Aki Kaurismäki zählt seit den 1980er-Jahren zu den prägenden Arthouse-Cinéasten. «Fallen Leaves» ist das erste Werk des Finnen nach sechs Jahren. Ein lakonisches, empathisches Liebesdrama im proletarischen Milieu von Helsinki, randvoll mit vertrauten Stil-Elementen und zauberhaften Surprisen.
Die Story um die bescheidene, aber konsequent agierende Supermarkt-Mitarbeiterin Ansa und den Bauarbeiter Holappa ist vom ersten Bild weg exakt das, was Film-Aficionados von Aki Kaurismäki erwarten – und doch deutlich mehr als ein repetitives Déjà-vu. Zwar bietet der Film unterkühlt-minimalistisches Storytelling mit enormem Witz, aber «Fallen Leaves» ist als zeitnah verortetes Drama von einem herb-zärtlichen, melancholischen Schalk umflort, wie man das beim finnischen Maestro so noch nicht gesehen hat.
Wie meistens, ist der Schauplatz Helsinki, und «Fallen Leaves» wirkt wie ein spät nachgereichtes Zusatzkapitel zu Kaurismäkis gefeierter, zwischen 1986 und 1990 entstandenen Proletarier-Trilogie «Shadows in Paradise», «Ariel» und «The Match Factory Girl». Mit ihr hat der Autorenfilm-Pionier eine Karriere begründet, die ihn weit über den europäischen Kulturraum hinaus zu einem Guru der avantgardistisch-urbanen Bohème-Filmszene machte. So, wie es der Kritiker Vincent Canby 1992 in der «New York Times» formulierte: Kaurismäki ist «einer der markantesten und eigenwilligsten neuen Künstler des Kinos und möglicherweise auch einer der ernsthaftesten. [Er] könnte sich durchaus als der bahnbrechende europäische Filmemacher der 90er-Jahre erweisen.» Wohl wahr.
Kaurismäkis Comeback
2017 hatte Kaurismäkis «The Other Side of Hope» an den Internationalen Filmfestspielen Berlin Premiere, eine bewegende Story um einen syrischen Flüchtling, der in der finnischen Hauptstadt einen Neuanfang wagt. Das Werk wurde mit dem «Silbernen Bären für die beste Regie» ausgezeichnet. In diesem Kontext kündigte der damals erst 60-jährige Preisträger an, seine Berufslaufbahn beenden zu wollen. Sechs Jahre und eine harte Pandemiephase später gab er am Filmfestival in Cannes 2023 ein Comeback: Mit «Fallen Leaves» wurde er zum fünften Mal in den Wettbewerb des renommiertesten Filmfestivals eingeladen. Sein Film gewann den «Preis der Jury».
Einmal mehr dreht sich im Opus alles um etwas zerknittert anmutende Figuren, die sehnsüchtig nach Liebe sind, um gemeinsam die paralysierende Realität eines mittellosen und an Perspektiven armen Lebens erträglicher zu gestalten. Die Welt dieses Films ist die des globalisierten Kapitalismus, wo Reiche immer reicher werden auf Kosten von zunehmend mehr «Abgehängten». Schön, dass der Filmkünstler Kaurismäki immer noch mit Verve darauf hinweist, dass die Möglichkeit der Erlösung von existenziellen Alltagsleiden im solidarischen Schulterschluss mit ähnlich Ungleichgestellten schlummern würde. Und dass es sich, allen Trübnissen zum Trotz, immer noch lohnt, ab und Vollgas zu geben beim Kampf in den Niederungen des Daseins.
«Ich trinke zuviel, weil ich deprimiert bin …»
Diese Haltung ist in der aufkeimenden Paarbeziehung in «Fallen Leaves» unerlässlich: Ansa ist eine intelligente, reserviert-vorsichtige, hellwache Frau mit empathischen Lebensprinzipien. Im Supermarkt, in dem sie arbeitet, überprüft sie die Verfalldaten von Lebensmitteln. Sind selbige auch nur knapp überschritten, muss sie eigentlich alles wegschmeissen. Was nicht nur sie als Blödsinn empfindet. Ab und an verteilt sie ein paar Produkte an Bedürftige oder nimmt etwas für sich selber mit nach Hause. Als sie von einem tumben Security-Mann denunziert wird, verliert sie ihre Anstellung. Den Nachfolgejob in einer Bar ist sie subito auch wieder los, ganz ohne Eigenschuld: Der Wirt wird verhaftet, weil er in Drogendeals verwickelt ist.
Ansas männliches Gegenstück heisst Holappa, ist ein drahtiger, attraktiver Typ. Er arbeitet hart auf Baustellen, wo er mit der Maschinerie filigran umzugehen versteht. Leider kann er als Gewohnheitstrinker auch auf Arbeit das Saufen nicht lassen. Das ist natürlich ein No-Go und so hängt das Damoklesschwert einer fristlosen Kündigung dauernd über ihm. Und tatsächlich steht auch er bald auf der Strasse. Als ihn ein Freund fragt, warum er so viel trinke, meint Holappa: «Ich trinke zu viel, weil ich deprimiert bin. Und ich bin deprimiert, weil ich zu viel trinke». Mehr Kaurismäki geht fast nicht.
Schubert goes Karaoke
Um etwas Ablenkung zu finden, besuchen Ansa mit einer Freundin und Holappa mit einem Kollegen zufällig dieselbe Karaoke-Bar – vielleicht weil ein Kaurismäki-Film nie zu knapp von der Magie der populären Musik lebt und bebt. Holappas Begleiter, er ist um die fünfzig, ist auf der Suche nach einem Schatz, hat eine gute Stimme und hofft, jemanden zu beeindrucken. Er ist enttäuscht, weil der gutaussehende Holappa nicht mit ihm auftreten möchte, weil er der Meinung ist, dass «harte Jungs nicht singen».
Auf der Bühne intoniert der Hobbysänger keinen schmissigen Pop-Hit wie die meisten Gäste, sondern eine feine Schubert-Serenade. Der unerwartete Vortrag kommt gut an, das Publikum applaudiert freundlich. Und die Damen Ansa und ihre sehr selbstbewusste Freundin werden hellhörig. Letztere nimmt den Sänger umgehend ins Visier während Ansas Blick verrät, dass sie an Holappa Gefallen findet, der cool rauchend in einer Ecke steht und die Szenerie beobachtet.
Erstes Date im Arthouse-Kino
Das lässt sich gut an und bald vereinbaren Ansa und Holappa ihr erstes richtiges Date, im Kino. Nicht in einem modernen Popcorn-Blockbuster-Schuppen, sondern in einem schmucken Studio-Kino mit offensichtlich anspruchsvoller Programmierung: Draussen und im Foyer sind stilvolle Film-Plakate ausgehängt, mit Verweisen auf Perlen der Filmgeschichte von Autoren, die Aki Kaurismäki motiviert, inspiriert, geprägt haben. Etwa Robert Bresson, Jean-Luc Godard, Luchino Visconti oder Charles Spencer Chaplin. Und sehr pointiert Jim Jarmusch, der mit Kaurismäki freundschaftlich und kreativ seit langen eng verbunden ist.
Ansa und Holappa schauen sich dessen ziemlich schräge Zombie-Komödie «The Dead Don’t Die» (2019) an, über die gebildete Filmaffine natürlich stundenlang debattieren könnten. Doch das ist Ansas und Holappas Absicht nicht. Die Zwei sitzen stoisch lächelnd nebeneinander und sofort ist zu spüren, dass das, was auf der Leinwand zu sehen ist, deutlich weniger zählt als das entspannende Gefühl, mit jemandem ein Erlebnis zu teilen und dabei herauszufinden, ob daraus mehr werden könnte.
Meister der herzlichen Pointen
Natürlich ist es in einem Kaurismäki-Film stets viel zu früh für einen Kurswechsel ins Harmonische. Nach der Vorstellung ist der Abschied der beiden zwar von einem Hauch herber Zärtlichkeit umweht, Ansa gibt Holappa sogar einen Zettel mit ihrer Telefonnummer. Doch kaum haben sich ihre Wege getrennt, fällt ihm das Papierchen aus der Hosentasche.
Dumm gelaufen, weil Holappa nicht mal Ansas ganzen Namen weiss. Wie will er sie jetzt wiederfinden? Natürlich lässt Aki Kaurismäki, ein Meister der herzlichen, originellen Pointen, keinen seiner Protagonisten (unbedarfte Männer haben in seinen Plots eh oft härter zu beissen als die Frauen) völlig im Regen stehen. Und so kommt Holappa, dank einiger Geduld, zu einer Einladung zum Nachtessen bei Ansa.
Ansa und die Weltpolitik
Ansa lebt allein in einer Kleinstwohnung im Parterre ohne Chichi. Nicht einmal einen Fernseher gibt’s, dafür ein analoges Radiogerät, welches Ansa reflexartig einschaltet, wenn sie heimkommt. Dann ist jeweils ein Nachrichtensprecher zu hören, der den Stand des Ukraine-Kriegs vermeldet, der 2022 zur Drehzeit von «Fallen Leaves» begonnen hat.
Dass Kaurismäki zu aktuellen politischen oder Umwelt-Themen öffentlich und punktuell in seinem Werk Stellung bezieht, ist keine Überraschung. So lehnte er 2001 die Ehrendoktorwürde der Kunsthochschule Helsinki ab, da diese auch an eine finnische Modeunternehmerin verliehen wurde, die Pelztierzucht unterstützte. Grösseres Aufsehen erregte Kaurismäkis Protest gegen die militante US-Aussenpolitik im Irak-Konflikt in der Ära von US-Präsident George W. Bush. Im Herbst 2006 zum Beispiel, als er vehement dagegen war, dass sein Film «Lights in the Dusk» als offizieller finnischer Beitrag für eine Oscar-Nominierung in der Kategorie bester fremdsprachiger Film auserkoren wurde.
Wenn Kaurismäki in «Fallen Leaves», wie erwähnt, auf den Russland-Ukraine-Waffengang verweist, erinnert er auch daran, dass Finnland EU-Mitglied (und seit 2023 auch Nato-Mitglied) ist, aber mit Russland eine Aussengrenze von 1340 Kilometern Länge teilt. Ein Umstand, der natürlich in Kaurismäkis Heimat nachvollziehbar da und dort ein Grund zu angstvoller Sorge ist.
Dinner mit Holappa
Doch zurück zu «Fallen Leaves»: Zum Dinner bei Ansa taucht Holappa mit einem Geschenk und mit einem Anflug von James-Stewart-Eleganz auf. Ansa ihrerseits hat ihren karg bestückten Einpersonenhaushalt aufgepeppt – mit zusätzlichem Geschirr, Gläsern und Besteck. Zudem hält sie eine kleine Flasche Sekt bereit. Holappa leert sein Glas in einem Zug, ohne mit Ansa angestossen zu haben. Und man spürt, dass er frustriert ist, weil die Flasche bald leer ist.
Die Liebe, wir haben es eingangs erwähnt, wäre in einem Kaurismäki-Plot die einzige Möglichkeit, zermürbende Lebensrealitäten in den Griff zu bekommen. Aber wenn schon ein erstes Dinner so verläuft? Ein paar Abstürze später ähnelt Holappa einem schwer angezählten Preisboxer, den kein noch so fieser Manager je wieder als «Fallobst» (wie es im Faustkämpfer-Jargon heisst) in einem Schaukampf verbraten würde. Warum also sollte Ansa, die von Alkoholsucht in der eigenen Familie traumatisiert ist, überhaupt weiterhin Interesse an einem therapieresistenten Partner haben?
Analog und Digital
Kaurismäki, ein Pionier des Autorenfilms, ist noch immer in alle Facetten der Entstehung seiner Werke eingebunden und profitiert von einem eingespielten Produktionsteam. Zur «Marke Kaurismäki» gehört auch die weiterhin symbolstarke Vintage-Ausstattung, zumeist mit Exponaten aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Sie verleihen jedem Werk des Finnen eine Aura des Zeitlosen, ja des Ewiggültigen. Nicht im musealen Sinn, sondern immer von einer im Hier und Jetzt spielenden ironischen Sicht auf das Leben umgeben. Dass das auch ein jüngeres Publikum interessiert, ist unverkennbar.
Bis 2014 gab sich Kaurismäki noch als erklärter Gegner der digitalisierten Kinematographie, um dann, mit dem ihm eigenen Hang zum Understatement, festzuhalten: «Um mein bescheidenes filmisches Werk für ein potenzielles Publikum zugänglich zu halten, bin ich dazu übergegangen, es in all seinen gegenwärtigen und einigen seiner noch unbekannten Formen digital zu machen.» Das klappt bestens, weil sich an der ethischen Grundsubstanz seines Erzählstils kaum etwas verändert hat.
Zum Glück auf den Hund gekommen
Kaurismäkis kennt seine Pappenheimer, weiss ihnen aufs Maul zu schauen, entblösst ihre Schwachstellen, lässt sie aber weder ins Nichts fallen, noch gibt er sie der Lächerlichkeit preis.
Das ist etwa zu sehen, wenn er sein darstellerisches Personal in engen Bars herumhocken lässt, wo viel getrunken, geraucht und kaum miteinander geredet wird; was soll’s: Aus einer Juke-Box oder von einer lokalen Live-Band dargeboten hört man Songs, die alles sagen. Wie etwa Bob Merrills Evergreen «Mambo Italiana» von 1954, einst für die US-Stars Rosemary Clooney komponiert und von Dean Martin zum Welthit erhoben und nun in «Fallen Leaves» von Olavi Virta hinreissend eingespielt. Auf finnisch.
Und wohin führt die verkorkste Liebessache Ansa und Holappa? Ansa erfährt per Zufall, dass Holappa verunfallt ist, in einem Spital im Koma liegt. Und weil diese Frau stark, zupackend und mitfühlend ist, hat sich Autor Aki Kaurismäki eine unerwartete Pointe ausgedacht. Seine Protagonistin malocht mittlerweile in einer Fabrik, wo ihr ein herrenloser Hund begegnet, also der sprichwörtlich beste Freund des Menschen. Sie nimmt das Tier mit nach Hause, wo es Wärme, Zuneigung und Zuversicht in den Frauenhaushalt bringt. Und sich sogar als Glücksbote erweist. Wie? Mehr dazu hier nicht. Das muss man gesehen haben!
In «Fallen Leaves» wird einmal mehr belegt, dass die unzerstörbare Hoffnung auf Hoffnung keine Schimäre ist. Weil Kaurismäki mit seinem Flair für humorig unterfütterte Mitmenschlichkeit bar von Zynismus alles in seine originäre Film-Sprache zu übersetzen weiss. Und in nur 82 Minuten wieder einmal das Kunststück fertigbringt, zu zeigen, dass es nie falsch ist, jeder Chance eine Chance zu geben, damit kein einsames oder gar gebrochenes Herz erkalten muss.
«Fallen Leaves» startet am 14. September 2023.
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