Bedarf es, um sich zu erinnern, zu gedenken, zu trauern, sich zu freuen unbedingt eines bestimmten, festgelegen Termins? Eines „runden“ Geburtstags etwa, oder eines kirchlichen bzw. weltlichen Andenkens? Genügt nicht, völlig unabhängig davon, oft vielleicht auch nur eine Wanderung, ein Spaziergang, um plötzlich auf Spuren von Geschehnissen zu stoßen, die noch immer eingegraben sind im Gedächtnis und Leben vieler Menschen, obwohl inzwischen bereits nahezu sieben Jahrzehnte darüber hinweggegangen sind. So wie zum Beispiel in der Eifel, jenem ausgedehnten Mittelgebirge im äußersten Westen Deutschlands, zwischen der Mosel und der Grenze zu Belgien und Luxemburg gelegen.
Trügerische Idylle
Über die kahlen Hochflächen der Westeifel fegen schon die ersten rauhen Herbststürme. Und in den Laubwäldern nehmen die leuchtenden Blätter des Altweibersommers allmählich stumpfe Farben an. Wanderer durchstreifen die dunklen Täler entlang munter dahin plätschernder Bäche und folgen nicht selten mühsamen Anstiegen, um von Gipfeln aus mit traumhaften Ausblicken ins Kölner Becken, auf die alte Kaiserstadt Aachen oder auch nur über die weite, abwechslungsreiche Mittelgebirgslandschaft belohnt zu werden.
Doch nicht überall in der Eifel gibt es diese Idylle sozusagen ungeteilt. Also ohne dass bei vielen, vor allem älteren Menschen sofort schreckliche Erinnerungen wach werden und traumatisierende Bilder von Krieg, vieltausendfachem Sterben und maßloser Zerstörung wieder hoch kommen. Im Gedächtnis der Völker sind solche Ereignisse nicht selten mit Orts- oder Gebietsnamen verbunden – Verdun zum Beispiel, oder Flandern, oder Stalingrad oder Dien Bien Phu. Hier, direkt an der Grenze zu Belgien, ist das nicht anders. Das Schreckenswort mindestens einer Generation lautet „Hürtgenwald“. Und zwar keineswegs allein in Deutschland, sondern (vielleicht sogar mehr noch) in den USA.
Hier, in einem etwa 140 Quadratkilometer großen, von engen Tälern und steilen Schluchten durchzogenen Waldgebiet südlich der Linie Aachen – Düren und westlich der Rur gelegen, fanden zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 erbitterte Kämpfe statt, für die der Begriff „Gemetzel“ fast noch untertrieben ist. Es waren die letzten Abwehrschlachten des Deutschen Reichs im Westen und die verlustreichsten der US-Armee in einem Kriegsgebiet. Sinnlos für beide Seiten. Hitlers Krieg war schon lange verloren. Und der von General Dwight D. Eisenhower angeordnete Vorstoß erwies sich, militärisch gesehen, als ein riesiger Fehler. Denn das mit der Operation „Queen“ verbundene Ziel des Erreichens des Rheins sowie die Eroberung des Köln/Bonner Raums wäre durch die Umgehung der Eifel auf direktem Weg schneller und vor allem mit viel weniger Verlusten zu bewältigen gewesen.
Die „Allerseelenschlacht“
Einer der Gründe, stattdessen erst einmal das Bergland einnehmen zu wollen, scheint die Sorge Eisenhowers gewesen zu sein, die Deutschen könnten die Eifel-Stauseen – vor allem die Rur-Talsperre – sprengen und das Unterland dadurch in nur schwer passierbare Sümpfe verwandeln. Doch keiner der amerikanischen Führer wusste offensichtlich auch nur andeutungsweise, was die Truppen dort erwartete. Die dichten Wälder machten die US-Luftwaffe und schwere Artillerie praktisch wirkungslos, und auf den schmalen Waldwegen und in den unwegsamen Schluchten stapelten sich schnell zerstörte Panzer. Dennoch wurde von US-Seite festgelegt, am 2. November 1944 (also am Tag „Allerseelen“) um 8 Uhr in der Früh eine Offensive in Richtung des strategisch wichtigen Höhendorfes Schmidt – es heißt tatsächlich so - zu starten. Was folgte, ist darum in der Eifel (und weit darüber hinaus) noch heute als „Allerseelenschlacht“ im Gedächtnis.
Das Chaos auf Seiten der Angreifer begann schon damit, dass die aus dem Dörfchen Vossenack ins steile Tal des Flüsschens Kall hinab rasselnden schweren Sherman-Tanks leichte Ziele für die auf den Höhen positionierte deutsche Artillerie boten und dazu noch die Straßen und Wege blockierten. Aber selbst wenn eine Ortschaft genommen wurde, musste sie zumeist schon kurz darauf wieder aufgegeben werden. Der Schriftsteller und Nobelpreis-Träger Heinrich Böll, der in den 50-er Jahren ein Haus dort bewohnte, erinnerte sich einmal so: „Mehr als 28 Mal wechselten die Dörfer Schmidt, Vossenack, Simonskall und Kommerscheidt ihre militärischen Herren; in Vossenack verlief die ´Front` sogar quer durch die Pfarrkirche. Die amerikanischen Soldaten schossen von der Orgelbühne herunter, die deutschen aus der Sakristei“.
Der unheimliche Wald
In vielen Schilderungen amerikanischer Soldaten ist von den „unheimlichen deutschen Wäldern“ die Rede. Tatsächlich waren die GI´s überhaupt nicht auf diese Art Krieg vorbereitet – also weder auf den Nahkampf, noch auf den Winterkrieg. Und der Winter 1944 war einer der härtesten seit Jahrzehnten. Bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad erfroren Soldaten auf beiden Seiten. Ernest Hemingway war als Kriegsberichterstatter für das Magazin „Collins“ mit dem 22. US-Regiment im Hürtgenwald und hatte eigentlich geplant, Heldenstories und großartige Siege zu beschreiben. Nach dem Erleben der Wirklichkeit war von US-Glanz und verherrlichender amerikanischer Gloria keine Rede mehr. Statt seines mit „Collins“ geplanten journalistischen Großprojekts bewältigte er seine Eindrücke lediglich in dem Kurzroman „Über den Fluss und in die Wälder“. Und zwar u. a. so: „In Hürtgen gefroren die Toten, und es war so kalt, dass sie mit roten Gesichtern gefroren“. Weiter: „Wir bekamen viel Ersatz. Aber ich dachte, es wäre wohl einfacher, sie gleich dort, wo man sie auslud, zu erschießen, anstatt dass man später versuchen musste, sie von dort zurückzuholen, wo sie getötet worden waren“.
Bis heute besteht noch keine endgültige Klarheit, wie viele Menschleben die fünf Monate währenden Kämpfe im und um den Hürtgenwald wirklich gefordert haben, ja nicht einmal die Zahl der Toten während der Allerseelenschlacht vor 69 Jahren ist auch nur annähernd bekannt. Tatsächlich werden auch jetzt noch immer wieder auf den Feldern oder in den Wäldern Skelette gefunden. Mindestens zwei US-Divisionen wurden allein im Ringen um die Höhendörfer der Eifel aufgerieben. General James Gawin, Kommandeur der 82. US-Fallschirmjäger-Division, befand nach dem Gemetzel in der „Todesfabrik Hürtgenwald“: „Es war die verlustreichste, unproduktivste und am schlechtesten geführte Schlacht, die unsere Armee je geschlagen hat“.
Hölle und Menschlichkeit
Aber auch in der Hölle des Krieges und in Zeiten des Hasses sprießt immer wieder das Pflänzchen Menschlichkeit und nimmt mitunter sogar Gestalt und Namen an. Günter Stüttgen ist ein Beispiel dafür. Der im Herbst 1944 25-jährige junge Mann leistete als Regimentsarzt der Wehrmacht erste Hilfe im Hürtgenwald. „An manchen Tagen hatten wir mehr als 200 Verletzte, viele Tote, allein in meinem Abschnitt“, erinnert er sich. „Sie wälzten sich auf den Wiesen, wimmerten in dem kleinen Bachbett, schrien um Hilfe aus Schützenlöchern, die wegen des steinigen Bodes viel zu flach waren, um wirklich Schutz zu bieten. Deutsche wie Amerikaner lagen und litten und starben nebeneinander“. Stüttgen nahm eines Tages von sich aus Kontakt zur amerikanischen Seite auf, es wurden Waffenstillstände vereinbart, um Verletzte zu versorgen und Tote zu bergen – ohne Ansehen der Nationalität. Manchmal sogar mit gemischtem Personal im Feldlazarett. Der Arzt riskierte damit ein Kriegsgerichtsverfahren. Jahrelang haben später Angehörige der 8. US-Infanteriedivision nach dem barmherzigen Arzt geforscht – und sie machten ihn tatsächlih ausfindig. 1996 wurde er in Washington geehrt.
Oder da war Julius Erasmus. Vor dem Krieg Textilfabrikant in Aachen, verlor er während der Kämpfe um die alte Kaiserstadt im Oktober 1944 seine gesamte Familie und sein Vermögen. Nach dem Krieg zog er sich in eine Hütte im Hürtgenwald zurück und begann, tote Soldaten zu bergen, sie zu identifizieren und zu begraben. Die Lagepläne der Gräber hielt er dabei fest. Die Arbeit war lebensgefährlich, weil der Wald mit Blindgängern und Minen übersät war – und, übrigens, heute noch immer ist. Zu seinen Motiven sagte Erasmus: „Ich hatte meine gesamte Habe verloren; der Krieg hatte mir alles genommen. Und da fand ich sie in den Chausseegräben, am Waldrand, unter zerschossenen Bäumen. Ich konnte sie einfach nicht da liegen sehen, unbestattet und vergessen. Es ließ mir keine Ruhe“. 1 569 tote Soldaten hat Erasmus im Hürtgenwald geborgen und in Vossennack zur letzten Ruhe gebettet.
Die Geschichte von St. Mokka
Nicht zu vergessen auch die Geschichte von und um die Kirche St. Mokka. Eigentlich ist sie ja dem heiligen Hubertus geweiht und steht in Schmidt – jenem Dorf mit dem deutschen Familiennamen also, das bei den Kämpfen um den Hürtgenwald bis zum Erdboden plattgemacht worden war. Einschließlich dem Gotteshaus. Was taten die Überlebenden nach dem Krieg, um wieder auf die Beinen zu kommen? Klar – Kaffee schmuggeln. Schließlich ist die Grenze zu Belgien nur 17 Kilometer entfernt, und man kennt sich ja auch hüben wie drüben, ist nicht selten sogar verwandt oder verschwägert. Ein zwar nicht ungefährliches, dafür aber höchst einträgliches Unterfangen angesichts der hohen Kaffeesteuer in den ersten Nachkriegsjahren. Manch einer der Pascher verdiente seinerzeit in einer Woche mehr als vor dem Krieg in einem ganzen Jahr. Kein Wunder, dass es dem Dorf und seinen Bewohnern recht bald wieder besser ging.
Nur einer schaute bei alledem in die Röhre. Seit dem 18. Mai 1947 wurde die Pfarre Schmidt von Josef Bayer betreut, dessen Gehalt gerade einmal für zwei Päckchen Zigaretten gereicht hätte. Und Geld für ein neues Dach der nur notdürftig renovierten Kirche war schon gar nicht vorhanden. Da packte den geistlichen Herrn eines Tages der Heilige Zorn, und er hielt von der Kanzel folgende Gardinenpredigt: „Merkwürdig ist das! Ich weiß ganz bestimmt, dass Ihr, meine lieben Pfarrkinder, so viel Geld habt, dass Ihr Kopfschmerzen bekommt Bei mir ist das aber umgekehrt: Ich habe Kopfschmerzen vor lauter Schulden und bekomme davon noch graue Haare! Ich bete Nach für Nacht, dass Ihr nicht erwischt werdet, und Ihr habt nichts für den Wiederaufbau unserer Kirche übrig“. Die Standpauke hat ganz offensichtlich gewirkt. Angeblich haben die Schmidter Schmuggler 250 000 Mark locker gemacht… Seither heißt St. Hubertus im Eifeler Volksmund nur St. Mokka. Oder auch nur einfach Schmugglerkirche.