Diese Portion Leben muss heute immer mehr wie ein Affront erscheinen gegenüber dem imperialen Anspruch, unsere Zeit möglichst vollständig um einer kontinuierlichen Produktions-, Dienst- und Konsumbereitschaft willen zu nutzen. „Schlaf ist ein kompromissloser Unterbruch des Zeitdiebstahls durch den Kapitalismus“, schreibt der Kunsthistoriker Jonathan Crary in seinem Buch „24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus“ (2014). Der erwachsene Durchschnittsamerikaner schlafe heute etwa sechseinhalb Stunden: eine markante Schlafreduktion gegenüber den acht Stunden vor einer Generation und eine noch markantere gegenüber den zehn Stunden zu Beginn des letzten Jahrhunderts.
Auch die Maschine schläft
Selbst Maschinen schlafen. Benütze ich meinen Drucker gerade nicht oder schliesse ich meinen Laptop, dann verabschieden sich die Maschinen in den „Sleep“-Modus. Apple führte in sein Betriebsssystem das sogenannte „Power Nap” ein – das Energienickerchen zwischendurch –, einen Zustand, in dem der Computer immer noch wichtige Aufgaben erfüllt, z. B. Updates empfängt oder Backups durchführt.
Unter diesen Bedingungen beobachten wir nicht nur eine Verwischung der Grenze zwischen Wachen und Schlaf, Tag und Nacht, sondern generell zwischen Maschine und Mensch. Die Maschine, die selbst im Schlaf arbeitet – wird sie zum Vorbild des Werktätigen im digitalen Zeitalter? In der Tat führen Firmen und Behörden Power-Napping bereits als regeneratives Mittel ein, selbstverständlich unter der normativen Vorgabe der Leistungssteigerung. Der maschinenartigste Mensch wäre der 24/7-Typus: verfügbar 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche.
Die Hypnophobie der Philosophen
Es scheint, dass der Schlaf nicht viele Freunde unter den Philosophen findet. Es gibt eine philosophische Schlafaversion: „Hypnophobie“. Der Schlafende, so hören wir bereits bei Platon, sei kaum besser als der Tote; wer das Leben und die Weisheit liebe, schlafe nicht mehr als für die Gesundheit notwendig. Und besonders seit dem Siècle des Lumière, dieser Schwelle zur erhellten Moderne, haftet dem Schlaf das Stigma des Passiven, Unbewussten, Irrationalen an. Schlaf ist generell die Antithese zum reflektierten Wachsein der Vernunft. Nietzsche erklärte – in bestimmten Phasen seines Schaffens – die Wachheit selbst zum hohen Ziel des „guten Europäers“. Und so zieht der Triumph der Wachheit über den Schlaf seine Spur bis in unser Jahrhundert: bis zu Sartre und seinem Degout vor dem schlafenden Menschen, diesem Inbild des Rückfalls in den Zustand der „blossen“ Materie; bis zu den Besingern der Schlaflosigkeit und weissen Nächte, Cioran und Lévinas.
Schlafentzug ist Persönlichkeitszerstörung
Hier manifestiert der Schlaf seine paradoxe Doppeldeutigkeit: biologisch nützlich, ökonomisch nutzlos. Seine unprofitable Auszeit kann im Rund-um-die-Uhr-Getriebe der heutigen Lebens- und Arbeitswelt nur als Skandal erscheinen. Er muss minimiert werden. Die Ökonomie verlangt seine Abkopplung von den natürlichen Zyklen. Auch wenn unter Biologen und Neurologen keine Einigkeit herrschen mag über die vitalen Funktionen des Schlafes, so besteht doch kein Zweifel daran, dass Schlafmangel diese Funktionen beeinträchtigt. Schlafentzug weist ex negativo auf die Nützlichkeit des Schlafs hin. Als Foltermethode seit Jahrhunderten eingesetzt, entfaltete der Entzug sein Gewaltpotenzial vor allem durch das elektrische Licht; zum ersten Mal systematisch erprobt von den Häschern Stalins in den 1930er Jahren. Schlafentzug markiert den Beginn des „Förderbands“ – wie dies in einschlägigen Kreisen genannt wird – : einer ausgeklügelten Abfolge von Brutalitäten mit dem Ziel, die Wahrheit ans Licht zu „befördern“ (der zynische Euphemismus der Geheimdienste spricht allerdings vom Schlafentzug als von einer „psychologischen Überzeugungstechnik“). Man kann ein Individuum irreparabel zerbrechen, wenn man ihm den lebenswichtigen Kontakt zur Aussenwelt – sinnliche Wahrnehmung – und zur Innenwelt – Schlaf und Traum – versagt. Mit dem Schlaf treibt man dem Menschen sein Selbst aus.
Eine nachtlose Erde
Mit dem Schlaf korrespondiert die Nacht, die Dunkelheit, der Schatten. Jeremy Benthams „Panoptikum“, das architektonische Überwachungsmodell für Gefängnisse, Fabriken, Spitäler und Schulen des 19. Jahrhunderts, funktioniert nur optimal bei permanenter Helligkeit. Der lichtdurchflutete Raum eliminiert die dunklen Schlupfwinkel. So wie die gnadenlose Datenhelligkeit des Netzes und seiner Social Media heute das Zwielicht abschafft, das Privatheit und Intimität brauchen. Bereits vor der digitalen Durchleuchtung gab es in den späten 1990er Jahren den Plan eines Systems von spiegelnden Satelliten, welche das Sonnenlicht auf die Erde reflektieren würden. Ursprünglich gedacht als elektrizitätssparende Beleuchtungsanlage für die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen in Gebieten mit langen Polarnächten, wuchs sich die Idee aus zu einem Illuminationsprojekt planetarischen Ausmasses, durch das der Globus buchstäblich in eine immerwährende Mittagshelle getaucht worden wäre. Es scheiterte an der Opposition von Umweltverbänden und aufgrund zu vieler Zufälligkeiten. Aber die Ambition dahinter – „Tageslicht die ganze Nacht hindurch“ lautete die Devise – bleibt aktuell und beunruhigend. Hier liegt das Endresultet der Abkopplung aus natürlichen Zyklen vor uns, um das Laufrad des globalen Marktes Tag und Nacht auf Touren zu halten. Geld schläft bekanntlich nicht. Und es definiert zunehmend die Bedingungen des Homo oeconomicus insomnians.
Schlaf, gesponsert von Google
Im Besonderen wird uns die Neurobiologie wahrscheinlich noch viel über die „Maschine“ Gehirn und die Bedeutung und Nützlichkeit des Schlafes zu sagen haben. In seinem Buch „Autopilot .The Art and Science of Doing Nothing“ (2013) berichtet der Autor Andrew Smart von erstaunlichen „intrinsischen“ Aktivitäten bestimmter Hirnregionen, die sich im Ruhezustand abspielen; dann also, wenn wir scheinbar nichts tun. Und er macht daraus – wie heute üblich – auch gleich ein neurobasiertes Vademekum: Nichtstun und Tagträumen als unentbehrliches „Enhancement“ unserer mentalen Fähigkeiten. Allerdings werden wir uns gleichzeitg darauf gefasst machen müssen, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse dazu prädisponiert sind, die verborgene Produktivität des Schlafs zu exploitieren und so die letzte Bastion des inneren Rückzugs auch dem Eingriff von aussen zu öffnen – ein Taylorismus des Unbewussten. Schon gibt es „sleep hacking“, eine Form der neuen Selbst-Überwachung, des „self tracking“. Ein Blogger führt beispielsweise minutiös Bilanz: Von 7.27 Stunden Schlaf seien 52% leichter, 29% REM- und 19% tiefer Schlaf gewesen; was er summa summarum als „viel vergeudete Zeit“ taxiert. Vor nicht allzu langer Zeit beschrieb Eric Schmidt von Google die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts als eine „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Gewinner würden jene sein, die möglichst viele „Augäpfel“ auf sich ziehen und kontrollieren könnten. Selbstredend steht der Schlaf einer solchen Augapfelmaximierung im Weg. Und vielleicht werden wir künftig ohnehin in ihn tauchen wie in einen Film, den wir vom Schlaf-Programm auswählen. Im Vorspann läuft unvermeidlich der Hinweis „Gesponsert von Google“.
Mein Schlaf gehört mir
Womöglich sensibilisiert uns gerade eine Zeit der totalen Transparenz für eine Neuentdeckung dieses grossen dunklen Kontinents in uns, der – es ist zu wünschen – in dem Masse unkolonisierbar bleibt, in dem man ihn zu kolonisieren sucht. Der Schlaf ist eine der letzten, wenn nicht die letzte Zone des inneren Rückzugs in einer Gesellschaft, die den Zustand der Dauerwachheit und Dauerverknüpftheit zur Norm erhebt. Gegen sie und das Ideal des perfekten 24/7-Menschen müsste ein anthropologischer Gegentypus an Bedeutung gewinnen. Ich denke an Odo Marquards „Homo compensator“, der gerade hier an Aktualität gewinnt: an den Menschen des Ausgleichs, welcher den Off-Modus des Schlafs nicht nur als Quelle der Regeneration versteht, sondern als renitentes Definiens seiner selbst: Mein Schlaf gehört mir!