Zur Tücke des Zeitgeistes gehört, dass er uns periodisch mit bestimmten Wörtern und Wendungen infiltriert, die, kaum machen wir den Mund auf, automatisch über unsere Lippen fliessen. Man hört sie überall, im Bus, im persönlichen Gespräch, im Fernsehen, und plötzlich merkt man, dass einem selbst die Zunge übergeht mit ihnen. In Anlehnung an das Phänomen der Glossolalie, also des ekstatischen Zungenredens in fremden Sprachen oder in Wortneubildungen, drängt sich hier eine nahe liegende Diagnose auf: Floskolalie – das Lallen in Floskeln.
Bedeutungsschwer
Ich greife ein aktuelles Beispiel auf. Wo ein Mikrophon eingeschaltet ist, vernimmt man über kurz oder lang die Wendung „Ich denke“. Der Verkehrspolitiker: „Ich denke, man muss irgendwo im Verkehr aufpassen“. Die Justizdirektorin: „Ich denke, dass die Justiz primär dem Recht verpflichtet ist.“ Der Fussballtrainer: “Ich denke, das Tor mehr hat unserer Mannschaft zum Sieg gereicht“.
Ein performatives Paradox
Wird heute mehr gedacht als früher? Nicht wirklich. Dass eine Person denkt, sollte man ja daran erkennen, was sie sagt. „Ich denke“ ist also verbales Make-up. Die Logiker haben dafür einen adretten Ausdruck: Performatives Paradox. Man tut gerade das nicht, was man sagt, man tue es. Mit Floskeln solcher Art verschafft man sich freilich eine Poleposition im „Diskurs“. Speziell unter Intellektuellen, denn die Floskolalie ist seit je vorzugsweise in diesen Kreisen endemisch. Ein Klassiker ist z. B. der Optativ wie „Ich würde meinen, dass ...“ oder „Ich würde einmal die These wagen, dass...“ usw. Spitzmündig oder kinnreibend vorgetragen, lassen solche Eröffnungen sofort erahnen, dass da doch grosse Vorräte gut abgehangenen akademischen Wissens im Hinterhalt lauern, die einen davor bewahren, sich einfach so ordinär aufs Behaupten zu verlegen.
Zeitgeistige Selbstinszenierung
Floskeln gehören zum Standardarsenal der zeitgeistigen Selbstinszenierung. So gesehen eignen sie sich auch als Leitfossilien abgedankter Zeitgeister. Man erinnert sich: Es gab ja auch mal gefühligere Tage, jene der Latzhosen und selbstgestrickten Wollpullover, wo man weniger dachte und sich umso mehr überall „einbrachte“. Da war eine andere Wendung im Schwang: „Duuu, ich weiss nicht, aber irgendwie scheinst du mir heute so sonderbar zu sein“. Das ankuschelnde „Du“ im Verein mit dem schlingernden „irgendwie“ markierte „Betroffenheit“ angesichts der Vertracktheit der Sache oder Person.
Heute zählt nicht das Du, sondern das Ich. Das selbstbewusst-forsche „Ich denke“ setzt den persönlichen Standpunkt als Podest in die Weltmitte. Es eignet sich vorzüglich für den öffentlichen Auftritt. Schon eine kleine alltägliche Probe aufs Exempel genügt: Man setze vor irgendeine Banalität das „Ich denke“ und flugs hat man sie mit Tiefsinn unterkellert. „Das Tram nach Wabern kommt in zwei Minuten“ und „Ich denke, das Tram nach Wabern kommt in zwei Minuten.“ Welch ein Unterschied! Mit dem zweiten Satz outet man sich als profunder Experte der Berner Verkehrsbetriebe: Man gibt zu verstehen, dass man mit eventuellen Leitungsstörungen oder anderen Behinderungen rechnet; oder dass man ein Gespür für die Komplexität des Fahrplans hat; vielleicht lässt man auch den feinen ironischen Stachel heraus, dass der öffentliche Verkehr um einiges verbessert werden könnte.
Floskeln kleiden Leute
„Ich denke“ war einmal eine stolze Kampfvokabel, eingesetzt zur Befreiung des Menschen aus der Bevormundung durch fremde Autoritäten. Aber Befreiung ist ein stotziger Hang, wir rutschen auf ihm immer wieder ab. „Es ist unglaublich, wie viel unsere besten Wörter verloren haben, das Wort ‚vernünftig’ hat fast sein ganzes Gepräge verloren“, schrieb der grosse Aphoristiker der Aufklärung, Georg Christoph Lichtenberg, „man weiss die Bedeutung, aber man fühlt sie nicht mehr wegen der Menge von vernünftigen Männern, die den Titel geführt haben.“ Es ist unglaublich, möchte man Lichtenberg sekundieren, wie viel heute öffentlich „gedacht“ wird und wie das Wort „denken“ fast sein ganzes Gepräge verloren hat. Die Floskolalie des Denkens grassiert. Die Pose des Denkenden genügt da, wo der Auftritt genügt. Also überall. Floskeln kleiden Leute. Ich lalle Leerformeln, ergo denke ich. Das hat der letzte „denkende“ Leerkopf begriffen.
Denken: sich in Gedanken wiegen
„Leerformeln sind normal“, tönt es aus der Kommunikationsberaterecke. Gewiss. So normal wie der Mummenschanz, in dem sie wuchern. Mit Debriefing – Manöverkritik – als Therapie empfehlen sich uns die Experten. Winken wir sie ab. Gehen wir doch einfach ein bisschen in Wörterbüchern stöbern. Man findet dann etwa, dass Denken, vom Wortstamm her betrachtet, zu tun hat mit Wiegen. Sich in Gedanken wiegen. Den Mund halten. Wunderschön! „Man muss zuweilen wieder die Wörter untersuchen; denn die Welt kann wegrücken und die Wörter bleiben stehen.“
Ich denke, Lichtenberg hat sich bei diesem Satz wirklich etwas gedacht.