Am letzten Sonntagabend spät läutete das Telefon. „Ein Wunder ist geschehen!“, hörte ich Baihruze Zarthushti erregt ausrufen, in einem hohen, fast weinerlichen Ton. Ich musste lächeln, denn mein Nachbar ist sonst kein Gefühlsmensch. Im Gegenteil, er bezeichnet sich selber als hart, störrisch, gebieterisch (vor allem gegenüber seiner Frau). Und so sieht er auch aus: mit seinem krummen Rücken und gebeugten Kopf blickt er misstrauisch von unten über seine dicken Brauen. Die wenigen Haare – er schneidet sie sich selber – sind zerzaust, der Stoppelbart sieht aus, als hätte er sich mit einer Glasscherbe rasiert, die Hände voller Schwielen, die Fingernagel-Ränder schwarz. Die lumpigen Klamotten passen perfekt zu ihm, einschliesslich der alten Crocs in ungleichen Farben.
Wenn da nicht die Hühner wären. Kommt die Rede auf sie, wird Zarthushti ganz weich, die Stimme kindlich, die Fluchwörter weichen glucksigen Lockrufen. Als ich am Sonntag sein hohes Singsang mit der Nachricht von einem „Wunder“ hörte, wusste ich sofort: Es muss den Hühnern widerfahren sein.
„Such a little beauty she was“
Am Abend zuvor hatte ich bei meinem Abendspaziergang in seinem Wadi vorbeigeschaut, wie ich es oft tue. Für einmal einsilbig und gedämpft, hatte er erzählt, die Katze habe vor vier Tagen ein weiteres Huhn gerissen. Er brachte mich zum Tatort hinter dem Haus. Noch immer lagen Federn herum, und einige dunkle Stellen auf dem Erdboden deutete er als Blutflecken. „Such a little beauty she was“.
Es war bereits das vierte Mal in ebenso vielen Monaten dass die Katze – laut ihm ein wildernder Kater von enormer Grösse – zugeschlagen hatte. Baihruze und seine Frau Gaweer leben auf einem zwei Hektar grossen Gehöft, und die Hühner liefen immer den ganzen Tag frei herum; am Abend kamen sie in der Werkstatt und im Wohnzimmer unter. Das Herumlattern den ganzen Tag würde nun ein Ende nehmen, sagte er finster, er habe Stangen und Metalldraht gekauft, um einen Käfig zu bauen.
Eierlegen vor dem Fernseher
Um welche Henne es denn gehe, hatte ich ihn gefragt. „Die Neue, weisst Du, die mit den hellbraunen Federn“. Dann fügte er grimmig hinzu: „Die Schwarze und Weisse wird’s freuen“. Für einen Augenblick horchte ich auf, doch dann kamen wir wieder die komplizierten Familienverhältnisse im Hühnerstall in den Sinn. Als Baihruze vor einem halben Jahr die ‚Whitey’ und ‚Blacky’ kaufte, begannen diese im Wohnzimmer vor dem Fernseher sofort mit dem Eierlegen und Ausbrüten. Kaum waren die Küken da – fünf und acht – beschlossen die neuen Adoptiveltern, einen Hahn anzuschaffen. Es war ein prächtiges Exemplar, schwarz-rot-grün, mit schillernden Federn.
Doch die ménage à trois glückte nicht. Die beiden Mutterhühner wurden eifersüchtig und begannen, einander auf dem Nacken herumzuhacken. Beim Auslauf mit den Küken gingen sich die beiden aus dem Weg, und entsprechend sonderten sich auch die Küken ab. Kam am Abend die Schwarze als erste zum Hauseingang, hielt sich die Weisse zurück, und umgekehrt. Wehe, die Küken liefen zum selben Häufchen Körner, die Gaweer streute – die Mütter waren sofort zur Stelle und drängten ihre Kinder zurück. Es herrschte Kalter Krieg.
Frustrierter Hahn
Der Leidtragende dieser Eifersucht war der Hahn, der sie verursacht hatte. Beide verweigerten sich ihm, sodass er bald einmal allein auf Nahrungssuche ging, statt wie zuvor einmal diese, dann die andere Familie zu begleiten. Aber er war frustriert, und er krähte nun bereits um drei Uhr früh und raubte mir (trotz einer Distanz von mehreren hundert Metern) den Schlaf. Vollends unbeliebt machte er sich bei den Müttern, als er in seinem Frust versuchte, die eine oder andere heranwachsende Stieftochter zu besteigen. Es war der einzige Augenblick, in dem die beiden Rivalinnen gemeinsam auf den sexgeplagten Patriarchen losgingen.
Adoptivvater Baihruze, solidarisch mit dem Herrschaftsanspruch des anderen Männchens im Revier, fand eine Lösung: Er kaufte eine junge, hellbraun gefiederte Henne, ohne Mutterpflichten und –skrupel als Mitgift. Der Hahn konnte das streitsüchtige Federvieh nun vergessen und stolzierte fortan mit seiner Freundin unter den Mangobäumen herum. Bis die Katze, vom Astwerk aus bestens über die Gewohnheiten des Pärchens informiert, eines Tages zuschlug. Ich verstand Baihruzes Kommentar gut. „Blacky and Whitey will be very happy!“ hiess soviel wie: Es hätte ein Auftragsmord sein können.
Die schöne Braune
Nur, so stellte sich am Sonntagabend heraus, war statt des Mordes ein Wunder geschehen. Gaweer hörte plötzlich – die Hühner waren bereits drinnen und gezählt – ein Gackern aus der Richtung der Bananenbäume hinter dem Haus. In einem Dornbusch entdeckte sie die schöne Braune. Nur war sie nicht mehr schön, und auch nicht mehr braun. Alle ihre Federn waren gerupft, und die weisse Hühnerhaut war voller kleiner Blutflecken, ob von den Dornen oder den Katzenkrallen, sie wussten es nicht.
Die freudige Überraschung hielt nicht lange an, und am Telefon senkte sich mit der Ernüchterung auch Zarthushtis Stimme. Die Braune, die sich dank dem Gestrüpp vier Tage lang vor der Katz geschützt hatte, sei völlig ausgehungert; sie stehe unter Schock und rühre nichts an. Als ich am nächsten Morgen vorbeiging, um das Wunder zu bestaunen, zimmerte Zarthushti bereits an seinem Käfig. Gaweer hatte die roten Tupfer der Braunen mit Desinfektionsmittel noch herausgestrichen, und der Hahn weigerte sich, trotz Zarthushtis Lockrufen („Come on, Baba, one more honeymoon!“) ihr im fertiggestellten Käfig in die Nähe zu kommen. Statt ihn zu erregen, gab ihm das nackte Weiss wohl eher Gänsehaut.
Kokosnüsse und Schwiegermütter
Ich nahm das Wunder zum Anlsss, meine Besuche bei den Zarthushtis vorläufig einzustellen. Seitdem sie Hühner haben, gibt’s beim abendlichen Schwatz nur noch ein Thema. Früher hatten wir über die Aussichten für die Mango-Ernte gesprochen, oder über Baihruzis neueste Erfindung – ein Klettergerät, mit dem, so prahlte er „selbst meine Schwiegermutter Kokosnüsse pflücken kann“. Oder er weihte mich in die Geheimnisse des Matka-Glückspiels ein, bei dem die Bauern von Awas am Morgen über das Handy eine Zahl durchgeben und am Abend erfahren, ob sie gewonnen hat.
Mit den Hühnern war all dies vorbei. Stattdessen musste ich mir jeden Abend anhören, wie schnell die jungen Hähne flügge werden und bald einmal von den ‚Mädchen’ getrennt werden müssen. Vielleicht bin ich aber auch ein bisschen eifersüchtig. Denn während das Federvieh im Haus der Zarthushtis ein- und ausgeht, habe ich dieses noch nie betreten. Ich rede mir dann ein, dass dies nicht weiter schlimm ist, und ein Blick durch die Tür beruhigt mich wieder. Dahinter ist der reinste Hühnerstall.
Beim letzten Besuch fragte ich Baihruze, was er denn tun wolle, falls die traumatisierte Braune keine Eier mehr lege. Er sagte lakonisch und, für einmal, ohne Schalmei in der Stimme: „Dann würge ich ihr den Hals ab, und wir essen sie“.