Die US-amerikanische Regierung ist offenbar der Überzeugung, dass sie genügend Macht und Einfluss besitzt, um die türkische Regierung davon zu überzeugen, die Waffen in Nordsyrien ruhen zu lassen. Doch die Sanktionen beziehungsweise Sanktionsdrohungen gleichen eher einer Symbolpolitik, die allein dem Zweck dient, das Gesicht zu wahren und zumindest rhetorisch wieder als Player wahrgenommen zu werden. Immerhin haben die USA fast 20’000 der YPG-Einheiten ausgebildet und bewaffnet und zugleich die türkischen Elitetruppen als Nato-Partner hochgerüstet. Die USA haben sich nun selbst aus dem Spiel genommen, und der Imageschaden, den sie durch den Rückzug der 2’000 Männer und Frauen starken Truppenverbände aus Nordsyrien erlitten haben, ist kaum noch zu korrigieren.
Gewinner ist einmal mehr der russische Präsident Putin, der sich zunehmend in der Rolle als «ehrlicher Makler» im Nahen Osten gefällt. Als «russischer Bismarck» scheut er sich nicht, selbst solche neuen Bündnisse und Allianzen einzufädeln, die der Konfliktlogik zu widersprechen scheinen, solange Russland daraus strategisches, politisches und ökonomisches Kapital schlagen kann. Schliesslich geht es langfristig auch um die Hegemonie über das östliche Mittelmeer, wo enorme Rohstoffreserven vermutet werden.
Putin – ein ehrlicher Makler?
Die Rolle als «ehrlicher Makler» will Russland auch auf lokaler Ebene spielen. Zumindest für das Machtdreieck Russland–Syrien–Türkei mit all seinen Verästelungen hat Russland eine Schiedsrichterfunktion übernehmen können. Problemlos konnten so russische Truppen das militärische Vakuum füllen, das durch den Rückzug der US-amerikanischen Truppen entstanden war. So haben russische Eliteeinheiten die Stellungen der US-Einheiten bei Manbidsch geerbt und profilieren sich nun als Bollwerk und Schlichter, um eine Eskalation zwischen türkischen und syrischen regimetreuen Einheiten zu verhindern. Doch die Drohung mit einer Eskalation zwischen diesen beiden Kriegsparteien ist zurzeit wohl nur eine Rhetorik, um der russischen Präsenz Bedeutung zu verschaffen. Wenn es doch zu einer Eskalation kommen sollte, dann eher zwischen Einheiten der von der Türkei als Avantgarde eingesetzten Syrischen Nationalarmee und Truppen des Regimes.
Denn eine solche Eskalation liegt nicht in türkischem Interesse. Sie könnte die Vereinbarung gefährden, die die Präsenz der türkischen Armee in der nordöstlichen Grenzregion möglich machte. Eingefädelt hat sie einmal mehr Russland. Der Handel sieht wohl so aus: Russland und Syrien anerkennen das Interesse der Türkei, die Staatlichkeit von Rojava («Westen», d. h. Westkurdistan) auf dem Gebiet der alten Provinz al-Dschazira (al-ǧazīra), die von 1920 bis 1930 existiert hatte, zu zerschlagen. Die Türkei anerkennt das syrische Interesse, die Souveränität über den Nordosten zumindest symbolisch wiederzuerlangen. Denn hierdurch würde das Regime in Damaskus quasi stellvertretend für die Türkei das Rojava-Experiment beerdigen. Im Gegenzug garantiert die Türkei die Sicherung der Nordgrenze (von Kurden oft als Eiserne Grenze (xeta hesin) bezeichnet) und schirmt die Souveränität des Regimes in Damaskus über den Norden ab.
Die Folge: Die Türkei und das Regime in Damaskus teilen sich zukünftig die Souveränität über «Rojava». Syrien tritt die Grenzregion zugunsten einer Kontrolle des ökonomisch reichen Nordens ab. Immerhin wird 60 Prozent des syrischen Erdöls in Rojava gefördert, und Rojava produziert weiter mehr Güter, als die knapp fünf Millionen Einwohner benötigen.
Das doppelte Spiel des Regimes in Damaskus
Das Regime in Damaskus spielt offenbar ein doppeltes Spiel. Es bietet den Kurden die Hand und lockt sie einmal mehr mit Autonomieversprechungen. Zugleich verhandelt es mit der Türkei über das Erbe der kurdischen Herrschaft in Rojava. Verlierer dieses Handels ist die Rojava-Allianz, die mehrheitlich von kurdischen Gemeinschaften und Bünden getragen und von den syrisch-demokratischen Kräften (SDF) und damit den kurdischen Milizen (YPG u. a.) geschützt wird.
Russland hat der Rojava-Allianz einmal mehr die Reaktivierung eines Bündnisses mit dem Regime in Damaskus schmackhaft gemacht. Frühere Bündnisse dieser Art – das letzte war im Dezember 2018 geschlossen worden, als Truppen des Regimes erstmals in Manbidsch stationiert worden waren – waren nur zeitweise erfolgreich. Nun aber soll die Rojava-Allianz dauerhaft der Souveränität des Regimes in Damaskus unterstellt werden. Ob die Allianz dieser Unterstellung gesamthaft zustimmen wird, ist allerdings zu bezweifeln. Manche Teile der SDF werden wohl zum türkischen Bündnis wechseln. Doch auch das Regime in Damaskus ist und bleibt unberechenbar. Es hat keineswegs die unmittelbare Kontrolle über alle Militäreinheiten und Milizen, deren Kommandeure oft nach eigener Logik und nach eigenen Interessen handeln. So kann ein Zwischenfall genügen, dass die Gemengelage explodiert.
Das Experiment einer «demokratischen Konföderation», die sich an den ideologischen Mustern des in der Türkei inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan orientiert, droht nun nach sechs Jahren zu scheitern. Das Ziel der türkischen Offensive ist die endgültige Zerschlagung jeder Staatlichkeit der Kurden. 2016/17 gelang dies der Türkei in der 2’300 km² grossen Region um Afrin im Norden Syriens, jetzt ist der Nordosten an der Reihe. Dabei geht es der Türkei um vielmehr als um die Grenzsicherung und die mögliche Umsiedlung der Flüchtlinge. Dies sind nur taktische Schritte. Die Türkei will jede staatliche Repräsentation der Kurden schon im Ansatz verhindern.
Der türkische Republikanismus, in dem die Bewohner des Landes seit mehreren Generationen von klein auf sozialisiert sind, erlaubt nur ein Staatsvolk und nur eine zentralstaatliche Gewalt. Jede politische Repräsentation von Minderheiten, die mit der republikanischen Ordnung konkurrieren könnte, wird als existentielle Bedrohung wahrgenommen. In der Türkei ist die Einheit und soziale Integration der Gesellschaft allein über den republikanischen Staat definiert; der Zusammenbruch der Gesellschaft in den Nachbarländern Syrien und Irak ist für die türkischen Eliten ein Horrorszenario, das für die Türkei, koste es, was es wolle, verhindert werden muss.
Neben den Kurden und den USA sind die Europäer die grossen Verlierer in diesem blutigen Spiel: Sie müssen das Bündnis mit der Türkei auf Eis legen, was dazu führen könnte, dass die Türkei ihre Funktion als Flüchtlingsriegel aufgibt. Das wiederum könnte das Regime in Damaskus zu einem eigenen Handel mit den Europäern veranlassen: Europa hilft beim Wiederaufbau des zerstörten Syriens und finanziert diesen, dafür halten die Türkei und Syrien die Flüchtlinge zurück. Und wenn man schon dabei ist: Warum nicht gleich die Aufträge für den Wiederaufbau an die türkische Bauindustrie vergeben?
Eine Unbekannte in diesem Konflikt ist die Zukunft der etwa 13’000 IS-Leute, die in sieben Gefangenenlagern in Rojava leben. Drei dieser Lager liegen in der Grenzregion und wurden zum Teil schon aufgegeben. In den Lagern leben mehrheitlich ehemalige IS-Kämpfer aus Syrien selbst, und in Syrien gibt es immer noch IS-Unterstützungsregionen. Es könnte also sein, dass es zu einer partiellen Remobilisierung des IS in Syrien, ja sogar zu einer allerdings nur zeitweisen Restauration einer Gebietsherrschaft kommt.
Gibt es eine Zukunft für ein freies Rojava?
Und Rojava? Der Traum einer freien Ordnung für diese Region, die etwas grösser als die Schweiz ist, scheint geplatzt. Nachteilig war, dass die kurdischen Eliten nicht auf ihre Bindung an die PKK und an Öcalan verzichten mochten. Der «demokratische Konföderalismus», den Öcalan predigte, hatte immer ideologische, ja sektenhafte Züge. Das machte es dem türkischen Staat leicht, Rojava in sein Terrorismus-Schema einzuordnen, mit dem er alle staatskritischen Tendenzen zu erfassen sucht. Gewiss gibt es eine starke symbolische und politische Präsenz der PKK in Rojava; doch handelt es sich dabei eben nicht um eine «terroristische» Ordnung, wie sie der sogenannte «Islamische Staat» etabliert hatte, sondern um den Nukleus einer staatlichen Ordnung der kurdischen Gemeinschaftsbildung.
Statt Rojava mit Krieg zu überziehen, wäre die Türkei gut beraten gewesen, mit dieser neuen Staatlichkeit zu kooperieren, um den Einfluss der PKK zu begrenzen oder gar auszumerzen. Denn die PKK lebt von dem Feindbild Türkei, mit dem inzwischen auch schon eine neue kurdische Generation aufgewachsen ist. Der Türkei stünde eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Verfügung, diesem Feindbild die Logik zu entziehen und damit die PKK zu marginalisieren. Solch ein zivilgesellschaftliches Projekt, das die Jahrzehnte nationalstaatlicher Sozialisation überwinden und eine Konfliktlösung anbieten könnte, braucht vertrauensvolle Partner; noch ist in Syrien ein zivilgesellschaftlicher Konsens eine Utopie, doch vielleicht wird Europa irgendwann einmal gefragt sein, eine solche Utopie konkret werden zu lassen.
Dieser Text erschien im „Forum Islam und Naher Osten“ (FINO).