sie sich gestellt sieht. Das Angebot der Ideologen gewährt Orientierung. Eine desorientierte Gesellschaft, die ihren Jugendlichen nicht zu vermitteln vermag, wohin ihr Lebensweg führen soll, bietet die beste Voraussetzung für die starke Sogkraft von Ideologien.
Die Frühzeit des Islamismus
In der Kolonialzeit begannen islamistische Ideologen Wirkung zu entfalten. Damals1928 wurden die Muslimbrüder in Ägypten gegründet. Im kolonialen Indien blühte unter den dortigen Muslimen die Deobandi-Schule des Islams islamistischer Färbung. Beide Strömungen wollten den Einfluss europäischer Vorbilder und Ideen eingrenzen, indem sie versuchten, sich eng an die Grundlagentexte des Islams zu halten und eine als "islamisch" proklamierte staatliche Ordnung zu fördern, die auf ihrem Verständnis dieser Quellen und ihrer Interpretation der Ursprungsgeschichte der Religion beruhte.
Die herrschenden Klassen der kolonialen und der post-kolonialen Zeit hatten nichts für diese "rückständigen" Ideen übrig. Ihr Islam, soweit sie sich überhaupt mit ihm abgaben, sollte ein "modern orientierter", "fortschrittlicher" Reform-Islam werden. Masstab der Modernität war natürlich, was in Paris und London materiell und geistig geschah und was etwas später in den USA vorgelebt wurde.
"Bibel" der Jihadisten
Diese Grundhaltung galt auch für die erste Generation der Armeeoffiziere, die in den wichtigsten Ländern die Macht übernahmen. Der Zusammenstoss Nassers mit den Muslimbrüdern (ab 1954) führte zu einer Verfolgungswelle gegen die Bruderschaft und zur Verschärfung ihrer Ideologie durch Sayyid Qutb, der von Nasser 1965 gehängt wurde. Auf Qutb geht die Einführung des Begriffes "Takfir" in die islamistische Ideologie zurück. Das ist die "Ungläubigkeitserklärung" all jener, die sich nicht der islamistischen Ideologie anschliessen - einschliesslich der Muslime anderer Meinung. Sie sind Muslime, die den "Takfiris" als Ungläubige gelten, weil sie ihre Ideologie ablehnen.
Sayyid Qutb hat seine verschärfte Ideologie nach Folterungen im Gefängnis entwickelt. Sein Buch, das sie enthält, der Korankommentar "Im Schatten des Korans", wurde aus dem Gefängnis hinausgeschmuggelt. Es ist bis heute das Grundbuch der extrem "jihadistischen" Ausrichtung der arabischen Islamisten.
Der Afghanistan-Krieg als Ausbildungslager
Den 60er Jahren mit ihrer Verschärfung der islamistischen Ideologie folgten die 80er mit dem Kampfeinsatz der Islamisten gegen die sowjetische Armee in Afghanistan (1980-88). Dieser wurde bekanntlich von den USA und Saudi-Arabien finanziell und durch Waffenlieferungen gestützt. Die Pakistani, damals unter einem dem Islamismus zuneigenden General, Präsident Zia ul-Haq, sorgten dafür, dass die amerikanischen Gelder und Waffen sowie die saudischen und Golfstaatengelder den afghanischen Islamisten zugespielt wurden. Mehrere der wichtigsten Anführer und Ideologen des afghanischen Widerstandes waren zuvor auf der Azhar-Lehrschule in Kairo unter den Einfluss von Muslimbrüder gelangt.
Der langdauernde Krieg in Afghanistan wurde zum permanenten Ausbildungslager, in dem viele der islamistischen Kämpfer (die man auch "Jihadisten" nennt) praktische Erfahrung im Umgang mit Waffen und mit Sprengstoffen erwarben. Die "jihadistischen" Ausbildungslager für Nicht-Afghanen (Araber, Tschetschenen, Uzbeken, Turkmenen, Kashmiri u.a.) wurden auch nach dem Sieg über die Sowjetarmee von 1988 in Afghanistan weitergeführt. Bin Laden, Sohn eines saudischen Multimillionärs, diente als Zahlmeister.
Die USA, zum "Grossen Teufel" erklärt
Im Zeitalter der Globalisierung kam eine weitere Entwicklung der Ideologie zustande. Osama bin Laden, angelehnt an seinen Lehrer, den Palästinenser Abdullah Yusuf Azzam (1941-1989), entschied sich dafür, die USA als jene Macht, die hinter der Globalisierung stand, spezifisch aufs Korn zu nehmen.
Ihm und seinen Gesinnungsgenossen von al-Kaida galt und gilt sie weiterhin als die Hauptquelle des "Anti-Islams", die es in erster Linie zu bekämpfen gelte. Khomeini, der 1979 an die Macht gelangte, war aus der schiitischen Warte der gleichen Meinung, als er die USA zum "Grossen Teufel" erklärte.
Muslimbrüder gegen Jihadisten
In Ägypten sträubten sich die Nachfolger des Sayyid Qutb gegen die Fortschritte in der "Verwestlichung", welche die Herrschaft Anwar as-Sadats mit sich brachte. Dem Friedensschluss mit Israel, den Sadat 1979 durchführte, folgte die Umkehr vom "arabischen Sozialismus" Nassers zu "amerikanischen" Wirtschaftsformen und Geschäftsverbindungen, die einen grossen Schritt voran bei der "Globalisierung" der privilegierten pro-westlichen Oberschichten Ägyptens bedeutete. Gegen diese entstanden im Untergrund islamistische Gruppen und Bewegungen, deren oftmals blutige Aktivitäten mit der Ermordung Präsident Anwar al-Sadats (1981) einen Höhepunkt erreichten.
Später wurden sie von Sadats Nachfolger, General Husni Mubarak, und dessen Geheimpolizei allmählich niedergekämpft. Ihre überlebenden Anhänger übten Selbstkritik in den Gefängnissen. Die Muslimbrüder, damals halblegal und halbtoleriert, distanzierten sich von den "jihadistischen" Islamisten. Sie entschieden sich für graduelle Islamisierung auf dem Weg der Überzeugung durch Mission unter den Mittel- und Unterschichten. Im Zuge dieser Bemühungen entwickelten die Muslimbrüder ein weitgespanntes und wirksames Wohltätigkeitsnetz zugunsten der ärmsten Teile der Bevölkerung.
Der algerische Bürgerkrieg
Die Erfahrung der "Afghanen", wie man sie nannte, weil sie aus Afghanistan heimgekehrt waren, fand Anwendung in Algerien, als dort der Bürgerkrieg der 90er Jahre ausbrach, in dem Islamisten gegen die Armee kämpften. Unter den Islamisten gab es zwei Strömungen, den FIS (Front Islamique du Salut) und die GIA (Groupes Islamiques Armées), wobei die GIA-Kämpfer sich als "Takfiri" auszeichneten, die es als ihre Pflicht ansahen, nicht nur gegen die Armee zu kämpfen, sondern auch gegen all jene algerischen Muslime, die ihrer Ideologie nicht folgen wollten, einschliesslich den FIS.
Dies führte mehrmals zu schweren Massakern unschuldiger algerischer Zivilisten. Wobei bis heute unklar geblieben ist, wie weit die GIA von den Geheimdiensten der Armee infiltriert waren und von diesen zu ihren Untaten angeregt wurden, mit dem Ziel, die algerische Bevölkerung gegen die Islamisten aufzuhetzen.
Bosnien, Somalia
Dem algerischen Bürgerkrieg folgte 1992 bis 1994 Bosnien als neuer Kampfplatz, wo Jihadisten meist islamistischer Ideologie gegen die Serben kämpften. Nebenkriegsschauplatz, der ebenfalls Jihadisten islamistischer Färbung anzog, wurde Somalia, wo die Kämpfe und blutigen Anschläge bis heute andauern. Auch in Somalia begannen die Islamisten weniger radikaler Ausrichtung die Macht zu erkämpfen.
Das Einschreiten einer äusseren Macht, der Äthiopier, im Jahr 1996, die dazu von den Amerikanern ermuntert wurden, führte zur Radikalisierung ihrer Bewegung unter den Schabab-Milizen, die heute als "Takfiri" mit Bomben und Selbstmordkommandos kämpfen.
Blindwütige Reaktion der Amerikaner
All dies wurde weit in den Schatten gestellt durch die Aktion von bin Ladens al-Kaida in New York vom 11. September 2001 und die darauf erfolgte blindwütige Reaktion der Amerikaner, die sich als "Krieg gegen den Terrorismus" verstehen wollte. Dieser Krieg gegen den Terrorismus lief über das nächste Jahrzehnt hin darauf hinaus, dass er die Möglichkeiten für die islamistischen Ideologen, neue Gefolgschaften zu gewinnen, weltweit ausweitete, weil viele Muslime den amerikanischen Krieg als einen Feldzug gegen den Islam empfanden.
Dies umso mehr als die Amerikaner gegen ihren einstigen Verbündeten, den üblen Diktator Saddam Hussein, losschlugen, obwohl er nichts mit Islamismus zu tun hatte. Es sollten denn auch die amerikanischen Angriffe und Besetzungsjahre im Irak werden, die den irakischen und später auch syrischen Islamisten zu neuen Dimensionen von Macht und Erfolg verhalfen.
Saddams Geheimdienste stossen zum "Kalifat"
Der anti-amerikanische Widerstand in den sunnitischen Teilen des Iraks, brachte die Neuentwicklung eines Zusammenspiels der Geheimdienstoffiziere und anderer entlassener Offiziere der bisherigen irakischen Armee mit islamistischen Ideologen hervor. Sie lernten sich teilweise in dem amerikanischen Gefangenenlager von Camp Buqa kennen und schätzen. Die irakischen Islamisten in Begleitung der entlassenen Armeeoffiziere und Sicherheitsspezialisten Saddams gingen neue Wege mit dem inner-irakischen Krieg zwischen irakischen Sunniten und irakischen Schiiten, den sie während der Jahre 2006 bis 2008 unter den Augen der amerikanischen Besetzer im Irak entfachten.
Dieser mörderische und bittere Glaubens-und Bürgerkrieg spaltete das Land zutiefst. Die Spaltung hatte zur Folge, dass die sunnitischen Islamisten mit einigem Erfolg als die Vorkämpfer der irakischen Sunniten auftreten konnten, denen sie gegen die Diskrimination durch die regierenden irakischen Schiiten zu helfen vorgaben.
Systematische Verbreitung von Angst
Spaltung und dann Zusammenarbeit mit einer der beiden nun durch die Spaltung verfeindeten Gruppen – das ist eine typische Machttechnik, wie sie die Geheimdienste anwenden. Die Zusammenarbeit mit den durch die Amerikaner fristlos entlassenen und dadurch verbitterten Armeeoffizieren, Sicherheits- und Geheimdienstfachleuten des gestürzten Diktators brachte den islamistischen Jihadisten wichtige Techniken bei, wie sie unter Saddam während Jahrzehnten von den Geheimdienstleuten eingeübt worden waren.
Die irakischen Islamisten lernten auch von den Geheimdienstleuten wirksame Techniken der Propaganda und Machtausübung durch systematische Verbreitung von Furcht. Dies war eine Spezialität der Geheimdienste unter Saddam gewesen und wurde als ein Hauptinstrument für die erfolgreiche Errichtung des "Islamischen Staates" wiederverwendet, der sich den Titel eines "Kalifates" zulegte.
Erfolgsmodell "Kalifat"
Der Erwerb eines grenzüberschreitenden eigenen Territoriums in Nordirak und in Syrien, eben des "Kalifats", bedeutete für die Islamisten, dass sie auf einen Schlag erreichten, was bisher in ihrer Ideologie ein Fernziel dargestellt hatte, dessen Erfüllung in weiter Zukunft gelegen schien.
Das Kalifat war eine Prophezeiung gewesen, an die die Anhänger der Ideologie zu glauben aufgefordert wurden, die sie aber kaum wirklich zu erwarten gewagt hatten. Nun wurde es plötzlich zur Wirklichkeit! Folge war ein gewaltiger Zulauf für den IS. Araber, Muslime aus nicht arabischen Staaten und Diaspora-Muslime aus Europa zogen, meist via Türkei, in "das Kalifat". Dieses sagte sich von der Oberaufsicht durch al-Kaida los und begann seinerseits, eigene Zweige in verschiedenen islamischen Ländern zu entwickeln, die als "Emirate des Kalifats" auftraten.
Gut bezahlte IS-Kämpfer
Der Umstand, dass dieses "Kalifat" ein Einkommen an Steuer-, Raub- und Erpressungsgeldern besass, die es aus seiner Bevölkerung von fünf bis sechs Millionen Menschen herauspressen konnte, und dass es sogar ein Erdöleinkommen aus den syrischen und irakischen Erdölquellen zog, erlaubte ihm, seine Kämpfer relativ gut zu bezahlen. Jedenfalls erhielten sie mehr als sie in ihren Heimatstaaten als Arbeitslose und Gelegenheitsarbeiter erwarten konnten.
Der IS entwickelte auch eine beispiellose Fähigkeit, im Internet Propaganda zu verbreiten. Die Grausamkeiten, die er beging, dienten dazu, seine Auftritte sensationell zu machen und den Eindruck von überragender Macht und Stärke zu erwecken. Das Internet wurde zum Hauptträger dieser Propaganda.
Selbstmordanschläge statt schwere Artillerie
Das "Kalifat" verübte, entschlossener als all seine Vorgänger, Selbstmordanschläge. Systematischer und zynischer als seine Rivalen und Vorgänger schulte es in besonderen Lagern Kandidaten für Selbstmordanschläge und bereitete sie psychisch darauf vor. Dies verschaffte dem IS eine so grosse Zahl von Selbstmordkandidaten, dass er die Bombenschläge als Ersatz für schwere Artillerie einsetzen konnte.
Die grosse Mehrzahl der Angriffe seiner Kämpfer wurden durch oftmals mehrfache Selbstmordschläge eingeleitet, die dazu dienen sollten, anfängliche Unsicherheit und Verwirrung unter den Feinden zu schaffen. Über die Jahre nahmen dabei die mehrfachen Anschläge zu, entweder zwei oder drei und bis zu sieben gleichzeitig oder nacheinander, so dass einer ersten Opferwelle eine zweite und dritte folgen konnte. So wurden jene Personen getötet, die zur Hilfe der Opfer des vorausgegangenen Schlages herbeigeeilt waren.
Perspektiven für die Perspektivelosen
Die erfolgreich scheinende Gründung des "Kalifats" bestärkt natürlich die Zugkraft der islamistischen Ideologie. Die Methoden des IS finden Nachahmung weltweit in allen islamischen Ländern. Dies auch in solchen Ländern mit islamischen Minderheiten, in denen aber der Gegensatz zwischen den "globalisierten" Oberschichten und islamischen Unterschichten, die nicht an der Globalisierung teilnehmen, wächst und sich vertieft. Teile der Unterschichten glauben dort unter Führung von Ideologen, die oft aus der Mittelschicht stammen, in der islamistischen Ideologie Halt und Identität zu finden.
Der Umstand, dass der materielle Erfolg des IS auch Karrieren und Monatslöhne verspricht, dürfte zum Erfolg der Ideologie beitragen. Doch er ist wahrscheinlich nur für wenige das entscheidende Moment. Die Ideologie verspricht den Perspektivelosen Perspektiven für ihr weiteres Leben und auch noch danach. Diese Aussichten und Verheissungen sind die Hauptsache. Wenn solche Aussichten zusätzlich auch die Form von materiellen Perspektiven annehmen, um so besser!
Der Kampf gegen die Islamisten stärkt sie
Aus der bisherigen Geschichte des Islamismus lassen sich Lehren ziehen. Die wichtigste ist: Ideologien lassen sich nicht allein mit Waffen bekämpfen. Der Kampf mit den Waffen hat dazu geführt und kann weiterhin bewirken, dass die Ideologie weiterwächst, sich wandelt, indem sie sich weiter verschärft und neue Erfolge erntet. Die Voraussetzung für diese neuen Erfolge ist stets, dass Bevölkerungen oder Bevölkerungsteile bestehen, die wegen ihrer Lage der Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit nach Halt und Richtung suchen und diese bei der Ideologie zu finden glauben.
Kriegshandlungen führen in beinahe allen Fällen dazu, dass die Zahl der Hoffnungs- und Aussichtlosen zunimmt. Dies ist besonders der Fall, wenn die Kriege, wie jene der Gegenwart und der zu erwartenden Zukunft, "Volkskriege" sind, in dem Sinne dass sie ganze Völker als solche treffen und zerstören, nicht bloss - wie die klassischen früheren Kriege - die Streitkräfte des Gegners.
Mit Lügen herbeigeredeter Irak-Krieg
Im Falle von al-Kaida kann man sich angesichts der späteren Entwicklung darüber streiten, ob der Krieg in Afghanistan gegen die Taliban und ihren Beschützer bin Laden und seiner Gruppe, das richtige Verhalten war, oder nicht. Die Möglichkeit hätte bestanden, dass die Taliban durch hartnäckigen und länger andauernden diplomatischen Druck vielleicht doch noch dazu hätten veranlasst werden können, sich von bin Laden zu lösen. Wodurch der afghanische Krieg vermeidbar geworden wäre.
Dass der auf ihn folgende irakische Krieg jedenfalls vermeidbar gewesen wäre, besteht kein Zweifel. Er wurde ja nur durch die erlogene angebliche Gefährlichkeit Saddam Husseins für die USA und für Grossbritannien absichtlich herbeigeredet. Ohne den irakischen Krieg, der die Hauptaufmerksamkeit und die grössten Mittel der amerikanischen Streitkräfte in Anspruch nahm, hätte der zuvor entfesselte aber nicht wirklich beendete afghanische Krieg möglicherweise zu einem vollen Abschluss geführt werden können.
Was nun?
Die Lehre daraus muss jedenfalls sein: Dummheiten, wie der irakische Krieg sind zu vermeiden! Doch nun, wo diese Dummheiten zu einem real existierenden "Kalifat" geführt haben, sind kriegerische Mittel, um den IS an weiteren Expansionen zu hindern und womöglich allmählich einzuschränken unumgänglich geworden. Dass Kampfflugzeuge alleine das dazu richtige Mittel seien, behaupten nicht einmal die Amerikaner.
Die vorausgegangenen Misserfolge der Amerikaner im Irak und in Afghanistan haben jedoch dazu geführt, dass sie nun, wo Bodentruppen wirklich notwendig wären, solche nicht mehr einsetzen wollen. Ein klarer und rascher Sieg über den IS käme einer schweren Schädigung der islamistischen Ideologie gleich, unter der der IS entstanden ist. Jedoch ein solcher steht nicht in Aussicht, gerade wegen der vorausgegangenen - unnötigen - Misserfolge der amerikanischen Politik der "Terrorbekämpfung".
Weiter wachsendes "Kalifat"
Ideologische und propagandistische Gegenoffensiven gab es bisher kaum. Sie könnten verstärkt werden. Doch ihre Reichweite bleibt beschränkt, solange es in der islamischen Welt - und sogar in der westlichen - Bevölkerungsteile gibt, die sich dermassen beschränkt, eingeengt, aktionsunfähig und aussichtslos fühlen und glauben, dass für sie ein Anreiz besteht, sich der Ideologie des IS zuzuwenden. Das Geschick dieser gewaltigen Masse von in Stich Gelassenen zu verändern, wäre ein entscheidender Schritt, um den IS nicht weiter prosperieren zu lassen. Doch dies kann im besten Fall eine Aufgabe sein, die Jahre wenn nicht Generationen, beansprucht.
Inzwischen bleibt die Gefahr, dass die Ideologie des Islamismus weiterwächst, flächenmässig und an Intensivität. Das noch brutalere "Kampfesverhalten" wird das brutale ausstechen. Um dieser Entwicklung entgegenzuarbeiten, bräuchte es eine Strategie der Bekämpfung und Einschränkung des IS. Bei der Anwendung von Gewalt sollte genau in Betracht gezogen werden, wieweit dies als Gegenreaktion den gewalttätigen Islamisten weiter Auftrieb verschafft. Gewalthandlungen, die mit sich bringen, dass sie zu einer Stärkung des IS und seiner Konsorten führt, sollten nach Möglichkeit unterlassen werden.
"Containment"
Gegenüber der kommunistischen Macht und ihrer Ideologie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ausbreitete, hat der amerikanische Diplomat der damaligen Zeit, 1946, George F. Kennan, "Containment" empfohlen. Dies wurde amerikanische Politik von Truman bis Reagan und bis zum Ende des Kalten Krieges von 1991.
Der Marshall-Plan war ein Teil dieser Politik. "Containment" im Sinne von Behinderung der Ausweitung und Einengung, soweit sie nicht "kontraproduktiv" wirkt (d.h. dem IS mehr nützt als ihm schadet), sollte vielleicht erneuert und den gegenwärtigen Umständen angemessen wiedereingeführt werden. Vorbedingung dafür wäre eine genauere Kenntnisnahme des Islamismus, nicht nur in seinen bisher beinahe alleine gesehenen Aspekten von "mittelalterlichem Fanatismus" und "archaischer Grausamkeit", sondern in seiner Genese und seinem Wachstum aus den Gegebenheiten, die gestern und heute in der islamischen Welt unter dem Druck der westlichen Übermacht zustande gekommen sind.