Epilog. Ein Mann kämpft in einem blutrot gefärbten Wassersturm ums nackte Überleben. Das Kamerabild torkelt, steht kopfüber und sekundenschnell wird klar: Da wird einer von Ertrinkungsphobien gefoltert. So hochdramatisch beginnt das Dreistunden-Epos „Berlin Alexanderplatz“, die zweite Kinoverfilmung von Alfred Döblins voluminösem und komplexem Meisterroman von 1929.
Dort wird von Franz Biberkopf, einem einfachen Mann, erzählt, der „in Berlin am Alexanderplatz als Strassenhändler steht. Der Mann hat vor, anständig zu sein, da stellt ihm das Leben hinterlistig ein Bein. Er wird betrogen, er wird in Verbrechen reingezogen. Zuletzt wird ihm seine Braut genommen (…)“. So zu lesen im Umschlagtext der Buch-Erstausgabe.
Franz wird Francis
Was hat der Strassenhändler von anno domini mit dem Überlebenden einer Schiffshavarie zu tun, der an einem europäischen Ufer strandet, neunzig Jahre später? Vieles – aber ganz anders eingeführt. Weil Burhan Qurbani, 1980 als Sohn afghanischer Flüchtlinge in Deutschland geboren und aufgewachsen, einen erratischen Block der Weltliteratur neu arrangiert und in die Jetztzeit transponiert hat.
Aus dem Berliner Franz wird Francis, ein afrikanischer Migrant aus Guinea-Bissau. Einer von Abertausenden also, die in den letzten Jahren ihre Heimat auf dem Seeweg verlassen haben, weil sie sich anderswo ein besseres Leben erhoffen. Um dann wie Francis zum Beispiel in Berlin zu landen und vor Ort drastisch zu erkennen, dass es mit der wohlwollenden „Willkommenskultur“ nicht so weit her, ja dass sie eine Schimäre ist.
Als Illegaler haust der junge Mensch in einer schäbigen Unterkunft mit integriertem Bordell. Er arbeitet schwarz auf Baustellen für wenig Lohn, ohne soziale Absicherung, permanent dem Druck von windigen Handlangern des organisierten Verbrechens ausgesetzt, die ihre Zöglinge mit wenig Zuckerbrot und viel Peitsche auf Trab halten. Und wer aufmuckt, kriegt Probleme, bis hin zur Versklavung.
Gedankenexperiment mit Wirkung
„Die Idee, den Roman zu verfilmen, begann als ein Gedankenexperiment: Das Spiel mit einer Neuinterpretation und Aktualisierung eines Buches, das ich zugleich liebte und hasste.“ Für Qurbani wie für viele andere gehörte Döblins Text zur anspruchsvollen und überfordernden Schul-Pflichtlektüre. Dennoch: Aus dem „Gedankenexperiment“ wurde ganz grosses Kino. Weil er den Stoff auf seine Zeitlosigkeit hin untersucht hat und etwas aktuell Eigenes aus ihm herausdestilliert.
Erstaunlich ist das nicht. Qurbani debütierte 2010 mit „Shahada“, einem Drama um junge Muslime in Berlin, deren Wert- und Glaubens-Vorstellungen ins Wanken geraten. Es folgte der Spielfilm „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2014), die Chronik um Brandanschläge auf ein Asylbewerberheim in Rostock. „Berlin Alexanderplatz“ nun ist sein bislang grösster Wurf, in dem formale Kreativität und die Sichtbarmachung sozialkritisch-aktueller Fragestellungen dramaturgisch überzeugend zusammenfinden.
Keiner im hellen Licht und die meisten im Schatten
Qurbani lockt das Publikum sofort dorthin, wo vom nahegelegenen Berliner Machtzentrum und dem urbanen Schick kaum etwas zu sehen ist. Inszenatorisch furios, mit flashartig-pulsierenden Bildkaskaden zu süffigen Sound-Arrangements katapultiert er die Story ins verschattete Milieu der Klubszene, wo es um Glücksspiel, Prostitution, Drogen, kriminelle Aktionen geht. Weitere Schauplätze sind schäbige Migrantenunterkünfte oder ein Park, wo Dealer um ihre Klienten buhlen.
In dieser hyperaktiven Gegenwelt, wo keiner im hellen Licht steht und die meisten im Schatten, muss sich Francis (ein Bild von einem Mann, aber von einer bubenhaften Naivität umflort) bewähren. Dass er dabei keine Paradiesvögel kennenlernt, aber viele Kakerlaken, ist klar. Und dass er dunkelhäutig und der deutschen Sprache nicht mächtig ist, macht die Sache im harten Milieu-Alltag nicht einfacher.
Döblin, Fassbinder, Qurbani
Einen Franz Biberkopf wie diesen Francis hat es zu Döblins Zeiten nicht gegeben, in der swingenden Aufbruchsstimmung nach dem Ersten Weltkrieg, in den sogenannten Goldenen Zwanziger Jahren. Und auch nicht am Vorabend des nationalsozialistischen Schreckensregimes ab 1933 unter Adolf Hitler und des Zweiten Weltkriegs. Vieles, was Döblin in seinem Buch (und als Skriptautor der ersten Verfilmung von 1931) notierte, hat etwas beklemmend Vorausahnendes. Was auch daran lag, dass er als Psychiater ein offenes Ohr hatte für die Meinungen und seismographischen Wahrnehmungen von sogenannt kleinen Leuten und Abgehängten, deren Schicksal ihm am Herzen lag.
Davon ist etliches in Qurbanis Recherche und Spurensuche zu „Berlin Alexanderplatz“ eingeflossen. Wie wohl auch Erkenntnisse aus der neueren Berlin-Historie: Filmkünstlerisch war bestimmt die aufwändige, famose 15-Stunden-„Berlin Alexanderplatz“-Serie ein Kompass, die der deutsche Theater- und Filmberserker Rainer Werner Fassbinder 1980 realisierte (und deren immense Qualität weitherum verkannt wurde; schon deshalb, weil die Exzellenz der Produktion auf den damals gängigen TV-Geräten nur partiell zur Geltung kam).
Zum andern interessierte Qurbani die gesellschaftspolitische Entwicklung seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 mit dem Ende der DDR und der Installation der Deutschen Einheit. Seitdem ist Berlin Hauptstadt eines demokratischen Staates, der sich zu Europa bekennt, in der globalisierten Weltordnung eine starke Stimme hat und noch multikultureller geworden ist. Qurbani verweist darauf, braucht dazu aber nicht die grosse Kulisse, sondern legt im Döblin’schen Sinne frei, was quasi im Sous-Sol der Metropole abgeht.
Im Bannkreis eines „Menschenlesers“
Dort also, wo der Afrikaner Francis neues Glück sucht. Er, der dem Tod von der Schippe gesprungen ist und daraufhin geschworen hat, ein Guter zu werden. Doch weil das Leben weder Ponyhof noch Ringelspiel ist, schlittert er bald wieder in sumpfige Gefilde, muss akzeptieren, dass er als Underdog in einem ausgeklügelten kriminellen System nichts zu bestimmen hat. Sondern bei dem mitmachen muss, was seinen Ausbeutern fette Zugewinn einbringt.
Qurbani stellt seinem sympathischen Protagonisten einen Widerpart gegenüber, wie man ihn selten zu sehen bekommt: Reinhold mit der Fistelstimme, ein Kobold, körperlich seltsam verrenkt. Er ist ein psychopathischer Verführer und hinterhältiger Schmeichler, der indessen über eine stupende Fähigkeit verfügt: Als „Menschenleser“ weiss er sein Gegenüber zu analysieren und dessen Schwachstellen zu orten. Und wie ein Reptil gnadenlos zuzuschlagen, wenn vorgegebene Regeln nicht eingehalten werden. Oder ihm die Beute zu entrinnen droht.
Im Labyrinth der düsteren Männerwelt
Francis hat es Reinhold fatalerweise angetan, weil er im fremden Andern einiges entdeckt, was ihm selber fehlt: Intelligenz, Charme, die Fähigkeit zu Empathie und Gefühlsregungen. Vor allem auch in Bezug auf Frauen – die für Reinhold nur Werkzeuge sind. Doch am meisten Sorge macht dem Fiesling, dass der hierarchisch über ihm stehende, ältere Ganove Pums (präzise gespielt von Joachim Król) einen wie Francis gerne in seiner Entourage integrieren möchte; das gilt es zu verhindern!
Burhan Qurbani lotst das Publikum tief hinab in eine labyrinthische, düstere, testosteronhaltige Männerwelt. Da muss man einiges aushalten angesichts der naturalistischen Zurschaustellung der Duelle zwischen Reinhold und Francis, der bar aller Vernunft vom perversen, rassistischen, sexistischen Psychopathen nicht lassen kann. Oder will? Denkbar, denn es reift die Vermutung, dass der Traumatisierte sich eine Metamorphose zum wirklich Besseren nur noch um den hohen Preis einer masochistischen Überlebens-Strategie überhaupt vorzustellen vermag. Burhan Qurbani konzentriert sich fast beängstigend drastisch porentief auf die Visualisierung dieses Machtspiels.
Aufbauendes findet sich in diesem Katz-und-Maus-Spiel selten, doch ab und an eine Prise schwarzer Humor. Etwa dort, wo von Francis – der jetzt Franz genannt sein will – verlangt wird, eine Werbe-Ansprache vor Migranten zu halten: „Schaut mich an, ich bin hier: schwarz, stark, furchtlos. Ich habe eine teure Jacke an, ich fahre ein deutsches Auto, ich habe eine deutsche Freundin. Ich bin der deutsche Traum. Ich bin Deutschland.“
Exzellentes Schauspiel-Duo
Provokante, selbstbewusste, vielleicht selbstironische Worte sind das in einem schier atemlosen Handlungsstrom, der Serie-Noir-Thriller, Psycho-Drama und vertrackte Love-Story in einem ist. Von Burhan Qurbani virtuos choreografiert und mit einem exzellent disponierten Interpreten-Duo besetzt: Zum einen ist da der sensitive Newcomer Welket Bungué. 1988 in Guinea-Bissau geboren, ist er als Künstler für verschiedene portugiesische Theater-Ensembles tätig, spielt in Film- und Fernseh-Produktionen und realisiert eigene Filme. „Berlin Alexanderplatz“ ist Bungués erster Auftritt in einer deutschsprachigen Produktion; eine anspruchsvolle Herausforderung, die der Akteur dank seiner natürlichen, gewinnenden Ausstrahlung mit Bravour meistert.
Als Reinhold präsentiert Qurbani einen der aktuell gefragtesten, charismatischsten deutschen Schauspieler: Albrecht Schuch. 1985 geboren wurde er 2010 ins Ensemble des renommierten Maxim Gorki Theaters Berlin aufgenommen. Seitdem hat man ihn auch auf anderen wichtigen Bühnen sehen können, so am Wiener Burgtheater. Die erste Kino-Hauptrolle spielte Schuch bei Detlev Buck in der Buchverfilmung „Die Vermessung der Welt“ (2012). Und im Fernsehen brillierte der preisgekrönte Mime zum Beispiel in der Erfolgsserie „Bad Banks“ oder im bestechenden Geiseldrama „Gladbeck“.
Frauen als Schutzengel
In „Berlin Alexanderplatz“ dominieren eindeutig Männer, obwohl der geschilderte Halbwelt-Kosmos ohne Frauen an sich eigentlich undenkbar ist. Wenn man in Qurbanis nahezu perfektem Gesamtkunstwerk „Berlin Alexanderplatz“ etwas vermisst, dann die Präsenz von tragenden Frauenfiguren. Wenngleich Burhan Qurbani für die Auflösung seines wahn-sinnigen Plots doch noch auf zwei interessante, schutzengelartige, weibliche Charaktere setzt.
Wie bei Alfred Döblin kommt dabei die „Mieze“ ins Spiel. Bei Qurbani zum Ende hin, als blonde, kernige, eigenwillige und geerdete Sexworkerin, die von sich selber sagt, dass sie nicht aus Zucker sondern aus Marmor sei. Fürsorglich und aus reiner Liebe wird sie zum Schutzengel des mittlerweile auch körperlich arg geschundenen Franz – ohne erkennbare Furcht vor der diabolischen Zerstörungswut des gemeinsamen Gegners Reinhold.
Jella Haase (27) spielt die „Mieze“ mit neugierig machendem Understatement sehr plausibel; sie ist eine Actrice, der man gerne noch länger zugeschaut hätte. Selbiges gilt auch für Annabelle Mandeng (49), die als geheimnisumflorte Nachtklub-Chefin Francis, der sich nun Franz nennt, ebenfalls herznah verbunden ist. Gut, dass die kraftvolle Darstellerin im Epilog des Films die Chance bekommt, feinfühlig einen überraschend anrührenden Hoffnungs-Funken zu zünden – frei von Kitsch und falschem Pathos.
Passionsspiel, Fresko, Crimeplot
Der Vielschichtigkeit des Gesehenen ist zu entnehmen, dass es Burhan Qurbani nicht darum geht, das Publikum mit einer bequemen Botschaft in die Realität zu entlassen. Doch was ist sein „Berlin Alexanderplatz“ denn? Er sagt dazu: „Ein Passionsspiel vom Opfer und der Erlösung. Was uns durch den Film führt, ist der Crimeplot, der auch den Roman strukturiert. Aber was uns anzieht und an der Geschichte packt, ist die seltsame, furchtbar zerstörerische Ménage-à-trois zwischen den Geliebten Franz und Mieze und dem mephistophelischen Reinhold. Das ewige Zerren von Liebe und Tod um die menschliche Seele. Wie die drei Teile eines Triptychons. Der Versuch eines filmischen Freskos.“
Passt. Weil Burhan Qurbanis energiegeladene Adaption von Alfred Döblins Jahrhundertroman „Berlin Alexanderplatz“ zeigt, dass das Medium Film weiterhin eine Kraftquelle der Emotionen ist. Und das Kino der Kraftort für ihre Entfaltung.