Zwei Tage nach seiner Wahl zum neuen somalischen Präsidenten trifft Hassan Sheikh Mohamud in einem Hotel in der Hauptstadt Mogadischu den kenianischen Aussenminister. Plötzlich explodieren Bomben, Schüsse fallen. Acht Menschen sterben, darunter zwei Selbstmordattentäter und ein Leibwächter. Der Präsident bleibt unverletzt. Die radikal-islamistischen Shabab-Milizen übernehmen die Verantwortung. Der neue Präsident, sagen sie, sei eine Marionette des Westens.
Das Attentat zeigt, dass die Shabab-Milizen noch keineswegs geschlagen sind. Vor allem aber ist der Anschlag auch ein Dämpfer für den Optimismus, der sich in den letzten Wochen und Tagen in dem zerrütteten Land breitgemacht hat.
Keine funktionierende Polizei
Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hat Somalia wieder eine provisorische Verfassung. Zum ersten Mal auch wurde ein Parlament bestellt. Und zum ersten Mal seit 1991 hat Somalia wieder einen gewählten Präsidenten.
Doch die Sicherheitslage bleibt prekär. „Unsere erste Priorität ist die Sicherheit“, sagte Präsident Mohamud nach dem Attentat. „Unsere zweite Priorität ist die Sicherheit und unsere dritte Priorität ist die Sicherheit“.
Das Hauptproblem ist, dass es keine funktionierende somalische Polizei und keine wirkliche somalische Armee gibt. Die einzigen Sicherheitskräfte sind einige tausend Soldaten vor allem aus Burundi, Uganda und Kenia. Sie gehören der AMISOM an (African Union Mission in Somalia), der Friedenstruppe der Afrikanischen Union.
Unbezahlte Polizei, unbezahltes Militär
“Der Staat hat kein Geld, er kann seine Polizisten und Soldaten nicht bezahlen.” Dies sagt uns Bashir Gobdon , ein somalischer Vertreter in der Schweiz. Gobdon ist Gründer des somalisch-schweizerischen Kulturvereins. Er ist vor wenigen Tagen von einem Aufenthalt in Somalia zurückgekehrt.
“Zwar hat die Bevölkerung Vertrauen in die Soldaten der AMISOM”, sagt er, “doch das genügt nicht.” Das Land müsse jetzt eine eigene Polizei, ein eigenes Militär aufbauen. “Wir erwarten vom neuen Präsidenten, dass er Polizisten und Soldaten entlöhnt, damit sie die eigene Bevölkerung schützen können.”
"Die Shabab-Milizen sind heute schwach"
Bashir Gobdon, der seit 1988 in der Schweiz lebt und die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt, steht in engem Kontakt zu seinem Heimatland. Er ist überzeugt, dass die islamistischen Shabab-Milizen jede Unterstützung im Volk verloren haben. Die Shabab stehen in Verbindung zur al-Qaida.
“Die Shabab-Milizen sind heute schwach, sie haben die Bevölkerung gegen sich. Die Menschen wollen Normalität, sie haben jedes Vertrauen in die Shabab verloren. Sie sät nur noch Hass. Sie schiesst auf Soldaten und die Bevölkerung.”
Die islamistischen Milizen sind in den letzten Wochen stark zurückgedrängt worden. Sie kontrollieren offenbar noch die südsomalische Hafenstadt Kismayo und einige Flecken in Zentralsomalia. Doch das jetzige Attentat zeigt, dass sie auch in der Hauptstadt noch immer zu Einzelaktionen fähig sind.
Die Stammeschefs wählen ein Parlament
Trotz der prekären Sicherheitslage ist Somalia auf einem vielversprechenden Weg.
Zum ersten Mal seit dem langen Bürgerkrieg hat Somalia wieder ein Parlament. Gewählt wurde es nicht vom Volk, sondern von 825 Stammesvertretern. Die vier Hauptstämme, die es in Somalia gibt, haben Anrecht auf je 61 Sitze. Weitere 31 Sitze gehen an eine “gemischt-stämmige Fraktion”.
Westliche Kritiker, die sagen, dass dies keine echte demokratische Wahl gewesen sei, vergessen, dass 85 Prozent der Somalier Analphabeten sind. 90 Prozent sind arbeitslos, 70 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Wegen der Dürre brechen immer wieder Hungersnöte aus. Die meisten Menschen sind verarmt und ohne jedes politische Wissen. Viele sind Nomaden oder Halbnomaden. Eine echte Volkswahl hätte - im gegenwärtigen Zeitpunkt - Tür und Tor zu Manipulationen geöffnet und kaum ein stabiles Parlament hervorgebracht.
"Ich wollte dabei sein"
Die von den Stammeschefs bestimmten Parlamentarier haben sich jetzt in einer grossen Halle in Mogadischu versammelt. “Ich wollte bei diesem denkwürdigen Ereignis dabei sein”, erzählt uns Bashir Gobdon. “Menschen, die sich vorher gehasst und jahrelang bekämpft haben, befanden sich plötzlich im gleichen Raum. Ich habe mit ihnen gesprochen, das war wunderbar. Ich war stolz, dabei zu sein.” Die Stimmung war seltsam. Ein Drittel der Parlamentsmitglieder müssen Frauen sein. “Die Frauen haben sich immer wieder intensiv zu Wort gemeldet. Viele Männer hatten noch Mühe damit, dass sich die Frauen immer einbrachten.”
Ziel der Versammlung war es, die neue Verfassung zu diskutieren. Vieles ist noch unklar, vieles auch wurde auf die lange Bank geschoben. So sind in der neuen Verfassung noch nicht einmal die territorialen Grenzen festgelegt. Seit jeher hat Somalia Anspruch auf den heute zu Äthiopien gehörenden Ogaden erhoben. Dieses Thema wurde jetzt ausgeklammert. Ebenfalls unklar ist noch das Mündigkeits- und Heiratsalter. Trotz diesen Ausklammerungen: Ein erster wichtiger Schritt wurde getan.
Ziel: ein föderalistischer Staat à la Schweiz
Somalia wurde 1960 unabhängig. Das Land entstand aus dem Zusammenschluss des nördlichen Britisch Somaliland und des südlichen Italienisch Somaliland. Das neue Gebilde war ein streng zentralistisch regierter Staat. Die Idee ist jetzt, einen föderalistischen Bundesstaat à la Schweiz zu organisieren.
Diesem Bundesstaat würden dann unter anderem Somaliland angehören, das sich 1991 von Somalia abgespaltet und für unabhängig erklärt hat. Auch die heute autonomen Regionen Puntland, Galmudug und Jubaland würden dazu gehören. Da die Somalier zu fast 100 Prozent Sunniten sind, gibt es keine religiösen Konflikte.
Längerfristig möchte Somalia ein Zweikammern-System einführen. Die jetzt bestimmten Parlamentarier gehören der Grossen Kammer an. Später soll auch – analog zum schweizerischen Ständerat – ein Senat gewählt werden, dessen Mitglieder einzelne Regionen vertreten. Ob die Senatoren dann wieder von Stammeschefs oder vom Volk gewählt werden, ist noch unklar. Da einzelne Gebiete immer noch von den Shabab-Milizen kontrolliert werden, ist im Moment eine solche Senatswahl nicht möglich.
"Wie können wir korrupt sein? Wir haben kein Geld"
Das Land war über zwanzig Jahre ohne Regierung. Ohne Hilfe aus dem Ausland wird es Somalia nicht schaffen. Bis eine funktionierende Polizei aufgebaut ist, müssen die Soldaten der AMISOM im Land bleiben.
Laut dem Transparency-Index sind Somalia und Nordkorea die korruptesten Länder auf Erden. Doch Bashir Gobdon entrüstet sich. „Wie können wir korrupt sein, wir haben ja alle kein Geld?“ Korrupt seien die UNO-Mitarbeiter, die von Kenia aus das Geld verteilen. „Sie verfügen über 99 Prozent aller Finanzen, die für Somalia bestimmt sind. Der Präsident selbst hat überhaupt kein Geld, kein Budget.“ Gelder würden von UNO-Mitarbeitern verschwendet für luxuriöse Hotels und teure Flüge. Zudem gebe es einige ganz reiche Somalier, die keine Steuern zahlten und zum Teil mit den Piraten und den UNO-Mitarbeitern zusammenarbeiten.
Aufbruchstimmung in Mogadischu
Bashir Gobdon verfolgt die Entwicklung in seiner Heimat genau. Er sieht es als seine Aufgabe an, die 8000 in der Schweiz lebenden Somalier zu informieren, was in seinem Land läuft. Beim interkulturellen Zürcher Radio „Lora“ moderiert er seit 14 Jahren regelmässig eine Sendung, in der er seine Landsleute über die Zustände in Somalia auf dem Laufenden hält.
Gleichzeitig informiert er sie über das schweizerische, föderalistische Politsystem. Ferner arbeitet er als interkultureller Dolmetscher und betreut zwei Hilfswerke, unter anderem den "Förderverein Neue Wege für Somalia".
Bashir Gobdon hat Hoffnung. In Mogadischu sei eine Aufbruchstimmung zu spüren. Dem Bürgermeister der Hauptstadt gelinge es, den Leuten Hoffnung zu machen, sie zu motivieren und auch zu Freiwilligenarbeit anzuregen. Seit der Vertreibung der Shabab-Milizen sei die Stadt wieder lebendig geworden, doch noch überall sehe man viele bettelnde Frauen und Kinder. Viele Menschen können nur überleben, weil sie Hilfe von Somaliern erhalten, die ins Ausland geflüchtet waren.
Ein aufrichtiger Mann
Hoffnung besteht steht auch, weil der neue Präsident, ein Pädagogik-Professor, nicht Teil des Establishments ist und nicht mit den oft kriminellen Warlords verbandelt ist. Präsident Hassan Scheich Mohamud gilt als aufrichtiger Mann, der den Wechsel verkörpert. Er steht vor riesigen Aufgaben.
Das Parlament muss die Verfassung endgültig verabschieden. Eine vertrauenswürdige Polizei muss aufgebaut werden. Die Shabab-Milizen müssen endgültig besiegt werden. Kann der Präsident die meist kriminellen Warlords neutralisieren? Kann er die Piraterie eindämmen? Ein föderalistisches Staatssystem mit einer zweiten Kammer muss aufgebaut werden. Funktionierende Behörden gibt es keine, ebenso wenig ein Bildungssystem. Woher kommt das Geld für den Aufbau? Kann der Präsident einen Ausgleich zwischen den vier Hauptstämmen schaffen? Wie kann er die darniederliegende Wirtschaft ankurbeln? Wie kann er ausländische Investoren überzeugen, ausgerechnet in einem der gefährlichsten Länder der Welt zu investieren?
21 Jahre Krieg, Dutzende unfruchtbare Friedenskonferenzen. Zum ersten Mal gibt es wieder Hoffnung. Ein Hauch von Hoffnung.