Wenn es um Mahjong und um Japan geht, verstehen Chinesinnen und Chinesen keinen Spass mehr. Das Verhältnis zu Japan ist aus historischen Gründen – 1930er-Jahre und Zweiter Weltkrieg – und wegen territorialen Disputen im ostchinesischen Meer bis an die Schmerzgrenze gereizt. Um allem noch eins draufzusetzen, haben jetzt die Japaner an den Mahjong Europameisterschaften den Sieg sowohl im Einzel- als auch im Mannschafts-Wettbewerb davon getragen. Die chinesische Nationalmannschaft klassierte sich als 37. von 51 Teams. Im Einzel endete der beste chinesische Mahjong-Spieler auf dem 30. Platz.
Urchinesisches Spiel, unterschiedliche Regeln
Über den chinesischen Twitter-Ersatz Sina Weibo zwitscherte danach ein schwer Enttäuschter kurz und bündig: „Nationale Schande“. Ein anderer qualifizierte die Mahjong-Nationalmannschaft als „schlimmer als das chinesische Fussballteam“. Ein total Frustrierter meinte hellsichtig: „Jetzt kann ich verstehen, wie die Brasilianer fühlten, als sie von den Deutschen in ihrem eigenen, brasilianischen Spiel vernichtend geschlagen worden sind.“
Das „eigene Spiel“ ist dabei zu unterstreichen, denn Mahjong ist ultimativ chinesisch. Das Klicken der Mahjong-Steine – 144 insgesamt für ein Game – begleitet einen gerade jetzt im Sommer beim Spaziergang in den verzweigten, von Leben erfüllten alten Hutong-Gassen. Vier Spieler sitzen um die Tische und bewegen mit ernster Miene die aus Holz oder Knochen oder früher aus Elfenbein gefertigten, mit Symbolen und chinesischen Schriftzeichen versehenen Steine über den Tisch. Darum herum interessierte, die Stirne runzelnde und mit verkniffenen Augen das Spiel verfolgende Nachbarn und Spaziergänger. Alle sind Experten.
In der Hauptstadt des Reichs der Mitte wird nach Pekinger Regeln gespielt. Anderswo gelten die Regeln etwa von Taiwan, Hongkong, Sichuan oder jene, die der Nationale Mahjong-Verband aufgestellt hat. Auch international gibt es normierte Regeln. Kurz, für aussenstehende Mahjong-Unkundige – wie Ihr Korrespondent – ist es eine extrem komplexe Angelegenheit. An den Europameisterschaften im Juli wurde nach Regeln gespielt, welche die chinesischen Mahjong-Stars vielleicht etwas benachteiligt haben. Mag sein.
Unklare Herkunft
Doch die chinesische „Rechts-Tageszeitung“ schrieb selbstbewusst tröstende Worte für die verletzte chinesiche Mahjong-Seele: „Wären ausländische Spieler immer noch interessiert, an Mahjong-Meisterschaften teilzunehmen, wenn chinesische Spieler, wie im Ping-Pong, von A bis Z alles gewinnen würden?“ Mahjong, und das ist der chinesische Stolz, ist eben ein weltweit bekanntes Spiel. Selbstverständlich von Chinesen vor Tausenden von Jahren erfunden und danach weiterentwickelt.
Die historische Wirklichkeit indes sieht etwas durchzogener aus. Wie bei so vielem in China hat am Anfang von Mahjong nach chinesischer Ansicht Meister Kong seine Hand im Spiel. Konfuzius nämlich soll im ausgehenden 6. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung das Spiel erfunden und auf seinen Reisen an den damaligen Fürstenhöfen in ganz China verbreitet haben. Als Beweis für die Konfuzius-These gelten viele der auf den Mahjong-Steinen eingravierten Symbole, wie etwa die Tugenden der Wohltätigkeit, Wahrheitstreue oder Ehrfurcht vor dem Alter. Zudem habe Konfuzius Vögel geliebt, und deshalb heisse das Spiel Mahjong, was soviel wie Hanf-Vogel heisst.
Allein, es fehlen historisch sichere Fakten. Kein einziger Mahjong-Stein aus früherer Zeit ist älter als 150 Jahre. Die meisten Historiker, selbst jene aus China, gehen heute davon aus, dass das als Mahjong bekannte Spiel aus verschiedenen chinesischen Spielen, darunter auch Karten-Spielen, hervorgegangen ist. So wurde in der Song-Dynastie (960-1279) Ya Pei gespielt mit 32 länglichen Steinen aus Holz oder Elfenbein. Aus der Ming-Dynastie ist Ma Tiae überliefert, ein Mahjong-ähnliches Spiel mit 40 Karten, Aus Ma Tiea sollen nach der Legende dann in der südostchinesischen Stadt Ningbo in der Nähe von Shanghai zwei Brüder in der Mitte des 19. Jahrhunderts Mahjong entwickelt haben.
Einst im Westen äusserst populär
In den Westen kam Mahjong am Ende des 19. Jahrhunderts. Die britischen Kolonialherren fanden in der britischen Konzession von Shanghai Gefallen an dem Strategiespiel. Bald wurde auch in London Mahjong gespielt. Populär jedoch wurde Mahjong im Westen vor allem über die USA. Joseph P. Babcock, ein Angestellter des Öl-Multis Standard Oil, kam in Suzhou auf den Spielgeschmack. Er vereinfachte die Regeln, fügte den chinesischen Zeichen zum Teil arabische Zahlen hinzu und machte so das urchinesische Spiel unter Europäern, Amerikanern und auch Japanern bekannt.
Von den 1920er-Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war Mahjong in den USA das absolut populärste Spiel. Es gab Mahjong-Bücher, Mahjong-Instruktoren, Mahjong-Clubs, offizielle oder inoffizielle Mahjong-Regeln, Mahjong-Wettbewerbe – kurz, Mahjong war das Freizeitvergnügen während den schwierigen Jahren der Grossen Wirtschafts-Depression. Zur Fabrikation der Steine mussten gar Rindsknochen von den USA nach China verschifft werden. Millionen und Abermillionen von Mahjong-Sets fanden in den USA ihre Abnehmer. Auch wenn heute das Mahjong-Fieber in Amerika abgeklungen ist, populär ist das Strategiespiel aus dem Reich der Mitte noch immer. Nicht zuletzt auch als Computer-Spiel.
Nationale Passion
Wie die Reaktionen auf die Niederlage am European Mahjong-Open gezeigt haben, ist Mahjong in China nicht nur Spiel sondern nationale Passion. „Wenn das Nationalteam“, schrieb eine aufgebrachte Chinesin auf Sina Weibo, „meine Grossmutter nominiert hätte, wären wir mit Sicherheit unter den ersten drei gelandet“. Wahrscheinlich ist, dass die Schreiberin in ihrer Hutong-Gasse eine versierte, leidenschaftliche Mahjong-Spielerin ist. Die chinesische Presse goss nach der desaströsen Niederlage in Europa Balsam auf die offenen Mahjong-Wunden. Japan, so ein Kommentator, habe schon vor über vierzig Jahren ihre Mahjong-Regeln den internationalen Regeln angepasst und hätten deshalb am European Mahjong-Open einen Vorteil gehabt.
Mag sein, wie es wolle, Trost verspricht der niederländische Historiker und Kulturphilosoph Johan Huizinga. In seinem 1938 veröffentlichten Buch „Homo ludens“ unterstreicht er die Wichtigkeit des Spiels in Kultur und Gesellschaft. Der Mensch, so Huizinga, entwickle seine Fähigkeiten vor allem über das Spiel, und das Spiel setze eigenes Denken voraus und setze mithin Kreativität frei. Von dieser Analyse können sich die spielwütigen Chinesen und Chinesen eine grosse Scheibe quasi als Lob abschneiden. Sie haben Mahjong erfunden – ob nun mit Konfuzius oder einem andern, einerlei. Zu einer Zeit notabene, als die Helveter in Mitteleuropa noch weit von der Erfindung des Schiebers und des Tschau-Sepps entfernt waren.
Als humanistisch elitär Gebildeter, der im letzten Jahrhundert noch seitenweise Klassiker auswendig lernen musste, kann Ihr Korrespondent den Chinesen und Chinesinnen sogar mit einer Friedrich-Schiller-Sentenz zusätzlich Trost spenden: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist. Und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Was spielt da der 37. Platz unter 51 Teams noch für eine Rolle. Japaner hin, Japaner her. Es lebe im Land des Spiels und der Seide der Homo ludens sinensis!