Israel droht in einen offenen Zweifrontenkrieg zu geraten: Im Süden eskaliert der Feldzug gegen die Hamas im Gazastreifen, im Norden an der Grenze zu Libanon können die Scharmützel mit der Hizbollah jederzeit ausser Kontrolle geraten.
Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari warnte eben: «Wer glaubt, wir könnten Hamas eliminieren, irrt», und zeitgleich warnte Israels Oppositionspolitiker Jair Lapid vor einem «wirklichen» Krieg mit der libanesischen Hizbollah-Miliz. Die beiden rechtsradikalen Politiker innerhalb der Regierung, Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, appellierten jedoch an Premier Netanjahu, er solle, ja müsse genau das Gegenteil tun: weiter mit aller Härte im Gazastreifen vorgehen und gleichzeitig die Front im Norden, gegen Hizbollah, voll ins Visier nehmen. Er dürfe auch eine Eskalation gegen Libanon, also einen Zweifronten-Krieg, nicht scheuen.
Als ob der Krieg zwischen Israel und Hizbollah nicht schon längst Realität wäre! Täglich schiessen die libanesischen Milizen Raketen auf das Territorium Israels – und zwingen, seit dem verhängnisvollen 7. Oktober (Hamas-Attacke auf Israel und dem darauffolgenden Gazakrieg) etwa 70’000 Israeli, ihre Häuser und Wohnungen in den grenznahen Regionen zu verlassen. Und ebenso regelmässig feuert Israel Raketen oder flammenspeiende Geschosse hinüber nach Libanon – was zu Bränden in den landwirtschaftlich genutzten Regionen und zum Exodus von rund 90’000 Menschen führte.
Eigendynamik des Konflikts mit Hizbollah
Sowohl Hizbollah als auch Israel betonen, sie wollten den Konflikt «unter Kontrolle» halten, was im Klartext heisst: Beide Seiten wollen ihre Angriffe und Gegenangriffe so kalibrieren, dass der Gegner sich nicht gezwungen fühlt, seine militärischen Mittel massiv einzusetzen. Dieser militärischen Taktik zum Trotz hat der Konflikt nun eine Eigendynamik erlangt: Er wird tagtäglich etwas heftiger, gerät ständig – Beteuerungen der Akteure beider Seiten hin oder her – mehr ausser Kontrolle. Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah sagte zwar eben, er wolle keinen grossflächigen Krieg, aber fast im gleichen Atemzug drohte er sogar mit einem Angriff auf Zypern, sollte dessen Regierung ihre Kooperation mit Israel weiter ausbauen.
Gegen all das ist die internationale Diplomatie, auch jene der USA, offenkundig machtlos. Washington unternimmt jetzt wohl den letzten Versuch, die drohende Eskalation zwischen Israel und Libanon zu stoppen. Der Versuch wird wahrscheinlich schon deswegen wirkungslos bleiben, weil der Sondergesandte Washingtons, Amos Hochstein, bei seinen aktuellen Kontakten in Beirut nur mit Offiziellen sprechen kann, nicht aber mit dem für eine Eskalation oder De-Eskalation entscheidenden Mann, mit Hassan Nasrallah, dem Chef von Hizbollah. Denn Hizbollah ist von den USA als Terrororganisation gebrandmarkt worden; also sind direkte Kontakte verboten.
Nur: Hizbollah ist nicht nur eine Miliz mit (so die Schätzung von US-Geheimdiensten) etwa 20’000 Aktiven und einem Waffenarsenal von (ebenfalls geschätzt) 130’000 Raketen, sondern auch eine politische Partei mit Repräsentanten in der libanesischen Regierung. Bei wesentlichen Beschlüssen der Regierung hat Hizbollah sogar ein Vetorecht. Die einst mausarme schiitische Gemeinschaft wurde, vor allem dank Geldern aus Iran, zu einer wirtschaftlichen Macht im Staat, verwaltet soziale Institutionen im Bildungs- und Gesundheitssystem und besitzt zwei TV-Sender. Im Klartext: Will man im Libanon etwas erreichen, führt an Hizbollah kein Weg vorbei.
Unklarheit über die Ziele auf beiden Seiten
Die Europäische Union versuchte sich etwas sachbezogener mit den Fakten zu befassen, mit einer Formel, die lediglich die Hizbollah-Milizen als terroristisch bezeichnete, nicht aber die politischen und sozialen Institutionen. Damit sollten konstruktive Kontakte mit der Regierung Libanons weiterhin ermöglicht werden. Nur wird man so den komplexen Realitäten in der Region nicht gerecht. Arnold Hottinger kennzeichnete eine so geartete Politik in seinem Buch «Islamische Welt» als Oberflächenbild, typisch dafür, wie für den Westen «die ganze nahöstliche Politik stets irrationale Züge» aufzuweisen scheint.
Hizbollah ist mit den Tentakeln von der Miliz in die sozialen und politischen Gremien nicht nur ein inner-libanesisches Phänomen (das libanesische Christen und Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft als problematisch betrachten), sondern auch grenzüberschreitend ein Chamäleon. Seine Kämpfer, obgleich, wie erwähnt, durch die politischen und sozialen Institutionen mit der libanesischen Gesellschaft verbunden, schwören ihre Treue ja nicht gegenüber dem eigenen Staat, sondern, aufgrund der Religion (die libanesischen Schiiten sind, wie die Iraner, Anhänger der so genannten Zwölfer-Schia) gegenüber dem geistlich-politischen Führer im zweitausend Kilometer entfernten Iran. Früher war das Revolutionsführer Chomeini, jetzt Ayatollah Chamenei. Das führt zur Unklarheit darüber, welche Ziele der oberste Chef von Hizbollah, Hassan Nasrallah, befolgt. Gehorcht er den Direktiven aus Teheran, oder handelt er mehr oder weniger konsequent auf eigene Faust?
Diese Unklarheit findet ihr Spiegelbild im Verhalten des Gegners, also Israels. Die Netanjahu-Regierung geht davon aus, dass sie es bei den Auseinandersetzungen mit Hizbollah eigentlich mit dem Erzfeind Iran zu tun hat. Will sie eine Eskalation in dieser Richtung wirklich auch noch riskieren?