Vom 16. bis zum 27. Mai konkurrieren in der Sélection officielle einundzwanzig Filme um die Goldene Palme, während die Nebensektionen ausser Wettbewerb gegen vierzig Produktionen zeigen, darunter eine «Indiana Jones»-Folge von James Mangold und Martin Scorseses «Killers of the Flower Moon». Mit «Jeanne Du Barry» der französischen Regisseurin Maïwenn wird das Festival eröffnet – Johnny Depp in der Rolle von Louis XV.
Ist «Cannes» weiterhin das wichtigste Treffen der Filmbranche? Im besten Fall bieten die an der Côte d’Azur vorgestellten Langspielfilme einen Einblick in die ästhetischen Tendenzen des zeitgenössischen Filmschaffens – selbst wenn die innovativsten Werke meist im Rahmen der «inoffiziellen» Programmgefässe gezeigt werden, insbesondere die Filme «Semaine de la critique» und «Quinzaine des cinéastes». Im Gegenzug verspricht die Projektion der Werke an der Croisette zum «Game Changer» zu werden, so Iris Knobloch, die neue Präsidentin des Festivals, da oftmals das Gütesiegel der «Sélection officielle» allein einem Film den Weg in den Kinosaal ebnen kann.
Kunst und Industrie
Nirgends jedenfalls lässt sich André Malraux’ Satz, dass der Film eine Kunst «und im Übrigen auch eine Industrie ist», besser verifizieren. Und selten, vermutlich, waren diese beiden oft antagonistischen Dimensionen der traditionellen Filmproduktion auf eine härtere Probe gestellt als heute: Während die Kinosäle auch zwei Jahre nach den pandemiebedingten Restriktionen noch mit schwankenden Zuschauerzahlen konfrontiert sind, stellen die digitalen Plattformen stets vermehrt das Gleichgewicht der herkömmlichen Finanzierung in Frage.
Allein die Tatsache, dass die von Netflix produzierten Filme weiterhin vom Wettbewerb ausgeschlossen bleiben, verleiht dem Festival denn auch eine (diskrete) Aura von Widerstand; ob sich diese «Voie royale» auf die Länge halten lässt, ist allerdings fraglich. Eine solide Verteidigungslinie bilden zurzeit noch der rote Teppich, der jeweils den Hintergrund zu vielbeachteten (glamourösen wie skurrilen) Promotion-Auftritten bietet, sowie der im Sous-Sol des Festivalpalasts domizilierte Filmmarkt, auf dem die «nationalen» Filmrechte verhandelt werden und der für die Profession weiterhin eine zentrale Bedeutung besitzt. Langfristig wird sich das Festival jedoch auf eine Vernunftehe mit den Plattformen einlassen müssen, zumal sich die Fronten in jüngerer Zeit ohnehin aufgeweicht haben: Apple etwa, Koproduzent von Scorsese, hat eingewilligt, «Killers of the Flower Moon» vor einer Ausstrahlung via Apple TV+ in den Kinos zu programmieren.
Prominenter Auftritt Chinas
Notabel bezüglich des Angebots ist die Präsenz der Regisseurinnen: Allein im Wettbewerb sind sieben von Frauen inszenierte Filme vertreten, die «Quinzaine des réalisateurs», aus Paritätsgründen seit Jahresbeginn in «Quinzaine des cinéastes» umbenannt, zählt knapp 40 Prozent Filmemacherinnen. Im Programmsegment «La semaine de la critique» wurde erstmals die Geschlechterparität erreicht.
Weiter zeichnen sich in der diesjährigen Ausgabe des Festivals zumindest geografische Tendenzen ab. Filmisches Neuland bietet die Mongolei, die in Cannes mit «If only I Could Hibernate» von Zoljargar Purevdasch erstmals (ausser Wettbewerb) mit einer «langen» Produktion in der offiziellen Auswahl vertreten ist. Erfreulich ist auch, dass sich, vier Jahre nach Mati Diops «Atlantique», mit Ramata Toulaye Sy erneut eine senegalesische Regisseurin um die Palme d’Or bewirbt. In der Sektion «Un certain regard» wird die belgisch-kongolesische Ko-Produktion «Augure» des Regisseurs Baloji zu sehen sein.
Mit den Filmen von Shujun Wie, Anthony Chen und Wang Bing – der dieses Jahr zwei Werke zeigen kann, darunter «Jeunesse (le printemps)», im Wettbewerb – wird auch China einen prominenten Auftritt haben, während Südkorea, eines der spannendsten Filmländer der jüngeren Zeit, in der offiziellen Auswahl mit drei Produktionen präsent ist. Brasilien, unter anderem durch Karim Aïnouz und Kleber Mendonça Filho vertreten, wird, wenn man die Nebensektionen berücksichtigt, mit insgesamt fünf «abendfüllenden» Arbeiten aufwarten. Hier wird vor allem die formale Kreativität – das Angebot reicht vom Historienfilm bis zur Illustration der amazonischen Mystik – interessant zu beobachten sein.
Drei Produktionen aus Italien
Anregend nimmt sich auch die Präsenz der Produktionen aus, die aus dem arabischen, beziehungsweise islamischen Kulturraum stammen. Mit Kaouther Ben Hania ist eine tunisische Regisseurin in der Compétition vertreten, die in «Les filles d’Olfa» das Politische im Privaten sucht, während die Iraner Ali Asgari und Alireza Khatami ein «Figurenpanorama aus Teheran» ankünden (in der «Un certain regard»). Mit Neugierde wird man auch «Goodbye Julia» des Sudanesen Mohamed Kordofani entdecken: Sein Blick auf das soziale Gefälle in der Gesellschaft Khartums verspricht, ein Licht auf die 2011 erfolgte Landesteilung zu werfen.
Einen bemerkenswerten Akzent setzte das Auswahlkomitee um den künstlerischen Leiter Thierry Frémaux auch im Wettbewerb, in den dieses Jahr gleich drei Produktionen aus Italien aufgenommen wurden: neben «Il sol dell’avvenire» von Nanni Moretti und Alice Rohrwachers «La Chimera» wird im Auditorium «Lumière» auch «Rapito» des Altmeisters Marco Bellocchio zu sehen sein.
Solide Arbeiten
Kann dieser Schwerpunkt als Symptom einer wiedergefundenen Vitalität des italienischen Filmschaffens gewertet werden? Zwischen der Nachkriegszeit und den siebziger Jahren hatten der Neorealismus und Cinecittà dem Weltkino zu einem Grossteil seiner Meisterwerke verholfen. Ruft man sich den bisherigen Filmkatalog der präsenten Cineasten in Erinnerung, so kann man heute mindestens in stilistischer Hinsicht solide Arbeiten erwarten – ansprechend ist zweifellos auch die Tatsache, dass die Filme Italien jeweils aus unterschiedlichen «generationellen» Perspektiven betrachten.
Dass der Hang zur Erneuerung nicht die dominante Tendenz bildet, lässt wiederum ein Blick auf das übrige Wettbewerbsangebot erkennen: Neben Moretti konkurrieren dieses Jahr auch Nuri Bilge Ceylan, Hirokazu Kore Eda und Wim Wenders um eine zweite Palme, Ken Loach könnte am 27. Mai sogar eine dritte Auszeichnung davontragen. Auch Ruben Östlund, der diesjährige Jurypräsident, wurde 2022 (für «Triangle of Sadness») mit einer zweiten Palme d’Or bedacht.