Der genaue Verlauf des «Jahrhunderts der Schande und Erniedrigung», verursacht durch die imperialistischen Mächte des Westens, Russlands und Japans vom Beginn des ersten Opiumkrieges 1839 über die Ungleichen Verträge im 19. Jahrhundert bis hin zur Invasion der Japaner in den 1930er-Jahren, ist jedem chinesischen Schüler wohlbekannt. Mit der «Befreiung der Nation» durch die Kommunisten 1949 nach dem gewonnen Bürgerkrieg gegen die Nationalisten brach ein neues Zeitalter an.
Chinas Schülerinnen und Schüler wissen von der ersten bis zur letzten Kaiser-Dynastie alles vor- und rückwärts auswendig. Die neueste Geschichte Chinas wird in den Schulen jedoch eher selektiv behandelt. Die Hungersnot mit über dreissig Millionen Toten während des von Staatengründer Mao Dsedong angestossenen utopischen «Grossen Sprungs nach Vorn» (1958–61) wird noch heute vornehmlich als natürliche und nicht von Menschen verursachte Katastrophe vermittelt. Die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» (1966–76) wird zwar als «chaotisch» beschrieben, doch detailliertere Kritik wird vermieden. Schliesslich wurde Mao Dsedongs Wirken wenige Jahre nach seinem Tod parteioffiziell als zu siebzig Prozent gut und dreissig Prozent schlecht beurteilt. Von Tiananmen 1989 weiss die heutige Jugend kaum mehr etwas.
1. Oktober
Die allmächtige Kommunistische Partei Chinas legt grossen Wert auf Feiern historischer Ereignisse. Wie das geschichtsträchtige Jahr 2019 jedoch zeigt, müssen es die richtigen Gedenkmarken sein. Das wohl bedeutendste Jubiläum im laufenden Jahr wird am 1. Oktober begangen. Vor siebzig Jahren hat Mao Dsedong vom Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen die Volksrepublik ausgerufen und das «Wiederaufstehen der Nation» proklamiert.
Wie alle zehn Jahre wird eine grosse Militärparade am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens durchgeführt, und der Parteichef wird die Errungenschaften der Nation preisen und Ziele des Landes formulieren. Immer unter der Führung natürlich der weisen KP. Wie Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping wiederholt in seinem «Grossen Chinesischen Traum» von der «Wiedergeburt und Verjüngung der Nation» es in Anlehnung an den grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping formuliert hat, soll dann zum 100. Jahrestag der Volksrepublik am 1. Oktober 2049 China zu einer friedlichen Nation bescheidenen Wohlstands geworden sein und mit den reichen Industriestaaten in jeder Beziehung – also Wissenschaft, Forschung, Ökonomie – gleichgezogen haben.
4. Mai
Ein weiterer politisch und kulturell wichtiger Jahrestag wird am 4. Mai begangen. Zum hundertsten Mal jährt sich die erste politische Massenbewegung in Chinas neuester Geschichte, nämlich die «Bewegung des 4. Mai» (Wusi Yundong). Tausende von Studenten, Gewerbetreibenden und Arbeitern protestierten auf dem Tiananmenplatz in Peking und in andern Städten am 4. Mai 1919 gegen die Behandlung Chinas an den Pariser Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg. Im Versailler Vertrag nämlich erhielt Japan die deutschen Niederlassungen zugesprochen, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch Chinas, das auf Seiten der Alliierten Siegermächte am Weltkrieg teilgenommen hatte. Landesweit wurde gestreikt. Japanische Waren wurden boykottiert.
Die 4. Mai-Bewegung, die an die 1915 gegründete «Bewegung für eine neue Kultur» anknüpfte, erhob im damals chaotisch regierten China auch grundsätzliche Forderungen. Zunächst skandierten die Demonstranten Politisches: «Kämpft für Chinas nationale Souveränität! Bestraft die Landesverräter!» Zur Erneuerung forderten sie «Mister Science and Mister Democracy». Mit andern Worten verlangten die aufmüpfigen Studenten, Intellektuellen und Arbeiter Demokratie, Gleichheit und Freiheit sowie neueste Entwicklung in Wissenschaft und Technik. Auch die abgehobene Literatursprache der Mandarine sollte reformiert werden.
Zu den Intellektuellen der Bewegung gehörten auch Chen Duxiu und Li Dazhao, die zwei Jahre später die Kommunistische Partei Chinas mitbegründen sollten. Auch der berühmte Schriftstelle Lu Xun war Teil der Intellektuellen-Avantgarde. Einige Historiker gingen so weit, den 4. Mai 1919 als Beginn der chinesischen Aufklärung zu interpretieren. Während in der Folge die Kommunisten und linken Intellektuellen die «Bewegung des 4. Mai» unterstützten und weiterentwickelten, waren die Nationalisten Sun Yat-sen und General Chiang Kai-shek als Konfuzianer eher skeptisch gegenüber westlichen Ideen.
Eines steht heute fest: Wie der 100. Jahrestag der 4. Mai-Bewegung von der chinesischen Führung begangen wird, lässt vermutlich auf die Zukunft des kulturellen Umbruchs schliessen. Bereits vor zehn Jahren hat der Pekinger Literaturwissenschafter Wang Furen von einem regelmässigen kulturellen Umbruch alle dreissig Jahre gesprochen. Also der 4. Mai 1919, die Staatengründung am 1. Oktober 1949 und schliesslich Deng Xiaopings Reform und Öffnung nach aussen 1979. Nochmals dreissig Jahre später, 2009, lässt sich nicht datumsgenau ein solcher Bruch festmachen, doch kurz danach wurde Xi Jinping Parteichef und steht, so wie es heute aussieht, für einen neuen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruch.
15. April
Auch wenn die Partei Historisches gross schreibt, gibt es viele Tabus. Dazu gehören die Studenten- und Arbeiterproteste auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in den Wochen zwischen Mitte April und Anfang Juni 1989. Sie beriefen sich unter anderem auch auf die «Bewegung des 4. Mai». Auslöser der auch landesweiten Unruhen war der Tod des ehemaligen Parteichefs (1980–87) Hu Yaobang am 15. April 1989. Bei der Beerdigung des bei Intellektuellen wie bei einfachen Bürgern beliebten Hu versammelten sich weit über 50’000 Studenten und Arbeiter auf dem Tiananmenplatz und forderten in einer Petition an Premierminister Li Peng mehr Redefreiheit, grösseren wirtschaftlichen Freiraum sowie Kampf gegen grassierende Korruption. Der Ausgang ist bekannt.
3./4. Juni
Deng Xiaoping, mit Blick auf die Zustände im Chaos der Kulturrevolution, liess die Proteste in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni gewaltsam von der Volksbefreiungsarmee unterdrücken. Noch heute werden die Tiananmen-Ereignisse als «konterrevolutionärer Vorfall» und als «politische Unruhen» qualifiziert. Das Thema ist und bleibt tabu. Vom 15. April bis in den Juni jedenfalls werden deshalb die Behörden höchste Vorsicht walten lassen und auch den kleinsten Protest im Keim ersticken.
10. März
Ein weiteres heikles Datum ist der 10. März. An diesem Tag jährt sich heuer zum 60. Mal ein Aufstand der Tibeter in Lhasa inmitten des «Grossen Sprungs nach Vorn» und der katastrophalen Hungersnot . Der Dalai Lama und Zehntausende von Tibeterinnen und Tibetern flohen nach Indien und Nepal.
Auf dem «Dach der Welt» hat sich seither viel verändert. Zwar diktieren hauptsächlich die Han-Chinesen, doch die Entwicklung hat der tibetischen Bevölkerung einiges gebracht: Bildung etwa, wirtschaftlicher Aufschwung, Jobs oder Öffnung nach aussen. In Tibet, seit dem 18. Jahrhundert Teil Chinas, ist wie überall auf der Welt bei fortschreitender Entwicklung leider vieles an alter Kultur verloren gegangen. Dass aber ein «kultureller Genozid», wie vom Dalai Lama behauptet, stattfindet, ist nicht zutreffend. Viele Westler projizieren heute ihre Träume ins Shangri-la friedlicher Tibeter, das es so nie gab und noch viel mehr nicht gibt. Die Exil-Tibeter und die Chinesen decken sich gegenseitig mit Propaganda ein. Für Aussenstehende sollte deshalb gelten: Nicht alles was Peking sagt, ist falsch, und nicht alles was Dharamsala sagt ist richtig. Und umgekehrt.