Eine Postfaschistin rechnet sich gute Chancen aus, italienische Ministerpräsidentin zu werden. Ihre Partei ist nun die Nummer zwei in Italien. Dem Faschismus will sie nicht abschwören.
Was tut jemand, der Regierungschef werden will? Er oder sie schreibt ein Buch. Das taten schon Matteo Renzi und Matteo Salvini.
Jetzt tat es Giorgia Meloni. Sie zählt Marine Le Pen und Viktor Orbán zu ihren Freunden. Mussolini gewinnt sie viele gute Seiten ab. Einige ihrer Parteimitglieder stehen weit, weit rechts und haben Verbindungen zu rechtsextremen Schlägertrupps. Manche pilgern jährlich auf das Grab von Benito Mussolini.
„Ich war dick“
In ihrem eben veröffentlichten Buch „Io sono Giorgia“ *) spricht sie über viel Persönliches. Ihr Vater habe sie verlassen, ihre Mutter wollte sie abtreiben, schreckte dann aber zurück. Im allerletzten Moment verliess sie die Abtreibungsklinik und ging in eine Bar, wo sie einen Cappuccino und ein Croissant bestellte. „So hat sie mich gerettet.“
Meloni hat Angst vor dem Ertrinken, sie hat Angst vor Kakerlaken, sie hat als Dreijährige zusammen mit ihrer Schwester das Haus angezündet (unbeabsichtigt), den Vater ihrer Tochter traf sie, als sie eine Banane schälte, sie war dick, als sie jung war, und die Jungs wollten deshalb nicht mit ihr spielen. Alles Dinge, die eigentlich niemanden interessiert. Oder eben doch.
Weg vom Schreihals-Image
Die 44-Jährige versucht – in bewährt populistischer Manier – sich ein menschliches Antlitz zu geben. Bisher wirkte sie oft cholerisch, laut, zischend – nicht sehr sympathisch. Lilli Gruber, die Starjournalistin des italienischen Fernsehens, drohte ihr mehrmals, das Mikrofon abzudrehen, wenn sie nicht endlich mit ihren aggressiven Tiraden aufhören sollte.
Selbst Ignazio La Russo, der zusammen mit ihr die Partei gegründet hatte, flüsterte ihr zu: „Du musst mehr lächeln, du bist immer sauer.“ Von ihrem Schreihals-Image will Giorgia Meloni nun wegkommen.
Die Sozialdemokraten überholt
Sie sagt nun offen: „Wozu treibt man Politik, wenn man nicht an die Macht gelangen will?“. Dem Fernsehsender Rai3 erklärte sie: „Ich bereite mich darauf vor, die Nation zu regieren.“
Giorgia Meloni ist seit 2014 Chefin der Partei Fratelli d’Italia (FdI). Der Name ist der Titel der italienischen Nationalhymne. Laut jüngsten Meinungsumfragen haben die Fratelli erstmals den sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) überholt. Gemäss der diese Woche veröffentlichten Befragung des Instituts SWG kommt die rechtspopulistische Lega auf 21,0 Prozent, Melonis Fratelli auf 19,5 Prozent, der sozialdemokratische PD auf 19,2 Prozent und die Cinque Stelle auf 16,8 Prozent.
Die Wurzeln im Neofaschismus
Natürlich kann man über Meinungsumfragen geteilter Meinung sein. Fest steht jedoch, dass Umfragen in Italien – im Gegensatz zu Erhebungen in vielen anderen Ländern – oft recht genau sind. Zudem, und das ist noch wichtiger, zeichnet sich seit Monaten eine klare Tendenz ab. Die Fratelli d’Italia legen kontinuierlich zu, und zwar vor allem auf Kosten der rechtspopulistischen Lega von Matteo Salvini und der zerfallenden Cinque Stelle-Bewegung.
Die Fratelli haben ihre Wurzeln im neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI). Dieses ging 1995 in der Alleanza Nazionale (AN) auf, die mit Berlusconi und der Lega Nord die Regierung bildete. Später fusionierte die AN mit Berlusconis Forza Italia. Das gefiel nicht allen Anhängern der Postfaschisten. Sie gründeten eine eigene Partei, eben die Fratelli d’Italia. Diese dümpelte lange Zeit vor sich hin. Und jetzt liegt sie nur noch wenige Prozentpunkte hinter der führenden Lega von Matteo Salvini.
Zur Freude der alten Faschisten
Natürlich gibt sich Giorgia Meloni als gemässigte Demokratin und wehrt sich mit Händen und Füssen dagegen, eine „Postfaschistin“ zu sein. Allerdings meldete sie sich schon mit 15 Jahren in der MSI-Zentrale in der Via della Scrofa im Zentrum Roms, um Parteimitglied zu werden.
Einmal schlug sie die Abschaffung des 2. Juni als italienischen Nationalfeiertag vor. An diesem Tag wird der Sieg über die Nazis und die Faschisten gefeiert. Dieser Tag sei „ein spaltender Feiertag“, erklärte sie zur Freude der alten Faschisten.
Viele italienische Medien bezeichnen sie als „die Marine Le Pen Italiens“. Sie wehrt sich dagegen, Viktor Orbán als Diktator zu bezeichnen. Dieser dankt es ihr und schreibt ihr: „Arbeiten wir zusammen, wir haben eine gemeinsame Vision, kämpfen wir zusammen.“ Auf Fotos sieht man, wie die beiden herzlich in die Kamera lachen.
Ob es nicht besser sei, den Kontakt zu Merkel zu suchen anstatt zu Orbán, fragte sie der „Corriere della sera“ kürzlich. Meloni weicht aus und sagt: „Wir sind nicht gegen Europa, wir sind für ein konföderales Europa, das die grossen Entscheide gemeinsam fällt und die anderen den einzelnen Staaten überlässt.“
Gegen Homosexuelle und Feministinnen
Immer spricht sie vom Vaterland und von der Familie. Sie bezeichnet sich als überzeugte Christin und ärgert sich über die „Islamisierung“ Europas. Sie spricht von einem „Massenimmigrationsprojekt“, das zum Ziel habe, das italienische Volk zu vernichten.
Oft lästert sie gegen Homosexuelle und Feministinnen. Zu Frauen hat sie ein seltsames Verhältnis. „Gibt es weibliche Solidarität?“, fragte sie der Corriere. „Nein, im Gegenteil. Frauen neigen dazu, miteinander zu konkurrieren, als ob sie in einer Meisterschaft der zweiten Liga kämpfen würden. Aber es gibt eine Solidarität unter Müttern.“
Steve Bannon, der ehemalige Berater von Donald Trump, nannte sie das „rationale Gesicht des Rechtspopulismus“. Ein andermal sagte Bannon jedoch: „Die Fratelli d’Italia sind eine alte faschistische Partei.“ Es gibt Fotos, auf denen beide freundlich in die Kamera lächeln.
Sicher ist, dass sich in ihrer Partei noch immer abgebrühte alte Faschisten, viele Neo-Faschisten und sehr viele Post-Faschisten tummeln. Einige haben Beziehungen zu den rechtsextremen Schlägertrupps der Forza Nuova, der traditionsreichen faschistischen Rechten und ihrer moderneren Variante Casa Pound.
Trotz aller wenig rühmlichen Etiketten, die man Giorgia Meloni anhängt, rechnet sie sich gute Chancen aus, bald an der Spitze des Staates zu stehen.
Schlägt dann Melonis Stunde?
Noch sitzt Mario Draghi fest im Sattel. Doch kaum jemand hier in Rom glaubt, dass er feste Ambitionen hat, möglichst lange Ministerpräsident zu bleiben. Seine Hauptaufgabe ist es, das 200-Milliarden-Hilfspaket der EU auf die Schiene zu stellen. Das tut er jetzt. Reguläre Wahlen stehen in zwei Jahren an. Es ist kaum damit zu rechnen, dass der parteilose Draghi dann kandidiert.
Schlägt dann Melonis Stunde? Natürlich möchte auch Lega-Chef Matteo Salvini Nachfolger von Draghi werden. Er sieht Melonis Aufstieg mit Argwohn entgegen. Sein rechtspopulistisches, aggressives Trommelfeuer hat sich abgenutzt. Innerhalb eines guten Jahres sind die Werte seiner Lega von 34 Prozent auf knapp 22 Prozent gefallen. Dass die Lega jetzt Teil der Regierung Draghi, des „Establishments“, ist, hilft ihm nicht. Zwar protestiert er noch ab und zu, doch insgesamt wirkt er gezähmt. Viele seiner Anhänger sind jetzt zu Meloni übergelaufen.
Clevere Meloni
Die Frage wird sein, wer im rechtspopulistischen Lager in die Pole-Position gelangt: die Fratelli oder die Lega? Wer vorne liegt, wird den Anspruch erheben, Ministerpräsident zu werden. Noch liegt die Lega knapp vorn, doch das könnte sich bald ändern.
Meloni war clever. Alle anderen grossen Partein haben sich von Mario Draghi einbinden lassen und bilden nun mit ihm die neue Regierung. Einzig Melonis Fratelli gingen in die Opposition.
Ein „entspanntes Verhältnis zum Faschismus“
Dass Draghis Kurs früher oder später auch kritisiert wird, war abzusehen. Der Enthusiasmus, der ihm am Anfang entgegenschlug, kühlt sich bereits merklich ab. Einzige Profiteurin ist Meloni, die Draghis Kurs nicht mitträgt. „Eine Regierung braucht eine Opposition“, sagt sie jetzt. Sie denkt schon darüber nach, Draghi als Staatspräsidenten zu unterstützen – und selbst sieht sie sich dann als Ministerpräsidentin. Die Amtszeit von Staatspräsident Sergio Mattarella läuft Anfang des nächsten Jahres aus. „Ich bin alt“, sagte er am Mittwoch. „In acht Monaten kann ich mich ausruhen.“
Sie habe ein „entspanntes Verhältnis zum Faschismus“, sagt Giorgia Meloni offen. Noch nie hat sie sich öffentlich von ihm distanziert. Das ist offenbar kein Problem in einem Land, das seine Vergangenheit noch immer nicht richtig aufgearbeitet hat.
*) Giorgia Meloni: „Io sono Giorgia, le mie radici, le mie idee“. Rizzoli, 336 Seiten, Mai 2021