„I weiss nid, was es isch … Weiss de niemmer, was es isch?“, singt der Berner Chansonnier Stephan Eicher. Der Song, aus dem die Zeilen stammen, hat er 2007 auf dem Album „El Dorado“ erstmals veröffentlicht. Ein Jahrzehnt später ist er jetzt das Leitmotiv des vorzüglichen Filmessays über die jenische Musikkultur in der Schweiz: „Unerhört Jenisch“.
Stephan Eicher als Gallionsfigur
Im Film von Karoline Arn und Martina Rieder ist Stephan Eicher mit seinem gepflegten Gitano-Image so etwas wie die Gallionsfigur. Aber ihm wird nicht über Gebühr hofiert. Die Kapitäne und Steuermänner auf dieser Kreuzfahrt ins Innere des Jenischen sind Männer und Frauen aus der ländlichen Musiker-Gemeinschaft im Bündnerischen, von der Grosseltern- bis zur Enkelgeneration.
Mit dabei ist auch Eichers Bruder Erich. Der Jurist ist Amateurmusiker und wird im Film zum Familienchronisten. Er will endlich Klarheit haben, ob seine Familie tatsächlich jenische Wuzeln hat, wie man das schon länger vermutete. Vater Eicher – ein hervorragender Musikant – ging der Diskussion mit den Söhnen darüber stets aus dem Weg. So studiert Erich jetzt Familienbücher und Stammbäumen und findet in der Tat eine jenische Urgrossmutter aus dem Bündnerland und Verbindungen zum legendären blinden Geiger Fränzli Waser (1858–1895), dessen Lieder heute als „Fränzli-Musik“ bekannt sind.
Der Adlerhorst der jenischen Musik
Die Dörfer der Bündner Gemeinde Obervaz auf rund 1500 Metern über Meer sind so etwas wie Adlerhorste der jenischen Musiker-Gemeinde. Hier sind die Nachfahren der Mosers oder der 1856 eingebürgerten Wasers und Kolleggers zu Hause. Sie spielen in Kapellen wie den „Moser Buaba“, den „Vazer Buaba“, den „Bündner Spitzbueba“. Sie musizieren, reden über sich, ihre Historie. Was nicht selbstverständlich ist: Im selben Mass nämlich, wie die rhythmische, energiegeladene Musik pulsierend ansteckend daherkommt, reagieren manche Jenische reserviert, zuweilen sogar abweisend, wenn sie von Dritten auf ihre Abstammung angesprochen oder gar darüber ausgefragt werden.
Verständlich, denn für Skepsis und Misstrauen gibt es Gründe. Auch in der Schweiz mussten Jenische viele Jahrzehnte lang erfahren, dass man sie etwa als Handwerker, Spielleute und Unterhaltungskünstler tolerierte. Aber immer auch als unzuverlässige Vaganten, Zigeuner, gar minderwertige Mitbürger diffamierte.
Dunkles Kapitel
Geschätzte 30‘000 Schweizerinnen und Schweizer sind jenischer Abstammung, also Nachfahren reisender Bevölkerungsgruppen. Ihre exakte Herkunft ist wissenschaftlich nicht gesichert. Heute sind die meisten Jenischen sesshaft, ihre Kultur aber ist weiterhin von Legenden und Mythen umrankt und sie müssen mit Vorurteilen leben. Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein hatten sie unter obrigkeitlich verordneten Diskriminierungen zu leiden, die in schändlichste Demütigungen mündeten: Zwischen 1926 und 1973 wurden, mitunter aufgrund fragwürdiger psychiatrischer Gutachten, rund 600 Kinder ihren Eltern entrissen, zwangsversorgt, an Pflegefamilien übergeben. Viele Familienbande wurden so unselig zerschnitten.
Aus erster Hand erfährt man in „Unerhört Jenisch“ einiges vom Punk-Rocker Chris More alias Christian Mehr, dem Sohn der jenischen Schriftstellerin Mariella Mehr. Seine Oral-History-Aussagen zeugen zusammen mit denjenigen von weiteren Protagonistinnen und Protagonisten des Films von traumatischen Erfahrungen Betroffener oder ihrer Nachkommen, die bis ins Jetzt nachwirken.
„Unerhört Jenisch“ ist nicht auf diese Problematik zentriert, vielmehr integrieren die Regisseurinnen Informationen zu diesem Thema ohne alibihafte Bemühtheit oder Effekthascherei in ihren Film. Wenn der Anspruch war, so etwas wie eine Auslegeordnung vorzunehmen und in Kenntnis der historischen Malaise die quirlig-lebensbejahende Kraft der jenischen Musik-Kultur kenntlich zu machen, dann ist das stimmig gelungen.
Beherzte Autorinnen, engagierter Produzent
Die Bernerinnen Karoline Arn (Regie, Drehbuch) und Martina Rieder (Regie, Drehbuch, Kamera) schaffen es, die wesentlichen historischen Fakten in den Ablauf einzufügen, Interviews, musikalische Energie und filmische Gestaltungselemente ineinander fliessen zu lassen und in eine unterhaltsame Form zu bringen.
Die Autorinnen haben 2010 den Film „Jung und Jenisch“ realisiert und bald darauf die Grundthematik wieder aufgenommen. „Unerhört Jenisch“ ist übrigens ein weiteres Beispiel dafür, dass die stärksten künstlerischen Akzente im Schweizer Film im Moment von Frauen gesetzt werden.
Produziert hat den Film Werner „Swiss“ Schweizer. Selber auch Regisseur und Autor ist er seit den bewegten 1980er-Jahren erfolgreich unterwegs – vor allem auch, weil er in seinem Tun immer ein besonderes Augenmerk auf die politische Relevanz legt. In „Unerhört Jenisch“ arbeiten also starke Partner zusammen und das Werk zeugt denn auch von umsichtigen Recherchen, von Empathie der Beteiligten, von Gespür für den Umgang mit heiklen Sachverhalten.
Ländler mit Blues und Zwick
Was mach eigentlich die jenische Musik aus? Sie ist vibrierend, sinnlich, lüpfig, aber nicht nur gefällig. Und sie ist aus Tradition tanzbar: Jenische waren oft als Stör-Musiker unterwegs, spielten allerorten auf, zuweilen für ein paar Gläser Wein. Für die einen waren sie willkommene Boten der Lebensfreude, für andere die leibhaftigen Verführer zur Sündhaftigkeit.
Im Film sieht man, dass das Schwyzerörgeli ein unentbehrliches Requisit ist. Ihm entlocken die Spieler entzückende Klangvignetten. Noten lesen konnten und könne viele jenische Musiker nicht, offenbar braucht es auch keine. Erich Eicher, der mit dem Schwyzerörgeli gut vertraut ist, erklärt in einem Interview, dass es sich mit dem „Örgelen“ ähnlich verhalte wie mit dem „Schnörre-Gigele“: Stösst man, ist es Ländler, zieht man, ist es Blues. Und was macht eigentlich den Drive, den legendären jenischen Schwung oder Zwick aus? Alle wollen den lernen, meint Eicher. Aber lernen könne man ihn nicht – er sei in einem drin, man müsse ihn fühlen.
Ein Musikfilm der besonderen Art
„Unerhört Jenisch“ ist zuvorderst ein Musikfilm – und zwar ein besonderer. Hier wird Musik nicht dauernd durch theoretische, didaktische Erklärungen ihrer Sinnlichkeit beraubt. Zuweilen stellt sich, weil alles dramaturgisch liebevoll und harmonisch choreografiert ist, sogar so etwas wie ein Live-Feeling ein.
Möglich, dass der Film mithilft, Klischees gegenüber dem Ländler, gar dem „Hudigäggeler“ abzubauen. Er zeigt nämlich, dass der jenische Sound die Schweizer Volksmusik um mehr als eine Facette reicher gemacht hat – und macht.
Obervaz in der Camargue
Hörbar deutlich wird das, als die „Bündner Spitzbuaba“ aus Obervaz in die französische Camargue reisen. Dort hat Stephan Eicher einen Wohnsitz und lädt zur Jam Session. Als es bei einer Nummer noch nicht so recht klappt, neckt Hausherr Eicher den blutjungen Patrick Waser am Schwyzerörgeli mit den Worten, er müsse ihn halt mal böse anschauen, wenn ihm etwas nicht passe. So wie er, Eicher, es mit seiner Band mache. Ist das jetzt gönnerhafte Koketterie? Eher Wertschätzung für den Kollegen, der seine originäre Virtuosität nicht nur in dieser Szene ausspielen kann. Der Weltmusiker Stephane Eicher weiss natürlich, dass sein originärer Stilmix aus Folk, Blues, Rock, Chanson mit noch mehr jenischem Sprutz dazugewinnt. Denn wahre Künstler sind ja Entdecker und so gesehen ist Dazulernen immer eine Option.
„Unerhört Jenisch“ ist ein unterhaltsamer Film voller Herzenswärme. Und er macht Lust darauf, Verborgenes in einem selbst zu entdecken. Wie singt Stephan Eicher: „Gspürsch das da inne? / Ganz tief inne. / Ganz, ganz schwär. / I weiss nid was es isch. / Aber da chumi här.“
„Unerhört Jenisch“ läuft aktuell im Kino.