Auch heute heisst die Parole wieder grösser, schneller, besser, diesmal allerdings mit positiven Folgen. Nach drei Jahrzehnten Wachstum mit jährlichen Zuwachsraten von rund zehn Prozent können und wollen sich mittelständische Chinesinnen und Chinesen etwas leisten: Autos, Wohnungen, Ferien. Auch der Staat und staatliche gemanagte Unternehmen wollen zeigen, wer sie sind. Hochhäuser und Wolkenkratzer mit Büros, Wohnungen und Hotels sind zum kollektiven Statussymbol geworden. Amerika hat es China im 20. Jahrhundert ja vorgemacht. Nur jetzt klotzt China so, wie sich es Amerika nicht in den kühnsten Träumen je hätte vorstellen koennen.
Mittlerweile ist die Skyline von Shanghai mit dem World Financial Center (492 Meter hoch, weltweit Nr. 6), dem Oriental Pearl TV Tower (468 m, Nr. 8), dem Jin Mao Wolkenkratzer (421 m, Nr. 16) weltberühmt. Im Westen weniger bekannt, dennoch nicht weniger imposant, sind die Skylines von Shenzhen, - Guangzhou, Wuhan, Chongqing, Chengdu, Nanjing oder Tianjin. Überall ähnlich wie in Shanghai ein Wald von Hoch- und Höchsthaeusern. Die städtischen Kommunen bauen in einem rasanten Wettbewerb schon fast nach dem alten Mao-Slogan „hoch, höher, am höchsten“.
Auch andere Städte
Vor knapp zwei Monaten wurde in der zentral-chinesischen Industriestadt Wuhan der Grundstein gelegt für ein 606 Meter hohes Geschäftshaus mit einer Investition von umgerechnet 4,5 Milliarden Franken. Es soll bei der Eröffnung 2014 das dritthöchste Haus der Welt sein. Allerdings richten ausser Wuhan in China noch andere Kommunen mit der grossen Kellen an. Prestige ist schliesslich Prestige. Shanghai lässt sich nicht lumpen. Seit November 2008 ist der Shanghai Tower im Bau, der dereinst bei 121 Stochwerken 632 Meter in den umweltverschmutzten Himmel der Finanz- und Wirtschaftsmetropole ragen wird. Wie die chinesischen Medien fein säuberlich registrieren, geht es beim Shanghai Turm um einen weiteren Rekord, um den Rekord des höchsten Hotels der Welt nämlich. Die Gäste des Jing Jiang Hotels, einer grossen chinesischen Kette, werden in der Lobby im 101. Stock empfangen, und die 258 Luxus-Zimmer verteilen sich vom 84. bis zum 110. Stockwerk. Welch eine Höhe! Was für eine Aussicht! Was für ein Luxus!! Welche weltrekordverdaechtigen Preise!!! Das bislang höchste Hotel der Welt befindet sich ebenfalls in Shanghai, das zweithöchste in Hongkong – also auch in China – und im welthöchsten Gebäude, im 828-Meter-hohen Burj Khalifa in Dubai ist das Hotel, wie die chinesische Presse fast mit Nasenrümpfen vermerkt, nur im unteren Teil domiziliert.
Der Wettbewerb freilich wird in den kommenden Jahren gnadenlos weitergehen. Zwischen China und dem Rest der Welt aber auch innerhalb Chinas. Derzeit führt nicht etwa Shanghai, sondern die südchinesische Metropole Guangzhou mit dem 600 Meter hohe Canton Tower (nach Burj Khalifa in Dubai die Weltnummer 2) die Rangliste an, gefolgt vom 508 Meter hohen Taipei 101 in der taiwanesischen Hauptstadt und als chinesische Nummer 3 das 492 Meter hohe Welt Finanzzentrum in Shanghai (Weltnummer 6). Zudem gibt es derzeit weitere sieben, ueber 400 Merer hohe Wolkenkratzer in China.
In der Hauptstadt Beijing ist man bescheidener. Das bislang höchste Haus erhebt sich knapp über dreihundert Meter in den notorisch verdreckten Himmel der Regierungs-, Kultur- und Industriemetropole. Aber Peking plant grosses. Im zentralen Geschäftsviertel CBD soll in den nächsten drei Jahren im Wald von hundert bis dreihundert Meter hohen Gebäuden ein 500 Meter hoher Wolkenkratzer den Ton angeben. Und wie! Im Unterschied zur internationalen Architektur in Shanghai und anderswo in China soll es in Peking – schliesslich ist das die Metropole der schönen Künste – was ganz Spezielles werden, nämlich chinesisch. Der Entwurf des 500 Meter hohen Baukörpers gleicht denn auch einem antiken chinesischen Trinkgefäss. Prost!
Es gibt auch Kritik
Das Rennen um die immer höher in den Himmel strebenden Objekte aus Stahl, Beton und Glass sind jedoch nicht unbestritten. Stadtplaner an der Pekinger Elite-Universitaet Beida oder der renommierten technischen Hochschule Tsinghua setzen einige ziemlich dicke Fragezeichen hinter die Entwicklung. Verkehrs-, Sicherheits- und Energie-Probleme stehen im Vordergrund. Aber auch viele Laobaixing, ganz gewöhnliche Bürger, stehen der Entwicklung mit Sorge gegenüber. „Was für eine Verschwendung“, sagen die meisten Städter und kritisieren gleichzeitig nicht nur den Wolkenkratzer-Wahn der Kommunen und staatlichen Grossunternehmen, sondern vor allem den Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) verkündet neulich jedoch stolz, dass sechs der zehn weltweit höchsten Gebäude auf chinesischem Boden errichtet worden sind.
Unter solchen Prestige-Voraussetzungen ist unschwer vorzustellen, dass noch vor dem Ende des Jahrzehnts China wohl Dubai abgelöst und das allerhöchste Hochaus der Welt haben wird. Grösser, schneller, besser oder hoch, höher am höchsten – ein Blick zurück auf Mao täte bitter Not.