In der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf konfrontiert eine Ausstellung erstmals die Werke von Hilma af Klint (1862–1944) mit jenen Wassily Kandinskys (1866–1944). Die Gegenüberstellung ist anregend und problematisch zugleich.
Die beiden sind grundverschieden. Kandinsky wurde als «Erfinder» der Abstraktion gefeiert. Er gab mit seinem Essay «Das Geistige in der Kunst» (1912) einen wesentlichen Anstoss zur Erneuerung der Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein breites Œuvre zeigte er in zahlreichen Ausstellungen und wurde Lehrer für Wandmalerei am Bauhaus.
Das ebenfalls sehr grosse Werk der Schwedin Hilma af Klint blieb bis in die späten 1980er Jahre von der Kunstgeschichte weitgehend unbeachtet. Die akademisch ausgebildete Malerin setzte nicht auf eine Karriere innerhalb vertrauter Kunstkanäle, auch wenn sie durchaus nach Wegen zu einem Publikum suchte und geradezu obsessiv darauf drang, in den inneren Zirkel der Anthroposophen und zu Rudolf Steiner vorzustossen – ohne Echo allerdings.
Beide, Kandinsky und af Klint, suchten nach dem «Geistigen», was immer der unklare Begriff benennen mag. Sie neigten zu theosophischem und anthroposophischem Gedankengut. Beide wohnten Vorträgen Rudolf Steiners bei. Beide spürten intensiv, wie die Entdeckungen der Atomphysiker ihr Weltbild erschütterten, und sie setzten ihre Welterfahrungen um in ihrer Kunst.
So schrieb Kandinsky in «Rückblicke»: «Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und weich.» Und Hilma af Klint schrieb 1916: «Ich bin ein Atom im Universum, das über unendliche Entwicklungsmöglichkeiten verfügt, die ich versuchen werde nach und nach zu erfüllen.» Getroffen haben sie sich nicht.
Hilma af Klint sah ziemlich sicher Kandinskys Ausstellung in Stockholm im Jahr 1916. Kandinsky nahm von der Malerin jedoch keine Notiz.
«Die Zehn Grössten»
Wie die Konfrontation der Werke af Klints mit jenen Kandinskys in Düsseldorf zeigt, bleibt ein wesentlicher Unterschied: Kandinskys Reaktion ist jene des Malers, der in intensiver Auseinandersetzung mit Farbe und Form auf der Leinwand selber die verschiedenen Wahrnehmungsebenen erprobt und mit sich überlagernden Ebenen der Malerei neue Räume zu erschliessen versucht. Er ist genuiner Maler. Hilma af Klint hingegen versteht sich als «Medium». Schon als junge Frau verkehrt sie in spiritistischen Zirkeln. Sie lässt sich von Botschaften und Aufforderungen «höherer Wesen» aus dem «Jenseits» zu ihrer Kunst anregen.
Paradebeispiel ist ihre 1907 innerhalb eines Monats entstandene, in Düsseldorf wirkungsvoll präsentierte Serie von zehn riesigen, über drei Meter hohen Malereien mit dem Titel «Die Zehn Grössten», ihr eigentliches Hauptwerk. Dabei handelt es sich um eine Art Lebenszyklus von der Kindheit bis ins höchste Alter. Die mit Temperafarben auf Papier gemalten und auf Leinwand montierten Bilder wirken gefällig schön und zugleich geheimnisvoll. Sie zeigen in gedämpft-weichen Farben kreisende Formen organisch-floralen Charakters oder Formen ohne Gegenstandsbezug, begleitet von spiralförmigen Ornamenten oder von gezierten, arabeskenhaft gestalteten Buchstaben. Hilma af Klint zeichnete ihre Formen aufs Papier und füllte die Konturen gleichmässig mit Farbe.
Vergleicht man ihre Werke mit den Malereien Kandinskys, so wirken sie flach und summarisch. Da ist ein Automatismus der Bildfindung. Äusserungen der Malerin führen zur Annahme, sie hätte bis ins Detail Aufträge ausgeführt. Das erschwert die Deutung des Werkes – für die (damit überforderte?) Malerin selber, aber auch für das Kuratorenteam in Düsseldorf. Es sind die auf Hilma af Klint spezialisierten Julia Voss, die 2020 eine umfangreiche und zum Bestseller avancierte Klint-Biographie veröffentlichte, und Daniel Birnbaum, der einen Catalogue Raisonné über einen Teil der Werke der Künstlerin verfasste.
Im Katalog zur Düsseldorfer Doppelausstellung ist zu lesen: «’Die Zehn Grössten’ hatten so viele Ebenen, dass es af Klint zeitlebens nicht gelang, die Übersicht zu gewinnen. Die Bilder waren riesig. Revolutionär. Mystisch. Einige waren vollständig abstrakt. Sie verhandeln Privates und Kosmisches, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges … Wie Diagramme verzeichneten die Bilder ausserdem das Voranschreiten von Zeit und Entwicklung, den unaufhörlichen Evolutionsprozess, von dem die Malerin glaubte, dass er vom Organischen ins Geistige führen würde.» Das alles klingt jedenfalls eher raunend-geheimnisvoll als präzis beschreibend oder gar deutend.
Irritierende Esoterik
Die Ausstellung «Hilma af Klint und Wassily Kandinsky träumen von der Zukunft», so der ganze Titel, ist schön und übersichtlich präsentiert. Die Malereien werden von Zeichnungen, Dokumenten und informativen Texten begleitet. Zur Sprache kommen auch af Klints Museumspläne und Kandinskys raumbezogene Arbeiten. Das Unternehmen wartet auf mit bedeutenden Werken Kandinskys – die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen selber verfügt da über herausragende Beispiele – und mit in Deutschland kaum je und in der Schweiz noch nie gesehenen Malereien von Hilma af Klint. Es bietet Gelegenheit, sich an der Quelle zu informieren über das im Bereich der Esoterik angesiedelte Schaffen af Klints und – im Vergleich mit Kandinskys Malereien– den Beginn der Abstraktion im Detail zu verfolgen. Irrelevant, weil kaum zu beantworten ist dabei die oft gestellte Frage, wer tatsächlich die Abstraktion «erfunden» habe: Af Klint? Kandinsky? Oder sonst jemand auf der Welt?
Man mag die Ausstellung trotzdem mit gemischten Gefühlen verlassen – beeindruckt vom Bestreben der Kuratoren, dem Werk Hilma af Klints den Weg in die europäische Kunst der Moderne zu ebnen, und von ihrem Willen, dem Anteil einer Künstlerin an der Entwicklung dieser weitestgehend von Männern dominierten Moderne Nachachtung zu verschaffen.
Dass sich damit ein gerüttelt Mass an Esoterik – bis hin zu den Theosophinnen Anne Besant oder Helena Blavatsky – verbindet, mag Unbehagen wecken. So irritiert, dass im Katalog af Klints Terminologie von den «übersinnlichen Sphären», vom «zweiten Ich», vom «geistigen Leben der Menschheit» oder von «Sphären, in denen andere Mächte beheimatet waren, höhere, himmlische in weitestem Sinne» usw. fraglos übernommen wird. Es geht dabei nicht darum, der Malerin das Recht auf ihre eigene Version der Inspirationsquelle ihrer Kunst und auf ihr eigenes Erleben abzusprechen. Es ginge vielmehr um jene objektivierende Distanznahme, die erst zu einer Würdigung des Werkes von af Klint führen könnte.
«Höhere Wesen befahlen …»
Mein gewagter Schlusspunkt: Das alles ruft in mir nach der Erinnerung an Sigmar Polkes (1941–2010) Bild «Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!» (1969, Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven). Polke tat gradlinig, höchst banal und ohne jedes okkulte Rauschen, was der Text auf der weissen Leinwand sagt: Er bemalte die rechte obere Ecke des Formats schwarz. Ein persönliches Bekenntnis des Bild-Alchemisten Polke zu Okkultismus und zu «höheren Wesen»? Kaum. Ein bitterböser Kommentar zum Kunstgeschehen und zum Reden über Kunst, dem sich der Künstler mit spitzer Ironie entzieht? Vielleicht – vielleicht aber auch viel mehr.
An die «höheren Wesen», die Hilma af Klint Befehle erteilten, konnte Polke allerdings nicht gedacht haben, denn 1969 ruhten ihre Werke, in Kisten verpackt, auf einem Dachboden in Schweden und harrten ihrer Entdeckung. 2018 werden 600’000 Menschen sie im Solomon-Guggenheim-Museum in New York bewundern.
Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
bis 11. August.
Publikation, herausgegeben vom Kuratorenteam der Ausstellung Julia Voss und Daniel Birnbaum
208 Seiten, 32 Euro
Copyright der Bilder von Hilma af Klint: The Hilma af Klint Foundation, Stockholm