Mit Peter verbindet mich seit unseren gemeinsamen Zeiten an der Kantonschule St.Gallen eine Freundschaft. Wir waren zwar nicht in der gleichen Klasse, hatten aber einen gemeinsamen Schulweg – und vor allem: den gleichen Lehrer für Deutsch und Geschichte.
Lernen für das Leben in der Deutschstunde
Bei Ludwig lernten wir nicht für die Schule, sondern für das Leben. Er brachte im Jahr 1968 Niklaus Meienberg aus Paris in den Unterricht. Und er machte „Spiegel“-Titel zum Thema von Deutschstunden, wenn er über Mittag im Café gerade etwas Interessantes gelesen hatte. Den Geschichtsunterricht begann er nicht mit den alten Römern, sondern mit dem Zweiten Weltkrieg.
Als nun dieses Jahr, Anfang März, mein erster Roman erschien, rief ich meinen St.Galler Schulkollegen an und fragte ihn, ob er mitkommen wolle nach Au, wo unser Lehrer an seinem Bürgerort die letzte Ruhe gefunden hatte. Peter begriff, dass da einer eine sehr spezielle Reise im Sinne hatte, und sagte, er könne es einrichten. Peter meinte am Telefon, er selbst habe den Lehrer zwar in guter Erinnerung behalten, nach der Schulzeit aber – im Gegensatz zu meiner Frau und mir - keinen Kontakt mehr gehabt.
Ein harter Kritiker
Im Unterricht war Ludwig unser härtester Kritiker. Seine Verrisse überstanden wir nur deshalb einigermassen gesund, weil der Lehrer auch den eigenen Texten gegenüber unerbittlich war
„Für ein Lob von ihm hätte ich fast alles gemacht“, sagte mir Peter später einmal. Wie Peter und ich versuchten viele andere Schüler, den Stil des Lehrers zu imitieren. Ludwigs schrieb viel, sein eigenes Forschungsgebiet war die Kurzgeschichte oder – wie er jeweils eigensinnig präzisierte: die Short story. Ich selbst wäre kein beruflicher Schreiber geworden, hätte Ludwig unter meine Aufsätze nicht ein paar Mal den Satz „Sie können schreiben“ in Stein gemeisselt.
Für die gemeinsame Reise nach Au trafen Peter und ich uns an einem sonnigen Märzsamstag im Hauptbahnhof St. Gallen und mussten zuerst einmal zum Gleis 7 spurten, weil der Anschluss vom IC zur S-Bahn ausserordentlich kurz veranschlagt war.
Kaum hatten wir uns im Thurbo gesetzt, kam Peter zur Sache. Er wusste natürlich, dass ich zusammen mit meiner Frau seit vier Jahren auf einer betagten Segeljacht lebe und meinte nun leicht spöttisch: „Hat Dir das nicht gereicht, ich meine als Projekt?“
Inspiration beim Nichtstun im Boot
Ich sagte, das könne er nur verstehen, wenn ich ihm eine Geschichte erzählen würde. Und die gehe so: „Nach einem Winter in Florida waren wir im Mai von Bermuda aus zu unserer vierten Atlantiküberquerung gestartet. Wir hatten guten Wind, angenehme Wellen. Und unser Boot lief wunderbar balanciert. Wir ahnten deshalb, dass dies unser bester Trip von West nach Ost werden könnte.“
„Ich habe mir eine Atlantiküberquerung anders vorgestellt“, warf Peter ein. „Siehst Du!“ sagte ich, „Der Preis des angenehmen Nichtstuns an Bord war, dass ich nachts auf der Wache aus Langeweile alle paar Minuten auf die Uhr blickte. Irgendwann kam ich drauf, dass mir die Zeit im Fluge verging, wenn ich im Kopf Figuren erschuf und ihnen ein Leben einhauchte. Ich hatte in der Zeit auf dem Boot oft an ein Schreibprojekt gedacht, aber bis dahin nie den Anfang gemacht. Als wir nach knapp drei Wochen auf der Azoren-Insel Flores wieder festen Boden unter den Füssen hatten, erfreuten die Figuren sich eines ziemlich fortgeschrittenen Eigenlebens - und mir selbst war klar: Ich schreibe einen Roman.“
Schreibsommer in Lissabon
Peter war es gewohnt, zuzuhören. Als Unternehmensberater hatte er es mit den Egos von Kunden zu tun, die man besser ausreden lässt, wenn man sie behalten will. Jetzt meinte er: „Du hattest schon immer ein gesundes Selbstbewusstsein.“ Ich war in Fahrt gekommen. Und berichtete meinem Gegenüber gleich auch vom Schreibsommer in einer Marina im Fluss Tejo in Lissabon, vom surrenden Ventilator im Boot, der mir am Navigationstisch bei 30 Grad am Schatten kühle Luft zufächelte. Und dass ich, wenn ich es nicht mehr aushielt, auf die Hafenpromenade tigerte und zur Abkühlung in einer Bar Cola mit viel Eis bestellte.
Meine Phantasie war in jener kreativen Phase überaktiv und in einem dauernden Erregungszustand, der meine Aufmerksamkeit schärfte. „Wenn ich auf den Bus wartete, stellte ich mir vor, dass ich die Frau neben mir mit der grünen Stofftasche heiraten würde. Die Unbekannte war erfolgreiche Malerin, Vegetarierin, ihr Bruder hingegen ein Fettsack, smart, der mich – das wusste ich jetzt schon - hassen würde.“ Peter lachte, und ich fügte bei: „Manchmal dachte ich, diese Dauerphantasie sei nicht mehr normal.“
Wir kamen in St. Margrethen an und mussten unverhofft umsteigen. In Zeiten des Taktfahrplans bedienen die Züge willkürlich erscheinende Strecken. Während wir auf den Anschluss warteten, meinte Peter: „Du hättest mir das Manuskript zum Lesen geben können.“ Ich antwortete: „Meine erste Leserin war Agnes.“
Das Verdikt der Gattin
Peter kennt meine Frau; wir beide sind in die gleiche Klasse gegangen. Da literarisch besser gebildet, hatte Agnes bei Ludwig einen höheren Rang als ich und diesen auch Zeitlebens behalten. „Eines Tages gab ich ihr gut 300 ausgedruckte, schlecht gebündelte A4-Seiten und kündigte an, dass ich nach Fatima fahre. ‚Ich halte es nicht aus, zuzuschauen, wie Du das liest den ganzen Tag‘, sagte ich zu ihr“
Ich wusste, was Peter nun dachte: „Achtung, Beziehungskrise!“
„Als ich abends von meiner Pilgerreise zum Boot zurückkehrte, sass Agnes draussen im Cockpit, und hatte sich gerade eine Zigarette angezündet. Ich schaute Sie an, und sie mich - und dann sagte sie: ‚Sie können schreiben.‘“
Am Grab des Lehrers
„Du flunkerst“, sagte Peter. „Ehrenwort! Kritik gab es dann natürlich auch, noch am selben Abend...Meine Frau konnte nicht begreifen, wie ich die Japan-Kapitel hatte schreiben können, ohne Japan zu kennen: ,So geht das nicht‘, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die ich an ihr nicht kannte. Da hatte ich die Wahl, entweder das Manuskript in den Abfallsack der Bordküche zu stopfen – oder nach Japan zu fliegen.“
Peter und ich kamen jetzt endlich in Au an, stiegen aus und machten uns auf den Weg, der Hauptstrasse entlang, Richtung Kirche. Unser Gespräch lief nun nicht mehr richtig. Und als wir kurze Zeit später vor einer kleinen Steinplatte standen, waren wir beide verlegen: „Ludwig Rohner (1924 – 2009)“. Denn für diesen Moment gibt es nichts, was man jetzt sagen könnte oder müsste, keine Redewendungen oder ein erprobtes Ritual. Der Lehrer selbst hätte den langen Augenblick des Verweilens wohl mit einem seiner resoluten „Guet!“ beendet oder sich, die Hände auf dem Rücken, plötzlich wortlos abgewandt.
Ausserhalb der Google-Welt
Auf jeden Fall wäre man bald in einer Wirtschaft eingekehrt, er hätte Wein bestellt und die Schülerrunde mit Geschichten, Sarkasmen, Klatsch, sicheren Pointen und gescheiten Exkursen über Literatur und Philosophie unterhalten, unterbrochen nur von seinem „Guet“, wenn ihm selbst ein Thema zu lang geraten war.
Irgendwann sagte ich “Ja, ok“, und auch Peter wandte sich zum Gehen. Als wir zum Bahnhof zurück kamen, rief uns die Kioskfrau zu: „Händer‘s gfonde?“ Weil Friedhöfe auf den Apps der Smartphones nicht zu den „interessanten Orten“, den POI in der Google-Welt, zählen, hatten wir uns nach der Ankunft bei ihr nach dem Weg erkundigt. „Ja, vielen Dank nochmals“, sagten wir.
Im Zug sprach Peter davon dass er noch ein paar Jahre „machen“ wolle. „Ich werde langsam ein paar Kunden abgeben; auf jeden Fall keine neuen mehr annehmen.“ Dann schwieg er einen Moment: „Du hast es gut, Du hast Dich einfach frühpensionieren lassen.“
Glück mit dem Verlag
Dann meinte er unvermittelt: „Es ist nicht lustig, keinen Verleger zu finden.“
„Woher weisst Du das“, fragte ich.
Und Peter erzählte, er habe vor ein paar Jahren an einer Broschüre gearbeitet und dann dummerweise allen erzählt, dass er niemanden finde, der sie veröffentlichen wolle. „Das war schlimm. Die Leute hatten Mitleid, ich war ein klassischer Looser. Gottseidank wendete sich dann das Blatt und das Werk wurde doch noch gedruckt.“
Ich sagte, genau so sei es mir auch gegangen. Ich verzweifelte ob all den in Watte gepackten Absagen („…haben wir Ihr Manuskript gerne gelesen, sogar zu zweit, bedauerlicherweise…“) von gescheiten jungen Literaturagentinnen.
Erst dachte ich trotzig, es wird nie ein Bestseller, was nicht wenigstens zwei Dutzend Absagen bekommen hat. Dann war ich verzweifelt – und irgendwann hatte ich - wie Peter - einfach Glück und fand meinen Verlag und wurde gedruckt.
Wie beim ersten Velo
Ich schilderte Peter meinen grossen Moment: „Anfang März war endlich ein Tag vereinbart , da ich mein Buch zum ersten Mal mit den eigenen Augen erblicken sollte. An dem Morgen fuhr ich freudig gespannt mit meinem alten Kombi nach Zürich und konnte es kaum erwarten, beim Verlag an der Quellenstrasse einzutreffen. Ich rannte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal, so kam es mir vor. Ich klopfte nicht einmal an und erblickte schliesslich in einem der Büros Heinz, meinen Lektor. Er war gerade dabei, Dutzende von Exemplaren auf einem Pult zu stapeln.
„Macht Ihr den Vertrieb selber“, fragte mich Peter.
„Unterbrich mich jetzt nicht“, sagte ich etwas ungehalten. „Es war unbeschreiblich: Vergleichbar mit dem ersten Velo als Junge, dem Matura-Zeugnis später oder der Geburt des ersten Kindes.“
„Als ich das Buch schrieb im Sommer 2012 in Lissabon, hatte ich mich nie als Autor gefühlt. Erst jetzt, als ich im Verlagsbüro ziellos in „Bens Fukushima“ blätterte und mein Glück nicht fassen konnte, realisierte ich, dass ich ein Buch geschrieben hatte, ja dass es sogar gedruckt worden war und gerade das Licht der Welt erblickte.“
„Ludwig hat mehrere wissenschaftliche Werke veröffentlicht“, meinte Peter nun.
“Ja“, antwortete ich. „Einholen werde ich ihn sicher nie.“
(Dieser Beitrag ist auch in der „Ostschweiz am Sonntag“ erschienen)
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Thomas Rüst „Bens Fukushima“, edition 8 Zürich 2014 351 Seiten. www.thomasruest.com
Der Roman handelt von einem 32-jährigen erfolgreichen Schweizer IT-Fachmann, der am Abend der Katastrophe von Fukushima sein Leben auf den Kopf stellt. Er reist nach Japan und als er zurück kommt, ist er ein anderer: Er beginnt, als moderner Schatzsucher im Meer der Datenbanken nach Informationen zu suchen, die schliesslich die die Stromindustrie erschüttern.Bens Geschichte nimmt einen dramatischen Verlauf, als Katja, die Ex des Schatzsuchers und erfolgreiche Fernsehfrau, die Schlagzeilen zum Thema in ihrer Talkschau macht und der Skandal ein erstes Opfer fordert.