Im autoritären System Chinas kommen, wenn überhaupt, die Überraschungen vor und nicht an den Wahlen. Im Mittelpunkt des Wahlsystems chinesischer Prägung steht der alle fünf Jahre stattfindende Parteitag. Dort wählen dann die über zweitausend Delegierten der 88 Millionen Mitglieder zählenden Kommunistischen Partei das Zentralkomitee mit 200 Voll- und rund 150 alternierenden Mitgliedern. Das ZK wiederum wählt das derzeit 25 Mitglieder starke Politbüro. Zuoberst auf der Machtpyramide sitzt der Ständige Ausschuss des Politbüros mit derzeit sieben Mitgliedern.
Der Kern
Im Ständigen Ausschuss hat seit dem letzten Parteitag 2012 Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping das Sagen. In den letzten fünf Jahren krempelte er die Partei um und ist jetzt, kurz vor dem Parteitag im Herbst, die führende Figur. Nicht mehr die vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping vor knapp vier Jahrzehnten konstituierte kollektive Führung gilt, sondern eine Führung mit Xi Jinping «im Kern». Vom Parteichinesisch ins Deutsche übersetzt heisst das, das Xi das letzte Wort hat, und heute so mächtig ist wie einst Deng oder gar Mao Dsedong.
Ein «Schock»
Die Vorwahl-Überraschung nahm am 15. Juli ihren Anfang. Der mächtige Parteichef der 31-Millionen-Metropole Chongqing, Sun Zhengcai, wurde durch den Xi-Vertrauten Chen Miner ersetzt. Für den noch relativ jungen, erst 53 Jahre alten Sun, winkte die Zentrale Peking mit noch mächtigeren Ämtern. So jedenfalls nahmen es die chinesischen und ausländischen Beobachter an. Doch am 25. Juli platzte dann die Bombe.
Gegen Politbüromitglied Sun, so hiess es offiziell von der Zentralen Disziplinarkommission der Partei, werde ermittelt wegen «schwerwiegender Verstösse gegen die Parteidisziplin». Der erhobene Vorwurf heisst in der Regel Korruption und Machtmissbrauch. Die Global Times, herausgegeben vom Parteiblatt Renmin Ribao (Volkstageszeitung), brauchte in einem Kommentar das Wort «Schock»: «Wir glauben, dass nach Jahren der Reform das politische und soziale Umfeld stabiler als je geworden ist. … Der Schock wird deshalb effektiv nichts ändern.»
Hinter dem Vorhang
Das Prozedere der chinesischen Wahlen für die entscheidenden Ämter der Partei und mithin der Nation wurden in den 1980er-Jahren noch von Deng Xiaoping entworfen. Seit Mitte der 1990er-Jahre gilt, dass die Amtsdauer des mächtigen Partei- und Militärchefs zweimal fünf Jahre beträgt. Bereits nach fünf Jahren werden jeweils Weichen für den nächsten Parteichef gestellt.
Auch die allmächtige Kommunistische Partei Chinas nämlich ist nicht aus einem Guss. Vielmehr streiten sich – natürlich intransparent hinter den Kulissen oder, wie man in China sagt, hinter dem Vorhang – verschiedene Fraktionen um Einfluss, Ämter, Pfründen und Entscheide. Die ehemaligen Parteichefs Jiang Zemin (1989–2002) und Hu Jintao (2002–2012) versuchen hinter dem Vorhang bis heute, weiter inhaltlich und ideologisch Fäden zu ziehen und Leute ihrer Fraktion in einflussreiche Positionen zu hieven.
Aufsteigender Stern
Der kommende 19. Parteitag im Herbst ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil bereits jene, die vermutlich im Jahre 2022 die Macht übernehmen werden, ins oberste Machtorgan – den Ständigen Ausschuss des Politbüros – gewählt werden. Parteichef Xi hat in seinen ersten fünf Amtsjahren mit Geschick, Härte und strategischer Weitsicht Partei, Staat und Provinzen auf die neuen Verhältnisse eingeschworen.
Die Kaltstellung von Chongqings Parteichef Sun hat vor dem Hintergrund der innerparteilichen Auseinandersetzungen besondere Bedeutung. Der mit 53 Jahren für ein solch hohes Amt noch junge Sun wurde nämlich als aufsteigender Stern am Parteihimmel gefeiert. Vermutlich wäre er am 19. Parteitag in den Ständigen Ausschuss des Politbüros gewählt worden.
Zusammen mit dem ebenfalls noch jungen Parteichef der Südprovinz Guangdong (Kanton), Hu Chunhua (54), wäre er in fünf Jahren wohl Anwärter auf das Amt des Partei- und Militärchefs gewesen. Hu sorgte mit einer Rede im vergangenen Mai vor. Er schwor Xi absolute Loyalität und bekannte sich zum Führungsprinzip mit «Xi im Kern». In seiner Rede erwähnte es Xi zwei Dutzend Mal und Xis Reformen über fünfzig Mal. Mehr geht wohl nicht. Hu gilt als Protégé des ehemaligen Parteichefs Hu Jintao, der abgehalfterte Sun als Schützling des ehemaligen Parteichefs Jiang Zemin.
Wiederholung der Geschichte
Sun Zhengcais Niedergang zeichnete sich schon vor Monaten ab. Im Februar nämlich rügte die Pekinger Parteizentrale die Verhältnisse in Chongqing. Dort, so hiess es damals parteioffiziell, sei nicht genug getan worden, um den «giftigen Einfluss» Bo Xilais auszurotten. Wenig später wurde Chongqings Polizeichef He Ting und Vizebürgermeister Mu Huaping – beide mit Sun befreundet – von der Zentralen Disziplinarkommission befragt. Ein Vorgehen, das in China meist den Sturz des Vorgesetzten ankündet.
Das Ganze liest sich auch wie eine Wiederholung der Geschichte. Kurz vor dem 18. Parteitag 2012 nämlich wurde Chongjings charismatischer Parteichef und Politbüromitglied Bo Xilai und dessen Polizeichef Wang Lijun ihrer Ämter enthoben und angeklagt. Bo Xilai, der sich für den Parteitag berechtigte Chancen ausrechnete, mit Xi Jinping in den Ständigen Ausschuss des Politbüros gewählt zu werden, wurde zu lebenslänglicher Haft wegen Korruption und Amtsmissbrauch verurteilt.
«Politische Konspiration»
Im vergangenen Jahr hat Xi Jinping an jene, die Machtspiele treiben, den Tarif durchgegeben. Er bezichtigte all jene hochrangigen Kader, die er in den letzten Jahren meist wegen Korruption und Amtsmissbrauch zu Fall brachte, dass sie «alle in Aktivitäten politischer Konspiration verwickelt» gewesen seien. Dazu gehörten derart prominente Parteimitglieder wie Zhou Yongkang, ehemaliger Sicherheitschef und Mitglied des Ständigen Politbüroausschusses, Politbüromitglied Bo Xilai und die beiden früheren Vize-Vorsitzenden der mächtigen Militärkommission, General Guo Boxiong und General Xu Caihou.
Reich und mächtig
Die Absetzung Sun Zhengcais wird von den meisten chinesischen Beobachtern als klarer Hinweis Xis an die Partei gewertet, dass er allein die letzten Entscheide fällt. Das wird der Parteichef auch an der jährlichen Bade-Retraite in Beidaihe an der Bohai-Bucht des Ostchinesischen Meeres wiederholen, denn dort werden im August die letzten inhaltlichen aber auch personellen Weichen vor dem 19. Parteitag gestellt.
Bereits Ende Juli stimmte Xi hohe und höchste Parteikader an einem zweitägigen Treffen in Peking auf kommende strategische Richtlinien ein. In den letzten fünf Jahren, so Parteichef Xi, seien «ausserordentliche» Fortschritte erzielt worden. China stehe heute an einem «historischen Wendepunkt». Xi stellte sich, ohne selbstverständlich Namen zu nennen, in eine Reihe mit Mao Dsedong und Reform-Übervater Deng Xiaoping, indem er auf die Staatsgründung, die Wirtschaftsreform und Öffnung nach Aussen sowie die neuesten Errungenschaften der letzten Jahre Bezug nahm: «Die chinesische Nation hat einen historischen Sprung geschaffen: wir haben uns erhoben und sind reich und mächtig geworden.»
Genosse Mikroblogger
Wenn nicht alles täuscht, hat Parteichef Xi Jinping alles fest im Griff. Den letzten personellen Schachzug machte er in der Hauptstadt. Er installierte Cai Qi als neuen Parteichef. Wie so viele seiner Getreuen arbeitete Cai in den Provinzen Fujian und Zhejiang, als Xi dort Provinz-Parteichef war. Der schon 61 Jahre alte Cai gilt als loyaler Xi-Anhänger, hat aber gleichzeitig auch unkonventionelle Ideen. Vor seinem rasanten Aufstieg in die Metropole war Cai – bekennender iPhone und iPad-Nutzer – auch als Mikroblogger mit zehn Millionen Followern bekannt …
Ideologische Zukunft
Seinen loyalsten Genossen hat Xi indes mit Wang Qishan. Der Wirtschaftsspezialist, Chef der Disziplinarkommission und Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, ist mit 68 Jahren nicht mehr der Jüngste. Der ehemalige Parteichef Jiang Zemin hat einst ein ungeschriebenes Rentenalter von 68 verfügt. Danach müsste jetzt am 19. Parteitag über die Hälfte des Politbüros und fünf von sieben Mitgliedern des Ständigen Politbüro-Ausschusses zurücktreten. Falls Wang nun nach dem Parteitag weiter im Ständigen Ausschuss sitzen sollte, ist das nach Ansicht chinesischer Parteibeobachter ein klares Zeichen dafür, dass Parteichef Xi wohl im Jahre 2022 noch eine dritte fünfjährige Amtszeit anhängen könnte.
Wang Qishan jedenfalls hat in einem langen Artikel im Sprachrohr der Partei «Renmin Ribao» die ideologische Auslegeordnung für die Zukunft skizziert. Der grosse Erfolg Chinas seit dem 18. Parteitag 2012, so Wang, sei nur möglich geworden wegen Xi Jinping. Er habe auf strenger Führerschaft insistiert und das auch durchgesetzt, indem er insbesondere auf strikter Parteidisziplin bestand. Mit Xi «als Kern» habe die Partei eine Bedeutung und inhaltliche Grösse wie selten zuvor erreicht.
Der Chinesische Traum
Wie immer die Wahlen im Herbst ausfallen, Xi wird weiter seinen Traum von der Grösse, Wiedergeburt und Verjüngung Chinas träumen. Seine Theorien (angebotsorientierte Reformen, Nationale Sicherheit, Armuts-Bekämpfung, Rechtsstaat, Partei-Disziplin, weltweite Softpower etc.) werden wohl in die Parteiverfassung aufgenommen, wie zuvor das «Denken Mao Dsedongs» und die «Theorien Deng Xiaopings».
Wahl-Überraschungen sind vermutlich nicht das Privileg westlicher Demokratien. Dennoch kann ohne allzu grosses Risiko davon ausgegangen werden, dass Xi Jinping nicht das gleiche Schicksal ereilen wird wie vor Jahresfrist Hillary Clinton …