Mindestens neun Häuser wurden im Karbi Anglong Bezirk im indischen Bundesstaat Assam von etwa 100 mit Messer, Pfeilen und Bogen bewaffneten Männern angezündet. Die Angreifer waren aus Nagaland gekommen und behaupteten, die Häuser stünden auf dem Gebiet von Nagaland. Schon einen Monat zuvor, im Februar, waren mehrere Häuser in Assam abgebrannt worden. Mitte März hatte die Polizei 37 Verdächtige festgenommen.
Erst vor wenigen Tagen hatten Mitglieder der NSCN (IM) Arbeiter in einem Dorf un Arunachal Pradesh überfallen, in einer später abgegebenen Erklärung aber darauf hingewiesen, der Zwischenfall stünde in keinem Zusammenhang mit den Wahlen. Zwischen dem 7. April und dem 12. Mai wählen 814 Millionen Stimmberechtigte 543 Abgeordnete des Unterhauses des indischen Parlaments.
Gefährlicher Wahlgang
Im Bundesstaat Nagaland können knapp 1,2 Millionen in 2059 Wahllokalen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. In 1536 Wahllokalen erwarteten die Behörden einen ruhigen Verlauf der Wahlen, bei 429 hingegen könnten Sicherheitsprobleme auftauchen und bei 94 der Wahllokale sei die Lage kritisch, erläuterte ein Sprecher der Wahlkommission am ersten Wahltag. Vor allem in Dimapur, dem Wirtschaftszentrum Nagalands und einwohnerstärksten Regierungsbezirk (rund 400 000 Einwohner), drohen Gefahren. Darum hat die Polizei vorsorglich Verstärkungen in die unsicheren Regionen geschickt.
Der Grund für die Spannungen ist der von der Welt vergessene, längste Guerillakampf seit dem II. Weltkrieg, der heute zwar nur noch als „low intensity conflict“, wie Militärexperten das nennen, geführt wird, aber dennoch nicht verlöschen will. Er dauert schon länger an als etwa der Unabhängigkeitskampf der Papuas im indonesischen Westpapua (seit 1964), länger als der Guerillakrieg der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (seit 1964) oder als die Auseinandersetzungen zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei und der türkischen Regierung (seit 1984). Am 14. August 1947, nur Stunden bevor Indien seine Unabhängigkeit erlangte, hatte der "Naga Nationalrat" (NNC) die Unabhängigkeit Nagalands oder Nagalims, wie die Nagas ihr Land nennen, erklärt. Sie hätten sich immer selbst regiert, argumentierten die mehr als zwanzig Stämme, die in den Bergen der südöstlichen Ausläufer des Himalaya im Grenzgebiet zwischen Indien und Myanmar siedeln.
Der Unabhängigkeitskampf der Nagas
Anders als ihre hinduistischen, buddhistischen oder islamischen Nachbarn in Assam, Manipur und dem zwischen Neu Delhi und Beijing umstrittenen Arunachal Pradesh oder in Myanmar, sind sie Christen und folgten dem nestorianischen Ritus, einer alten Lehre, die schon nach dem Konzil von Chalkedon (451 AD) als häretisch verstoßen und ins asiatische Exil vertrieben worden war, ehe sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts unter dem Einfluss amerikanischer Missionare zum Baptismus konvertierten. Ihre Herkunft ist umstritten, es wird angenommen, dass sie mongolischen Ursprungs sind. Ihre rund 20 Sprachen werden den tibetobirmanischen Sprachen zugeordnet.
Mitte der fünfziger Jahre zogen sie in die unzugänglichen Berge und entfesselten einen erbitterten Guerillakrieg gegen "die indischen Besatzer". Indien antwortete mit Militäroperationen und politischen Konzessionen und gab den Naga-Bergen – bis dahin Teil Assams – nach Beendigung des sogenannten Ersten Nagakrieges vollständige Bundesstaatlichkeit. Dennoch kam die Bergregion nicht zur Ruhe. Von Neu Delhi organisierte Wahlen wurden zur Farce, weil kaum jemand wählte. Später sicherten Geldzuwendungen und Einschüchterung zwar höhere Wahlbeteiligungen. Doch unabhängig davon, wer Nagaland regierte, der Krieg schwelte weiter. Gesprächsbemühungen scheiterten, Waffenstillstände wurden gebrochen. Die Nagas wollten die völlige Unabhängigkeit von Indien. Nach dem sogenannten Zweiten Nagakrieg (1969-1975), der wieder Tausende Menschenleben auf beiden Seiten kostete, legte der NNC die Waffen nieder.
Der Verfall der nationalen Bewegung
Nun führte der National Socialist Council of Nagaland (NSCN) den Krieg fort, griff weiterhin indische Posten und Polizeistationen an und klagte, Indien gäbe mehr Geld für den Krieg aus als für die Entwicklung des Bundesstaates. Nagaland, kaum größer als Schleswig-Holstein, zählt immer noch zu den ärmsten Gegenden Indiens. Unbefestigte und von tiefen Fahrrinnen zerstörte Straßen winden sich durch die Berge und verbinden die winzigen entlegenen Ortschaften. Eine rudimentäre Gesundheitsversorgung existiert höchstens in den wenigen Kleinstädten, die Hälfte aller Nagas sind Analphabeten.
Aufgrund von Clan-Streitigkeiten innerhalb der Rebellenführung zerfiel der NSCN 1988 in die verfeindeten Fraktionen NSCN-IM, der hauptsächlich in Indien operiert, sowie NSCN-K, so benannt nach SS Khaplang, dem Führer des Nagawiderstands in Burma. Der Forderung des NSCN-IM nach Bildung eines souveränen Staates, der alle Siedlungsgebiete der Nagas einschließen soll und Nagaland oder „Nagalim“, wie ihn die Nagas nennen, somit von derzeit rund 16 500 qkm auf 120 000 qkm Ausdehnung vergrößern würde, widersetzen sich nicht nur die Zentralregierung in Neu-Delhi und die benachbarten Unionsstaaten Arunachal Pradesh, Assam und Manipur sondern auch zwei weitere nordostindische Aufstandsbewegungen, die United Liberation Front of Assam und die Kuki National Front.
Seit beide Fraktionen Waffenstillstandsabkommen mit der indischen Regierung geschlossen haben, scheinen NSCN-IM wie NSCN-K zu kaum mehr als kriminellen Vereinigungen verkommen zu sein. Beide Gruppierungen treiben nicht nur „Steuern“ bei der Bevölkerung ein, beteiligen sich am Waffen- und Drogenhandel und lassen sich sogar die Ausbildung und Ausrüstung anderer separatistischer Organisationen in der Region bezahlen. Zusätzliche Einnahmen fliessen aus Schutzgelderpressungen und einem florierenden Entführungsgeschäft. Dutzende Händler oder LKW-Fahrer werden jährlich von den beiden Gruppen entführt und nur gegen Lösegeld freigelassen. Nach Angaben der indischen Regierung sollen die diversen Organisationen jährlich alleine an Schutzgeldern über zwei Milliarden Rupiah einnehmen, mehr als 30 Millionen Euro. Inzwischen meldete auch noch eine dritte sogenannte Unabhängigkeitsbewegung ihre Ansprüche auf Anteile an diesen einträglichen Geschäften an. Unzufriedene Mitglieder des NSCN-IM sowie des NSCN-K bildeten einen NSCN-U und drängten vor allem in die Bereiche der Schutzgelderpressung und des Kidnappings.
„Sie starben für uns“
Doch während in den Dörfern im bergigen Hinterland noch „Trophäenbäume“ zu bewundern sind, an denen seit über hundert Jahren die Schädel geschlagener Feinde hängen, während immer noch Entführungen und Erpressung viele in Furcht versetzen, hoffen Stammesälteste, Politiker und Menschenrechtsaktivisten wie der Student Neingulo Krome, dass „die Macht der Uniformen langsam zu einem Ende kommt.“ Wenigstens „müssen wir nachts nicht mehr das furchteinflössende Klopfen an der Türe vernehmen“, glaubt auch sein Kommilitone VP Khinso in Kohima an bessere Zeiten. „So viele von uns wurden früher abgeholt, um nie wieder zurückzukehren.“
„Sie starben für uns“, wandelt er die letzten Worte eines gefallenen Soldaten ab. Auf dem liebevoll gepflegten Soldatenfriedhof der blitzsauberen Hauptstadt erinnert ein Epitaph an die Schlacht von Kolima, eine der bittersten Schlachten nicht nur des Burmakrieges sondern des gesamten Zweiten Weltkriegs: "Für dein Leben morgen gaben wir unser Leben heute."