Ob Bo gleichzeitig auch seinen Sitz im mächtigen, 21-köpfigen Politbüro verlieren wird, ist unklar. Damit hat wohl innerhalb der allmächtigen KP die Fraktion „den Kuchen besser verteilen“ im Machtpoker an Boden verloren und die Fraktion „den Kuchen grösser machen“ etwas gewonnen.
Kurze dürre Mitteilung, lebhafte Mikroblogs
Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) kommunizierte den Entscheid in einer kurzen, dürren Mitteilung. Das Zentralkomitee der Partei habe nach reiflicher Überlegung und der Sichtung aller Fakten so entschieden. Auch Polizeichef und Vizebürgermeister Wang Lijun sei durch einen neuen Beamten ersetzt worden. In den chinesischen Medien wurde die Nachricht knapp und ohne Kommentar wiedergegeben.
In der Mikroblog-Szene dagegen wurde der Rücktritt Bos bald lebhaft kommentiert, nicht selten politisch inkorrekt, was dann meist alsogleich eine Löschung durch die stets wachsame Internetpolizei zur Folge hatte. Ein Blogger schrieb: „Der Entscheid war schnell und effektiv. Die ultralinke Hochburg Chongqing ist endlich geschleift. Das ist ein grosses Glück für China, ein grosses Glück für das Volk“.
Die Warnung von Premier Wen
Nur einen Tag vor dem Fall von Bo Xilai wiederholte Premierminister Wen Jiabao an einer bemerksenswerten, direkt vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz zum Ende des Nationalen Volkskongresses vor rund tausend in- und ausländischen Journalisten seine in den letzten Jahren wiederholten Forderungen nach politischer Reform. „Ohne erfolgreiche politische Reform ist es“, so Premier Wen in der Grossen Halle des Volkes, „unmöglich, die Wirtschaftsreform voll durchzuführen; das Erreichte kann verloren gehen, während neu auftauchende Probleme nicht gelöst werden können“.
Dann kam der entscheidende Satz: „Sollte unser Land darin versagen, die politische Reform pragmatisch Schritt für Schritt voranzutreiben und die Probleme in der Gesellschaft zu lösen, dann könnten sich historische Tragödien wie die Kulturrevolution (1966-76) wiederholen“.
Premier Wen sagte aber auch an die Adresse des Behörden von Chongqing – für ihn in ungewöhnlich direkter Weise –, sie müssten über den Wang-Lijun-Zwischenfall nachdenken und die enstprechenden Lehren daraus ziehen. Wens Worte lesen sich im Nachhinein wie einen Hinweis auf Bo Xilais Absetzung.
Bos Rückgriff auf ultralinke Mao-Gebräuche
Bo nämlich liess in den letzten fünf Jahren in Chongqing alte, ultralinke Mao-Gebräuche wieder aufleben. Und das, obwohl offiziell die Zeit der Kulturrevolution als „Chaos“ und vom Volk als Albtraum eingestuft wird. Andrerseits könnte sich Bo darauf berufen, dass die Partei die Leistungen des Grossen Steuermanns Mao als 70 Prozent gut und nur als 30 Prozent schlecht eingestuft hat.
Der nur alle fünf Jahre abgehaltene Parteitag wird im Hebst neue Weichen stellen. Staats- und Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao werden nach zehn Jahren an der Macht durch die „5. Generation“ (nach Mao) abgelöst werden. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird Vize-Staatschef Xi Jinping und Vizepremier Li Kejiang – beide bereits im Ständigen Ausschuss des Politbüros – das Reich der Mitte während der nächsten zehn Jahre führen. Dass es hinter den Kulissen, also innerhalb der allmächtigen KP, zu Diskussionen, ja Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Fraktionen kommt, gilt als gesichert.
Allerdings gibt es über Machtkämpfe in einem Staat, wo die KP das Informationsmonopol innehat, keine gesicherten Informationen. Am Rande des eben zu Ende gegangenen Volkskongresses mehrten sich allerdings die Gerüchte um Bo Xilai, Parteichef von Chongqing. Er ist, wie der künftige Parteichef Xi Jinping ein sogenannter „Prinzling“, Sohn also eines verdienten Revolutionärs.
Die Affäre Wang Lijun
Bos Vater, Bo Yibo, war einer der „Acht Unsterblichen“, der in der Kulturrevolution (1966-76) kaltgestellt worden ist, danach aber wirtschaftlich mit seiner Goldkäfig-Theorie (Privatwirtschaft im goldenen Käfig der Planwirtschaft ) grossen Einfluss ausgeübt hat. Sohn Bo Xilai, früher erfolgreicher Bürgermeister von Dalian, danach effektiver Handelsminister, hat sich schliesslich als Parteichef von Chongqing, mit 31 Mio Einwohnern die grösste Stadt der Welt, Ruhm im ganzen Lande erworben. Er liess Mao-Slogans und Gesänge sowie das Mao-Dsedong-Denken wieder aufleben. Mit seiner harten Anti-Kriminalitäts-Kampagne wurde er im ganzen Land bekannt und beliebt. Der ehrgeizige Bo, so hiess es, werde im Herbst am Parteitag Einsitz in den Ständigen Ausschuss des Politbüros – dem alles entscheidenden Organ der Volksrepublik – nehmen.
Dann kam vor wenigen Wochen die Affäre. Bos Polizeichef Wang Lijun floh ins US-Konsulat von Chengdu, verliess es unter ungeklärten Umständen nach einem Tag wieder und wurde dann sofort von Sicherheitsleuten der Pekinger Zentrale in die Hauptstadt verbracht. Seither fehlt von Wang jede Spur. Wang habe –so Gerüchte – um sein Leben gefürchtet und habe im amerikanischen Konsulat um Asyl nachgesucht. Die Anti-Kriminalitätskampagne kam zum Teil auch in Verruf. Unternehmer sollen sich beklagt haben, dass auch gegen sie vorgegangen worden sei. Geständnisse seien nicht selten durch Folter zustande gekommen.
Ringen zwischen zwei Denkschulen
Mit dieser Affäre stand Bo plötzlich in einem schiefen Licht da. Als er an einer Plenarversammlung des Nationalen Volkskongresse fehlte, jagten sich die wildesten Gerüchte. Nur einen Tag später hielt Bo Xilai, entspannt, elegant und eloquent wie immer, eine Presskonferenz und rühmte die Erfolge von Chongqing als Modell für ganz China. Ist er, der offenbar zur Fraktion der Kuchenverteiler gehört, nun auf dem aufsteigenden oder absteigenden Ast – fragten sich viele. In einem Mikro-Blog bezeichnete ein anonymer Schreiber Bo Xilai als „grössten Mafia-Boss“. Ausgerechnet Bo, der sich gerne zusammen mit seinem Polizeichef Wang Lijun als erfolgreichster Jäger des organisierten Verbrechens preisen und verehren liess.
Sicher ist eines: Hinter dem Vorhang ringen in der Partei offenbar zwei Denkschulen um Einfluss. Auf der einen Seite Linke wie Bo Xilai, die den jetzigen Wirtschafts-Kuchen gerechter verteilen wollen, auf der andern Seite jene, die wie Premier Wen den Kuchen grösser machen wollen mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaft.
Warten auf den Parteitag im Herbst
Richtungskämpfe im modernen China werden nicht mehr wie zu Maos Zeiten mit brachialer Gewalt entschieden. Inhaltliche Fragen freilich, wie eben jetzt die neue Entwicklungsstrategie nach den ersten dreissig Reformjahren, könnten durchaus mit politischen Abrechnungen beigelegt werden. Zwei ehrgeizige Politbüromitglieder mussten in den letzten fünfzehn Jahren über die Klinge springen. So wurde vor dem Parteitag 1997 zur Zeit von Staats- und Parteichef Jiang Zemin der Pekinger Parteichef und Jiang-Rivale Chen Xitong der Korruption angeklagt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Ähnliches widerfuhr unter der Ägide von Staats- und Parteichef Hu Jintao dem Parteichef der Wirtschaftsmetropole Shanghai Chen Liangyu vor dem Parteitag 2007.
Nach dem jähen Sturz Bo Yibos steht eines fest: die Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Reformern ist für kurze Zeit wenigstens öffentlich geworden. Doch nach altem Brauch wird der Konflikt weiter „hinter dem Vorhang“ fortgesetzt werden. Erbe für einen Sitz im neunköpfigen Ständigen Ausschuss des Politbüros dürfte Wang Yang, der reformorientierte Parteichef der südlichen Boomprovinz Guangdong werden. Ebenfalls gute Aussichten hat der eben ernannten Parteichef von Chongqing, Vizepremier Zhang Dejian.
Chongqing wird in Zukunft kaum mehr als Modell fürs ganze Land dienen. Die Fraktion innerhalb der Partei, die für einen konsequenten Reformkurs auch in der Zukunft eintritt, hat einen Vorteil errungen.