Am dritten Tag bemerkte ich in einem der Dörfer eine Frau, die uns - Dolli Dash von der NGO ‚Project Swarajya‘ und mir - ständig folgte. Sie fiel mir auf, weil sie einen kanariengelben Sari trug und weil eine ihrer Backen ständig geschwollen war, wohl weil darin ein ‚Paan‘, der in ein Blatt gefaltete indische Kautabak, versorgt war
Dolli Dash beschäftigt sich, trotz ihres putzigen Namens, mit handfesten Angelegenheiten. Wir besuchten ein Heim für Frauen, die vor der Gewalt ihrer Männer geflohen oder von diesen vor die Tür gestellt worden waren; dann eine Drogenentzugsklinik, einen Ort also, den jene Männer aufsuchen, die sozusagen Opfer ihrer eigenen Gewalt geworden sind. Und immer lief diese Frau hinter uns her, bis ich Dolli schliesslich fragte, wer sie sei. „Oh sie, das ist Mata Raut. Sie will unbedingt, dass wir in ihr Dorf gehen und dort ihre Frauengruppen treffen“.
Mata Rauts Geschichte
Es war ein langer Weg nach Oliha, zuerst quer durch die breite Ebene des Mahanadi-Deltas, an Feldern übersät mit Reisstoppeln, dann auf einem schmalen Gürtel voller Bäume, Gemüsegärten, kleinen Weilern und Lehmhütten. Der Weg schlängelte sich mehrere Kilometer durch die Ebene. Pralles Grün bildete einen eindrucksvollen Kontrast zum trockenen Gelbgrau der Felder. „Im Monsun werden Anhöhen zu Inseln – das ganze Delta ist überschwemmt“, sagte Dolli. Manchmal sei auch die leichte Erhöhung von ein bis zwei Metern nicht genug, um sie vor Überschwemmung zu schützen. Im Jahr 1999, als ein Zyklon eine haushohe Flutwelle vom Indischen Ozean über die Küste Orissas trieb, kamen zehntausende Menschen ums Leben.
1999 ist auch das Jahr, in dem Mata Rauts Geschichte beginnt. Und auf dem Weg nach Oliha hatte ich Zeit, ihrer Geschichte zuzuhören (das Paan war inzwischen gegessen bzw. ausgespuckt). Sie stammt aus einer bettelarmen Familie und hatte keine Schulen besucht, als sie ihren Mann heiratete. Dies führte dazu, dass sie von den anderen Frauen im Haushalt ständig gefoppt wurde und Aschenputtel spielen musste. Doch statt auf den Prinzen zu warten, nahm sie ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie hörte, dass das ‚Project Swarajya‘ in der Kleinstadt Kendrapara einen Nähkurs für Dorffrauen anbot, und mit dem Einverständnis ihres Mannes (und seinem Bus-Geld) ging sie hin.
Das Erlebnis, etwas zu lernen, etwas zu können, etwas zu verfertigen, veränderte Mata Rauts Leben. Im Kurs waren die Frauen nicht nur im Skizzieren, Schneiden, Nähen und Stopfen unterrichtet worden. Die Dorffrauen hörten auch von einem neuen Konzept zur Bekämpfung der Armut: ‚Self-Help Groups‘. Eine ‚SHG‘ ist ein Zusammenschluss von zehn bis zwölf Frauen, die sich verpflichten, jede Woche einen bestimmten Betrag – fünf, zehn, zwanzig Rupien – in eine gemeinsame Kasse einzuzahlen. Ist einmal ein gewisse Summe beisammen, hat jedes Mitglied das Recht, sich von der Gruppe Geld zu leihen. Es gibt eine Karenz-, eine Rückzahlungsfrist, und bis die letzte Rupie beglichen ist, wird Zins erhoben – in der Regel zwei Prozent pro Monat - , der in die gemeinsame Kasse fliesst.
Die erste Investition
Mata Raut gründete eine SHG. Sie war nicht das erste Mitglied, das einen Kredit aufnahm. Aber während die anderen Frauen mit dem Geld Saatgut oder ein paar Hühner kauften, war sie die erste, die eine richtige Investition tätigte: Sie kaufte in Kendrapara eine Tret-Nähmaschine. Sie begann, Sari-Blusen und –Unterröcke zu nähen, und etwas Geld zu verdienen. Nun wollten auch ihre Schwägerinnen und andere SHG-Mitglieder ins Geschäft kommen. Doch ihnen fehlten die Kenntnisse. Mit Hilfe von Swarajya beschaffte Mata sechs Maschinen und richtete in einer Hütte eine kleine Lehrwerkstätte ein. Frauen aus benachbarten Weilern begannen ebenfalls SHGs zu gründen, und Mata, die Frau ohne Schreibkenntnisse, half Analphabetinnen, Buch zu führen, Rückzahlungstermine einzutragen, Beschlüsse zu registrieren.
Heute zählt der Dorf-Panchayat Devlapada mit seinen zwölf Weilern und etwa 12‘000 Einwohnern nicht weniger als 70 SHGs mit rund 750 Mitgliedern. In jedem Weiler haben sich die SHGs zu einem ‚Cluster‘ verbunden, was bedeutet, dass eine SHG auch einer anderen mit Krediten beispringen und von Geschäftsbanken günstige Kredite abrufen kann. Die Ersparnisse betragen je nach SHG, sagt Mata Raut, zwischen 50‘000 und 200‘000 Rupien. In einer Ökonomie, die von einer einzigen Reisernte im Jahr abhängt (wenn denn der Monsun eintrifft, und wenn er es nicht im Exzess tut), in der der Grundwasserspiegel jedes Jahr weiter sinkt und sich brackig verseucht, sind die Ersparnisse der Frauen oft das einzige Rettungsnetz.
Plötzlich ein kritischer Ton
Aber der Zusammenschluss der Frauen hat mehr als nur einen Sparrappen auf die hohe Kante geschafft. Als Dolli und ich die Trainingshütte betreten, ist der dunkle Raum gefüllt von Stimmen und Gestalten. Die Nähmaschinen sind an die Bastwände aus Dung und Erde geschoben worden, und auf dem Boden sitzen etwa vierzig Frauen, alle ‚Präsidentinnen‘ von SHGs. Ihr Leben habe sich verändert, seitdem es SHGs gebe, meldet sich eine auf meine enstprechende Frage. „Früher waren wir zuhause, hatten unsere Hausarbeit, sorgten fuer das Vieh und die Kinder. Heute tun wir das noch immer – aber es gibt noch etwas Anderes daneben. Wir haben die Freiheit, uns auszudrücken, unsere Meinung zu sagen. Wir denken zusammen darüber nach, wie wir unser Leben verbessern können“. Und eine Andere“ „Früher hatten wir keine Ahnung, was Geld ist. Wir wussten nicht, wie es zu handhaben war. Heute wissen wir sogar, wie wir es vermehren können“.
Doch plötzlich kommt auch ein kritischer Ton in die Wortmeldungen, und ich erkenne darin den Tatbeweis, dass die Frauen tatsächlich gelernt haben, ihre Lage zu analysieren und zu artikulieren. „Es ist gut, dass heute viele Frauen hier nähen können“, sagt eine Frau. „Aber wie viele Sariblusen und ‚Petticoats‘ brauchen wir denn in unserem Dorf? Wo können wir sie verkaufen? In Kendrapara etwa?“, fragt sie, und erntet anerkennendes Gelächter. Und sie nimmt die Gelegenheit wahr, um der Vertreterin von ‚Project Swarajya‘ ans Herz zu legen, den Frauen doch auch andere Kenntnisse zu vermitteln.
Überzeugung steckt an
Wie so oft in Indien endete das improvisierte Zusammentreffen so elegant, als wäre es einstudiert. Eine ältere Frau stand auf und kramte ein zerknittertes Blatt aus ihrer Saribluse. Es sei ein Gedicht, das sie bei der letzten Gründungsfeier einer SHG vorgetragen habe, flüsterte mir Dolli zu und übersetzte. Notiert habe ich nur diese Passage: „Netaji hat gezeigt: Wenn Du überzeugt bist von Deiner Sache, musst Du Dich nicht sorgen, ob Dir die Andern folgen. Sie werden es tun, solange Du selbst an Dich glaubst“.
‚Netaji‘ ist Subhas Chandra Bose, der feurige bengalische Unabhängigkeitskämpfer Indiens, der in Cuttack, der alten Königsstadt Orissas, geboren wurde. Auf meiner Fahrt hatte ich immer wieder Statuen von ihm gesehen. Doch nun missfiel mir, dass die Frau, ausgerechnet bei dieser Feier weiblichen Selbstbewusstseins, den Mythos eines Mannes als Verkörperung von Mut und Fuehrungskraft zitieren musste. Warum nicht Mata Raut, die SHG-Pionierin aus ihren Reihen? Später, bei der Rückfahrt in die Stadt begann ich zu ahnen, dass sich dahinter vielleicht ein Päckchen subversives Schiesspulver verbarg: Warum nicht männliche Symbole einsetzen, solange Alle wissen, dass Frauen damit gemeint sind?