Vor zwanzig Jahren hatte er sich in die 40 Jahre jüngere Xuan verliebt, die ihm zwei Kinder gebar. Es war die große Liebe seines Lebens. Als er sich zu seiner Beziehung öffentlich hatte bekennen wollen, schritt die Partei ein. Das Politbüro verbot ihm, Informationen über sein Privatleben publik zu machen, und arrangierte die brutale Ermordung Xuans und ihrer Schwester Dong. (Die Namen bedeuten Frühling und Winter.) Nun, in den letzten Tagen seines Lebens und zu seiner Sicherheit in einer unterirdischen Anlage hoch oben in den Bergen einquartiert, fühlt sich der Altrevolutionär und Unabhängigkeitsheld von der Partei , die er einst selbst gegründet hat, verraten. Er grübelt über diese lange zurückliegenden Ereignisse und beklagt sein Versagen, dass er sein eigenes und das Schicksal Vietnams den Mördern überlassen hat. Tran Vu, sein einziger Vertrauter, sorgt für seine Kinder, und Dongs Witwer, ein Kommandeur An, sucht Rache.
15 Jahre recherchierte die vietnamesische Autorin Duong Thu Huong für den Roman „ Đỉnh Cao Chói Lọi“, der im Westen unter dem Titel „Im Zenit“ auf den Markt kam. Es ist eine fiktive Erzählung. Doch die Parallelen zu Ho Chi Minh, dem geliebten „Onkel Ho“, dem zölibatären „Vater der Revolution“, der natürlich nur mit seinem Land vermählt sein konnte und natürlich an Vietnams Unabhängigkeitstag (2. September) verstarb, sind unverkennbar. Zwar ist bekannt, dass Ho Chi Minh, damals noch unter dem Pseudonym Nguyen Ai Quoc , Mitte der zwanziger Jahre einer Gruppe von vietnamesischen Kadetten an Chiang Kai-Sheks Whampoa Militärakademie vorstand und dort 1926 die Chinesin Zeng Xueming heiratete. Doch diese Ehe wurde von der vietnamesischen Regierung nie anerkannt, obwohl die Frau des späteren chinesischen Premiers Zhou Enlai damals als Trauzeuge fungiert hatte. Auf der Flucht vor Chiangs antikommunistischen Säuberungen 1927 verlor Nguyen seine Frau aus den Augen. Er sah sie nie wieder.
Im Krieg gegen die Amerikaner
Es ist nicht Duong Thu Huongs erstes Buch, das den vietnamesischen Zensoren missfällt. Sie war Mitglied der kommunistischen Partei, bis sie aus der Partei ausgeschlossen und als Dissidentin beschimpft wurde. Ihre Eltern waren „bürgerlich“, wie sie sagt, die Mutter Kindergärtnerin, der Vater „Funker auf einem französischen Schiff“. Immerhin schloss sich der Vater 1949, zwei Jahre nach ihrer Geburt in der nordvietnamesischen Provinz Thai Binh, den Vietminh an. Nach dem Sieg über die französische Kolonialmacht erhielt er als Experte für Kommunikationswesen Arbeit bei der Post in Hanoi.
Mit 16 schloss sie sich einer fahrenden Theatergruppe an, wo ihr Show-Talent entdeckt wurde. Zu Beginn des „Kriegs gegen die Amerikaner“, wie er in Vietnam genannt wird, 1964, wurde sie in die Berge Zentralvietnams geschickt, um dort in Sicherheit vor Bombenangriffen ein Schauspiel- und Tanzstudium abschließen zu können. 1968 erhielt sie das Angebot, in der Sowjetunion, der DDR oder in Bulgarien zu studieren. „Doch ich entschied mich, das Studium abzubrechen und an die Front zu gehen, weil sich unser Land im Krieg befand, und meine Vorfahren immer für unser Land gekämpft haben.“ Die folgenden sieben Jahre pflegte sie mit einer Theatergruppe in den Tunnels und Bunkern des Ho-Chi-Minh-Pfads Verwundete, begrub Gefallene und führte vor Soldaten „traditionelle Tänze auf“ oder sang, „um die Moral zu heben“, wie sie sagt. „Unser Slogan war: ‚Unsere Lieder sind lauter als die Bomben.‘“ Seither ist sie infolge einer Bombenexplosion auf dem rechten Ohr taub.
Drehbücher und schlechte Filme
1975 erreichte sie mit den siegreichen vietnamesischen Truppen Saigon, wo sie Onkel, Tanten, Nichten und Neffen wiederfand, insgesamt vierzig Familienmitglieder, die allesamt 1954 bei der Teilung des Landes nach Süden gezogen waren. Sie war schockiert, als sie realisierte, dass die Besiegten besser lebten als die Sieger. Dennoch eröffneten ihr die Verwandten sofort: „Wir verschwinden, ganz gleich, was uns das kostet:“ Sie verkauften alles, was sich zu Geld machen ließ, Schmuck, Gold, Land, Bücher, Möbel.“ Im Verlauf der folgenden 15 Jahre versuchten diese Familienangehörigen viermal, per Schiff zu emigrieren. Viermal seien sie festgenommen worden. Erst 1990 hatte es auch der Letzte unter ihnen geschafft, ins Ausland zu gelangen.
Duong Thu Huong war indes nach Hanoi zurückgekehrt, wo sie für die staatliche Filmgesellschaft „fünf Drehbücher schrieb, aus denen sie schlechte Filme machten.“ Um das magere Gehalt aufzubessern, verdingte sie sich bei einer Gruppe von Offizieren als Ghostwriter einer Geschichte des Vietnamkriegs. „Die Generale diskutierten untereinander, wie mein Text zu korrigieren sei, um ihren Interessen entgegenzukommen.“ Immerhin erledigte sie den Job offenbar zur Zufriedenheit, denn 1979 wurde sie aufgefordert, der Partei beizutreten. Sechs Jahre lang dachte sie darüber nach, ehe sie 1985 Parteimitglied wurde. Freunde, die auf ihre Hilfe zählten, hätten sie dazu gedrängt, erzählt sie heute.
„Verräterin“ und „Dissidenten-Schlampe“
Damals schrieb sie noch oft patriotische Texte. Als 1979 China angriff, schrieb sie anti-chinesische Traktate, half erneut Verwundeten, sang in den Gefechtspausen für die Verteidiger und drehte an der Front Dokumentarfilme von den Kämpfen. Dieser freiwillige Einsatz brachte ihr aber nicht mehr Freiheit. Zwar wurde ihr im selben Jahr veröffentlichter erster Roman „Jenseits der Illusionen“ mit über 100 000 verkauften Exemplaren ein Verkaufsschlager.
Doch als 1988 das „Paradies der Blinden“ herauskam , ebenfalls ein Bestseller, „begannen die Probleme“, sagt sie mit beinahe naivem Understatement. Ihre schonungslose Schilderung der 1953 nach dem chinesischen Vorbild durchgeführten Landreform in Nordvietnam, in deren Verlauf Tausende Bauern und Landbesitzer als „Ausbeuter“ umgebracht wurden und als warnende Beispiele am Strassenrand verrotteten, brachte Parteiführung und Funktionäre auf. Der Generalsekretär der Partei, Ngyuen Van Linh, bot mir ein Haus an, wie es sonst nur Ministern vorbehalten war, wenn ich den Mund halten würde“, erzählt sie. Sie lehnte ab, sie kämpfe für Demokratie und könne ein solches Angebot niemals annehmen. „Das verstösst gegen meine Ehre.“ Daraufhin verboten die Funktionäre jede weitere Veröffentlichung ihrer Werke. Sie wurde als „Verräterin“ oder „Dissidenten-Schlampe“ beschimpft.
Parteiausschluss und Haft
Dabei sind ihre Romane keine politischen Pamphlete, das Leitmotiv ist immer die Desillusion von Menschen, deren Schicksal von Umständen und Ereignissen bestimmt wird, über die sie nicht die geringste Kontrolle haben. „Man liest es sicher des politischen Zusammenhangs wegen“, schrieb der Rezensent der New York Times vor Jahren über ihr Buch „Erinnerungen an einen reinen Frühling“, „aber mehr noch wegen der Tiefe und Komplexität seiner Charaktere, die darum ringen, sich selbst zu definieren in einer Welt, die immer noch alles und jeden in die eine oder andere ideologische Schublade steckt.“
Als sie dann auch noch eine Rede „Die Partei sollte dem Volk danken“ für den Kongress der Vietnamesischen Autoren schrieb, wurde sie auch wieder aus der Partei ausgeschlossen und verlor ihren Job als Drehbuchautorin bei der vietnamesischen Filmgesellschaft. Zwei Jahre später wurde sie unter dem Vorwurf, geheime Dokumente ins Ausland verkauft zu haben, verhaftet, doch „nach sieben Monaten auf Druck von Mme. Danielle Mitterand und für 95 Millionen Francs französische Wirtschaftshilfe, die M. (Roland) Dumas bezahlte“, freigelassen. Die geheimen Dokumente waren ihre Manuskripte. Klar, dass ihre nächsten drei Bücher „Roman ohne Titel“, „Erinnerungen eines reinen Frühlings“ und „Niemandsland“ nicht offiziell veröffentlicht wurden. Doch so wie nahezu alle verbotenen oder zensierten Bücher in Vietnam, so werden auch Duong Thu Huongs Titel als Raubkopien beinahe unbehelligt von den Behörden von fliegenden Händlern oder unter dem Ladentisch angeboten.
Die Bedeutung der Parteilinie
1994 war es wieder die damalige First Lady Frankreichs, die ihre Ausreisegenehmigung erreichte, so dass sie in Paris zum „Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres“ ernannt werden konnte. Das angebotene Asyl lehnte sie dankend ab: „In meinem Land zerschmettert die Furcht alles, tapfere Soldaten sind feige Zivilisten geworden. Darum muss ich zurück. Ich kehre zurück, um dem Regime ins Gesicht zu spucken.“ Die Behörden zogen ihren Pass ein, die folgenden elf Jahre durfte sie Vietnam nicht verlassen.
“Vor ihrer Verhaftung 1991 waren ihre politischen Aktivitäten Duong Thu Huongs Hauptproblem mit den Behörden, nicht ihre Schriftstellerei“, meint Nina McPherson, die ihre Werke ins Amerikanische übersetzt. „Vor ihrem Parteiausschluss bestanden ihre politischen Aktivitäten überwiegend aus Reden auf offiziellen Kongressen der Autorengewerkschaft oder Beiträgen und Interviews in ebenso offiziellen Kulturzeitschriften.“ Zu bestimmten Zeiten „waren ihre Beiträge – Kritik der Bürokratie, der Korruption und der intellektuellen Feigheit – sogar Mainstream-Rhetorik, die Parteisekretär Nguyen Van Linh selbst förderte.“
So wurde ihre Kritik gelegentlich akzeptiert und zu anderen Zeiten zensiert, je nach der aktuellen Parteilinie. Anfang der achtziger Jahre waren ihre Kurzgeschichten, vor allem die „Liebesgeschichte, erzählt vor dem Morgengrauen“, von der 120 000 Exemplare verkauft wurden, immens populär. Schon zwischen 1982 und 1985 standen ihre Werke einmal auf dem Index. Zwischen 1985 und 1987 durfte sie wieder veröffentlichen. Damals drehte sie mit eigenen Mitteln und der Unterstützung von Freunden und unter Mitarbeit von Kollegen des Dokumentarfilmstudios von Hanoi auch einen Dokumentarfilm, „Le Sanctuaire des Désespoires“, über die unmenschlichen Bedingungen in einem Lager für 600 bis 700 „geistesgestörte“ Kriegsveteranen. 1990, der Film war immer noch nicht entwickelt, brachen Beamte der Sicherheitspolizei auf Befehl Nguyen Van Linhs in ein Privatlabor in Ho-Chi-Minh-Stadt (ehemals Saigon) ein und zerstörten den Film mit Säure.
Emigration
2005 gaben ihr die Behörden auf Drängen der italienischen Botschaft den Pass zurück. Doch nach einigen Wochen, die sie in Italien und Frankreich verbracht hatte, kehrte sie wieder nach Hanoi zu ihren beiden Kindern und vier Enkelkindern zurück. „Ich werde weiter schreiben“, sagte sie. „Ich bin eine Idealistin und Idiotin.“
Sie war “schon lange bankrott” räumte sie ein. Im Internet inserierte sie als Übersetzerin und versuchte, ihre Romane und Kurzgeschichten wenigstens im Ausland zu veröffentlichen. Dennoch beharrte sie darauf, Gäste oder Journalisten auf ihre Kosten in ein Café zu führen: „"Die Mächtigen haben sich an mich gewöhnt. Aber sie kontrollieren immer noch mein Telefon und meine Post und hören mich ab. Zudem sind wir hier in meinem Land, da bezahle ich.“ Ein Jahr später gab sie ihren Kampf gegen die vietnamesischen Windmühlen doch auf und emigrierte nach Paris.