Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und Mitglieder der EU-Exekutive mochten ihre Worte beim Besuch in Kiew noch so sorgfältig wählen – für die ukrainische Öffentlichkeit hörte und las sich alles weniger abwägend, weniger nüanciert, als es von der Seite Brüssels gemeint sein konnte.
«Start von Verhandlungen» noch in diesem Jahr forderte Präsident Selenskyj, und niemand im Kreis der Besucherinnen und Besucher wagte es, darauf mit Nein zu antworten. Alles blieb offen und die Stimmung erfüllt von den Schuldgefühlen der Kommissions-Mitglieder, die nach dem medial hoch professionell aufgezogenen Auftritt in Kiew wieder in die vom Glück gesegnete Welt jenseits der Reichweite russischer Raketen und Bomben zurückreisen konnten. Dass auch sie alle mit dieser Reise persönliche Risiken eingegangen waren, soll auch in einer kritischen Durchleuchtung des Resultats der Gespräche EU–Ukraine in Kiew nicht vergessen werden.
Warum die Ukraine und nicht wir?
Warum Hoffnungen, die nicht erfüllt werden können? Weil niemand voraussehen kann, wie sich die Ukraine nach einem Ende des Kriegs entwickeln wird. Vor Kriegsbeginn befand sich das Land in manchen Bereichen in einer labilen Situation. Es gab zwar Fortschritte in bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Transparenz, aber von Standards, wie die EU sie für Mitglieder einfordert, war das Land noch weit entfernt.
Oligarchen hatten, auch nach der Wahl Selenskyjs im Jahr 2019, grossen Einfluss in der Politik, und was Korruption betraf, so befand sich die Ukraine, vor dem Krieg, auf dem unrühmlichen Platz 121. Wird sich das nach einem Ende des Konflikts grundsätzlich ändern? Wird sich die Ukraine besser entwickeln als, beispielsweise, jene Länder im Balkan, die seit Jahren auf eine substantielle Annäherung an die Europäische Union hinarbeiten – Montenegro und Serbien verhandeln mit der EU, Albanien und Nord-Mazedonien hoffen einen Termin für den Beginn von Verhandlungen, Bosnien-Herzegowina hat einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, aber von Brüssel noch keinen Termin für den Beginn von Verhandlungen erhalten. Und auch Kosovo ist im Wartesaal. Warum, so fragen sich wohl die Verantwortungsträger in den Hauptstädten dieser Länder, soll die Ukraine nun das Privileg erhalten, die Direttissima zu begehen?
Korruption, ganz unten
Bei der Bekämpfung der Korruption, das sagen Politikerinnen und Politiker aus EU-Kreisen immer wieder, habe die Ukraine grosse Fortschritte gemacht. Doch was wird da gemessen, was nur geschätzt? Für die Medien ist Korruption meistens ein Problem auf hoher Ebene – aktuell etwa, dass relativ hohe Beamte und Vizeminister in Kiew überführt worden sind, Bestechungsgelder angenommen zu haben.
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die wirklich problematische Korruption, fühlbar für die normalen Bürgerinnen und Bürger eines Landes, ganz anderswo stattfindet, nämlich ganz unten – bei der Begegnung mit dem Polizisten, dem Beamten in einer Behörde, dem Krankenpfleger, allenfalls dem Arzt. Und warum ist diese Alltags-Ebene das grosse Problem? Weil der Polizist, der Beamte, der Krankenpfleger etc. einen Lohn erhält, der nicht ausreicht, um die Familie vom ersten bis zum letzten Tag des Monats über Wasser zu halten. Also muss/müsste ja wohl da angesetzt werden, wenn Korruption wirklich effizient bekämpft werden sollte. Das heisst, ein Staat wie die Ukraine muss/müsste das Lohn- und Gehaltsschema tiefgreifend umkrempeln. Ist er dazu imstande, sind seine Verantwortungsträger auf den verschiedenen Ebenen bereit, eine solche Herkules-Aufgabe zu erfüllen? Das kann niemand voraussagen – schon gar nicht während des Verteidigungskriegs der Ukraine gegen Putins Angriffswalze.
Schwachen Volkswirtschaften helfen
Vielleicht gibt es noch Wichtigeres, wenn es um die Frage geht, ob oder wann die EU Verhandlungen mit der Ukraine beginnen könnte. Das Wesentlichste lässt sich wohl aus der Wirtschafts-Statistik herauslesen. Und da sieht es selbst für eine Ukraine, die sich (was Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern wird) vom russischen Zerstörungskrieg erholt hätte, nicht gut aus. Man muss ja wohl davon ausgehen, dass dieses Land, im besten der denkbaren Fälle, etwa dort wieder beginnen würde, wo es vor dem 24. Februar 2022 stand. Das würde heissen: wirtschaftliche Leistung pro Arbeitskraft etwa ein Drittel des EU-Durchschnitts.
Die EU anderseits verfolgt die Strategie, schwache Volkswirtschaften so anzuheben, dass sie innerhalb eines (von der EU nirgendwo festgeschriebenen) Zeitraums den europäischen Durchschnitt erreichen. Konkreter: dass sie keine Zuschüsse aus den Kassen anderer EU-Mitglieder mehr beziehen müssen. Dass das ein sehr langwieriger Prozess sein kann, hat die Europäische Union bereits erfahren – darunter leidet sie, respektive leiden bestimmte Länder noch immer. Die grosse «Osterweiterung» fand 2004 statt, mit der Aufnahme u. a. der baltischen Länder, Polens und Ungarns. 2007 folgte die Erweiterung durch die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens. Jetzt, 2023, beziehen, beispielsweise, Polen pro Jahr noch immer fast 13 Milliarden aus dem EU-Finanztopf, Rumänien und Ungarn gut 4 Milliarden.
Wie lange müsste die «alte» EU die Ukraine finanzieren?
Wenn Polen schon 18 Jahre lang, Rumänien 15 Jahre lang Milliardensummen aus der «Brüsseler» Kasse bezieht, wie lange, das überlegten sich die EU-Kommissionsmitglieder bei den Gesprächen in Kiew mit hundertprozentiger Sicherheit, wird oder würde dann die Ukraine Hilfe beanspruchen? Oder anders formuliert: Wie lange werden oder würden die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen in den «alten» EU-Ländern bereit sein, die Aufnahme der Ukraine zu finanzieren?
Vorläufig bleibt es wohl dabei, dass die Europäische Union Gelder für den Wiederaufbau der durch die russischen Raketen zerstörten Infrastruktur frei gibt. «In diesem Jahr beträgt der Bedarf 17 Milliarden US-Dollar», sagte der ukrainische Ministerpräsident Schmyhal. Zudem will sich die EU bei der Minenräumung engagieren und 30'000 ukrainische Soldaten trainieren. Womit sie, über den Bereich des Wirtschaftlichen und Politischen hinaus, bereits in eine ihr eigentlich fremde Sphäre des Militärischen gerät. Es braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, dass die Europäische Union sich selbst eine Zeit grosser Unruhe und Ungewissheit beschert hat.