„Sie haben mich als Stenotypistin eingestellt. Ich habe keine Ahnung von Radio oder der Arbeit einer Sprecherin oder von irgendetwas wie Manuskripte oder Schallplatten.“ Die junge Nisei (Amerikanerin japanischer Abstammung) geriet beinahe in Panik bei der Vorstellung, in ein Mikrophon sprechen zu müssen.
Doch ihr Gesprächspartner blieb stur. „Was du willst, spielt keine Rolle. Befehl ist Befehl. Geh zu deinem Chef und lass dich einweisen. Ich glaube nicht, dass ich dir erklären muss, was geschieht, wenn du nicht spurst.“
Eigentlich wollte Iva Ikuko Toguri längst zurück bei ihren Eltern sein, auch wenn dies bedeutete, auf unbestimmte Zeit in einem „Konzentrationslager“ (wie Justizminister Tom Clark die Umsiedlungszentren nannte, in denen die Abkömmlinge japanischer Einwanderer während des Krieges eingesperrt waren) hinter Stacheldraht hausen zu müssen. Sie war eine gute Amerikanerin und 1916 patriotisch am „Fourth of July“ in Los Angeles zur Welt gekommen. Weil die schwer erkrankte Schwester ihrer Mutter in Tokio Unterstützung und Pflege brauchte, hatten sie ihre Eltern am 5. Juli 1941 auf der SS Arabia Maru nach Japan geschickt, wo sie nur fünf Monate später vom Kriegsausbruch überrascht worden war. Plötzlich befand sie sich beinahe mittellos in einem fremden Land und konnte es nicht verlassen. Ihr erster Versuch zurückzukehren war gescheitert, weil das State Department die Bestätigung ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft verzögert hatte. So hielt sie sich mit Schreibarbeiten und Klavierunterricht über Wasser.
Verloren in Tokio
Im Juni 1942 nahm sie eine Arbeit bei Domei Tsushin Sha, der nationalen Nachrichtenagentur an, wo sie englischsprachige Rundfunksendungen aus Hawaii, Indien, China und Australien abhören und transkribieren musste. Später erfuhr sie aus Berichten des Internationalen Roten Kreuzes, dass ihre Familie zur gleichen Zeit in ein „Gila Bend“ genanntes Relocation Center verbracht worden war. Ihre Mutter war bereits zuvor in einem anderen Lager verstorben. Im Oktober informierte das State Department in einem Memo das Schweizer Generalkonsulat in Tokio (das die USA während des Krieges in Japan diplomatisch und konsularisch vertrat), dass Miss Iva Toguri berechtigt sei, einen Pass zu erhalten und in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Doch davon erfuhr sie erst Jahre später, die eidgenössischen Diplomaten hatten diese Nachricht offenbar nie weitergeleitet.
Ein sechswöchiger Krankenhausaufenthalt – sie litt an Unterernährung, Skorbut und Beriberi – zwang sie, nach ihrer Genesung zu Schwarzarbeit. Sie antwortete auf ein Inserat in The Nippon Times für eine Teilzeitstelle als Englisch-Stenotypistin bei einer Radiostation. Sie bekam die Anstellung, doch im November 1943 wurde ihr eröffnet, dass sie fortan nicht mehr tippen sondern als Sprecherin durch das Programm „Zero Hour“ führen sollte. Zusammen mit Kriegsgefangenen und anderen Nisei sollte sie die amerikanischen und australischen GIs heimwehkrank machen, ihre Kampfmoral untergraben.
Im Dienste der japanischen Propaganda
Ihre direkten Vorgesetzten waren Kriegsgefangene, britische, australische, neuseeländische Offiziere. Major Charles Cousens beruhigte sie: „Tu genau, wie ich dir befehle, und du wirst nichts gegen dein eigenes Volk tun. Das garantiere ich dir, weil ich die Texte verfasse.“ Er nannte sie „Ann“ (Announcer) oder „Orphan Ann“. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hegten die Offiziere noch Zweifel an Ivas Loyalität. Ihre antijapanische Einstellung schien ihnen zu extrem. Zudem war sie „sehr nett, sehr freundlich, so sehr, dass wir misstrauisch wurden.“ Sie konnte ein getarnter Agent der Japaner sein. Doch bald waren sie sich sicher, dass sie „die einzige verfügbare Frau war, der sie vertrauen konnten, dass sie ihre subversiven Bemühungen nicht verraten würde.“
Iva Toguri und ihre australischen und amerikanischen Vorgesetzten bemühten sich redlich, den japanischen Befehl zu konterkarieren, indem sie die Programme unglaubwürdig gestalteten. Cousens war stolz auf sein Geschick, die Show zu einer Parodie zu machen. Iva, ihre neueste Sprecherin, hatte keine sanfte, einschmeichelnde Stimme, die bei Soldaten Sehnsüchte und Heimweh wecken konnte, sondern eine raue, heisere, unattraktive Stimme. Sie „krächzte wie eine Krähe“, klang wie eine „Metallsäge“, freute sich Cousens. Sie sprach mit japanischem Akzent und spielte Musikstücke, die bei Soldaten nicht unbedingt populär waren: Schubert, Franz Léhar, Walzer, Serenaden. Sogar der Name "Orphan Ann" hatte einen lächerlichen Beiklang, schliesslich war Orphan Ann damals eine wohlbekannte amerikanische Comic Figur.
Ann: Grüsse an alle! Hier ist wieder eure kleine playmate, ich meine, eure böse Feindin Ann mit ihrem gefährlichen und gemeinen Propagandaprogramm für meine Opfer in Australien und im Südpazifik.
Oder: Vorsicht, das ist üble Propaganda, ich werde mich mit meiner Nagelfeile an euch ranschleichen und ein ganzes Bataillon ermorden.
Der Mythos Tokyo Rose
Schon ein Jahr vor Kriegsende kursierten in der Führung der US-Streitkräfte Berichte, wonach ein japanisches Radioprogramm bei den amerikanischen Soldaten gut ankäme. Der japanische Diskjockey, den die GIs „Tokyo Rose“ getauft hatten, war angeblich sexy, hatte eine „honigsüsse“ Stimme. Tatsächlich gab es überhaupt keine "Tokyo Rose". Es war ein Soldatenausdruck für jedwede Frau, die die GIs aus Tokio oder vielleicht Shanghai, aus Manila, Wake, Singapur, Rangoon oder Bandung in englisch-sprachigen Radioprogrammen ansprach. „Die legendäre Verführerin von Radio Tokio war kaum mehr als ein Mythos, geschaffen von tagträumenden GIs“, sagte der zuständige Staatsanwalt James Marshall Carter später.
Schon kurz vor der japanischen Kapitulation war das US Office of War Information nach einer Untersuchung des Phänomens „Tokyo Rose“ zu dem Schluss gekommen: „Es gibt keine Tokio Rose; der Name ist eine GI-Erfindung. Der Name ist mindestens zwei japanischen Stimmen mit einem singenden Tonfall im japanischen Radio zugeordnet worden…“ Im September 1945 berichtete Associated Press über die Frustration amerikanischer Soldaten in Japan, nachdem sie herausgefunden hatten, dass Tokyo Rose nur eine Ausgeburt ihrer eigenen Phantasie war und nicht existierte. Fahnder fanden nach dem Krieg heraus, dass tatsächlich 27 „Tokio Rosen“ aus einer ganzen Reihe japanisch besetzter Städte in Asien ihre Ansprachen, ihre Musik und Propaganda über den Äther geschickt hatten. Wie sich herausstellte, hatten diese Frauen als Radiosprecherinnen sehr unterschiedlich agiert. Manche übermittelten wirklich japanische Propaganda, manche streuten bösartige Bemerkungen über Treue oder angebliche Untreue der Soldatenbräute in ihre Programme, während andere die Musik nur mit dem üblichen Geplauder von Diskjockeys begleiteten. Cousens und „Orphan Ann“ vermieden in ihren Programmen jede politische Äusserung.
Doch nach dem Krieg war es ausgerechnet die loyalste Amerikanerin, Iva Tugori, die in der amerikanischen Presse zu einer „verführerischen, tückischen, falschen, trügerischen Verräterin“ stilisiert wurde. Es half nichts, dass sie ihren Job bei Domei verloren hatte, weil sie die einzige Nisei unter allen Angestellten war, die sich weigerte, die japanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Es half nichts, dass alle Kriegsgefangenen, die sie in Tokio erlebt hatten, zu ihren Gunsten aussagten. Es half nichts, dass Dutzende Verhöroffiziere der US Army dem Fall Iva Tugori kaum Bedeutung beimassen und sich lieber von der Berühmtheit Autogramme geben liessen. General Robert Eichelberger, der Kommandeur der Achten Armee, rief Iva an und bat sie, in sein Büro zu kommen, wo ein Fotograf Bilder von den beiden schoss. Eichelberger dankte ihr für ihre Musik und fragte sie, ob sie das Paket populärer Hits, das er damals über Tokio habe abwerfen lassen, erhalten habe. (Es wurde später gefunden. Aber die meisten der damals üblichen Schellackplatten waren beim Aufprall am Boden zerbrochen.)
Die angebliche Verräterin
Doch dann, am 17. Oktober, wurde sie plötzlich verhaftet. Die ersten drei Monate wurden ihr Besuche und juristischer Rechtsbeistand verwehrt. Vor allem die Presse heizte die Stimmung mit abenteuerlichen Spionagegeschichten an. Die Ermittlungen liefen ins Leere. „Es gibt keine Hinweise, dass sie jemals Namen und Standort von Einheiten genannt oder militärische Manöver oder Angriffe angekündigt hat, die darauf hindeuteten, dass sie Zugang zu geheimen militärischen Informationen und Plänen gehabt hat, was die legendäre Tokyo Rose angeblich getan hat“, hiess es in einem Bericht des Counter Intelligence Corps (CIC). Offiziere in Japan beschwerten sich, Iva Toguri sei „wegen der Presse“ im Gefängnis. Schliesslich wurde sie am 25. Oktober 1946, nach über einem Jahr Haftzeit entlassen. Die Einsicht, dass sie unschuldig war, schien gesiegt zu haben.
Allein, es waren nicht nur General MacArthurs Spezialisten des militärischen Nachrichtendienstes CIC, das FBI, das Justizministerium oder das Pressecorps in Tokio, die sich mit Iva Toguris Geschichte befassten. Die Hexenjäger der amerikanischen Boulevardpresse oder der Amerikanischen Legion waren noch lange nicht von der Unschuld der „Japanerin“ überzeugt. Die Hatz hatte erst begonnen.
Als sie ein Jahr nach Kriegsende beim US-Konsulat in Tokio ihren Pass abholen wollte, eröffnete ihr der Vizekonsul ungeachtet des State Department Memos von 1942, sie sei wohl staatenlos. Es dauerte ein weiteres Jahr, ehe das Justizministerium bestätigte, dass „das Ministerium keine Einwände gegen die Ausstellung eines Passes“ habe. Aber in den USA gab es genug Leute, die sie für eine äusserst unerwünschte Person hielten. Um ihre Rückkehr zu verhindern, verlangte James O’Neill, Comander der American League, in einer Presseerklärung, dass Iva Toguri angeklagt werden sollte, und deckten gemeinsam mit anderen Organisationen wie „The Native Sons of the Golden West“ in einer Briefkampagne das Justizministerium, FBI-Direktor Edgar Hoover, die Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde und das Aussenministerium mit Bergen von Post ein. Sogar ihre Heimatstadt, der Los Angeles City Council, sprach sich in einer Resolution gegen ihre Rückkehr aus.
Als auch noch bekannt wurde, dass Iva Toguri schwanger war und ihr Kind in den USA zur Welt bringen wollte, schaltete sich Walter Winchell ein, einer der skrupellosesten und einflussreichsten Journalisten jener Zeit, der in den Nachtclubs von Beverly Hills und Restaurants von Midtown Manhattan für den Sieg der Alliierten gekämpft hatte, und den sogar der Präsident fürchtete. Zusammen mit seinem Freund Edgar Hoover und dem gerade erst gegründeten House Un-American Activities Committee entfesselte er eine Pressekampagne gegen Iva Toguri und warf Präsident Harry Truman vor, „zu nachsichtig gegenüber Verrätern“ zu sein.
Gefälschte Ermittlungsergebnisse
Unter dem öffentlichen Druck knickten nahezu alle, die zuvor noch von Toguris Unschuld überzeugt gewesen waren, ein. Herbert Hoover liess seine FBI-Agenten ausschwärmen und Hunderte heimgekehrter GIs befragen, die weder japanische Stimmen noch andere asiatische Akzente unterscheiden konnten. Mal hatten sie eine schrille Stimme gehört, mal eine „nicht unangenehme Stimme“, dann eine „sexy, heisse“, dann eine „modulierte“, eine „heisere“, eine „rauchige“, eine „sanfte“, eine „Altstimme“ – „ein wahrer Chor von Tokio Rosen kam zum Vorschein. Jeder GI hatte seine Favoritin“, schrieb der britische Journalist Russell Warren Howe in seinem Buch „The Hunt for Tokyo Rose“. „Manche dieser Frauen waren einfache Diskjockeys gewesen – so wie Iva – die liebevoll Tokio Rose genannt wurden, so wie alle deutschen Mädchen jener Zeit Lili Marlene waren.“ Doch nun wurde alles zu ihren Lasten ausgelegt. Aus entlastenden Aussagen wurden Anklagen, klare Angaben wurden fragwürdige Äusserungen. Sogar ihren Geburtstag konnten Zeugen plötzlich nicht mehr mit Sicherheit sondern nur noch mit dem Hinweis „soweit ich mich erinnere“ angeben. Zeugen wurden bestochen, andere erpresst oder mit Drohungen zu Falschaussagen gezwungen.
Und Iva Toguri liess sich in die Rolle der Tokio Rose drängen, nannte sich Tokyo Rose, obwohl sie von diesem Kosenamen, den die GIs ihr und den anderen 26 Tokio Rosen gegeben hatten, erst nach dem Krieg erfuhr. Nie wurde ihr erklärt, dass sie Recht auf juristischen Beistand habe. Wie einst in Salem Hexen so wurden nun in Kalifornien Verräter gejagt. Der Prozess gegen den angeblichen Sowjetspion Alger Hiss lief noch, als der Prozess gegen Iva Toguri eröffnet wurde. Und noch waren alle Amerikaner japanischer Abstammung verdächtig.
Ein kafkaesker Prozess
Die Verhandlung fand in San Francisco statt, dessen Einwohner berüchtigt waren für ihre antiasiatischen und besonders antijapanischen Vorurteile. Die Untersuchungsunterlagen, anhand derer sowohl das Counter Intelligence Corps als auch das FBI in Japan Toguris Haftentlassung angeordnet hatten, seien zerstört worden, wurde der ausschliesslich aus Weissen zusammengesetzten Jury – zwei japanisch und chinesischstämmige US-Bürger, die vorgeschlagen waren, wurden als befangen abgelehnt – erzählt. Die acht Anklagepunkte schienen mühselig zusammengestoppelt und lauteten alle ähnlich: Zu einem unbekannten Datum habe die Angeklagte in Tokio ein Radio-Manuskript für eine Sendung vorbereitet; „an einem Tag zwischen dem 1. Mai 1945 und dem 3. Juli 1945 sprach die Angeklagte in einem Studio der japanischen Rundfunkanstalt in ein Mikrophon und trat für Sendezwecke in einen Dialog mit einem Angestellten der Anstalt.“
Nur zwölf Amerikaner wurden nach 1945 wegen Verrats verurteilt. Keiner wurde hingerichtet.[1] Sieben der zwölf waren als „Radio-Verräter“ angeklagt: Robert Best und Douglas Chandler, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden; Martin Monti (25 Jahre), Herbert John Burgman (sechs bis zwanzig Jahre), Mildred Gillars (zehn bis dreissig Jahre), John David Provoo (in der Berufung freigesprochen) und Iva Toguri. Die ersten Fünf waren Nazis.
Doch während etwa Mildred Gillars, bekannt als Axis Sally, auf Gerichtskosten fünf Entlastungszeugen aus Deutschland kommen lassen durfte, wurden alle sich in Japan aufhaltenden Zeugen der Verteidigung Iva Toguris einschliesslich General Douglas MacArthur vom Gericht abgelehnt. Als die Verteidigung auf eigene Kosten nach Tokio flog, musste sie feststellen, dass ihre Zeugen vom FBI erfolgreich eingeschüchtert worden waren. Das Justizministerium hatte einen FBI-Agenten mit der von der Angeklagten eingereichten 43 Namen umfassenden Zeugenliste nach Tokio geschickt, wo er sie gemeinsam mit Offizieren des CIC einschüchterte oder sogar „umdrehte“. MacArthur, immer auch Politiker, klassifizierte die Aussagen, die Iva Toguri in den Verhören in Tokio gemacht hatte, Top Secret und verweigerte der Verteidigung Einsicht in die Dokumente, erlaubte sie jedoch der Anklage. Ivas Mann, von der Verteidigung als Entlastungszeuge geladen, wurde bei seiner Ankunft aus Tokio als illegaler Einwanderer inhaftiert und erst entlassen, nachdem er ein Papier unterzeichnet hatte, nie wieder in die Vereinigten Staaten zurückzukommen. Dafür flog die Anklage 19 Zeugen aus Japan ein. Sieben davon waren Nisei, die während des Krieges die japanische Staatsbürgerschaft angenommen hatten. Sie waren gewarnt worden, zu kooperieren, andernfalls sie nie wieder in die USA kommen dürften. Für ihre Kooperation hingegen wurden sie reichlich vergütet, was ihnen nach ihrer Rückkehr auf dem Tokioter Schwarzmarkt immense Gewinne garantierte. Aussagen wurden verdreht, wurden von Ermittlern formuliert und von Zeugen nachgeplappert. Eidesstattliche Erklärungen wurden gefälscht. „Der Fall ähnelte mehr und mehr einem Hollywoodfilm über einen korrupten Ankläger“, schrieb Russell Warren Howe.
Am 5. Juli 1949, einen Tag nach Iva Toguris 33. Geburtstag, hatte der Prozess begonnen. Am 26. September zog sich die Jury zur Beratung zurück. Nach achtzigstündiger Beratung hielten die Geschworenen die Angeklagte in sieben von acht Anklagepunkten für unschuldig. Nur in Punkt sechs der Anklageschrift wurde sie für schuldig befunden. Sie habe in einer Sendung die Versenkung eines Schiffes erwähnt. Die Entscheidung der Jury war ein Kompromiss. Sogar die Geschworenen hatten mehr um ein gerechtes Urteil gerungen als die Anklagevertreter und der Richter. Weil sie sich in der Schuldfrage nicht einigen konnten und müde waren, hätten sie die Angeklagte in einem geringeren Punkt für schuldig erklärt, vertraute der Sprecher der Geschworenen, John Mann, später Journalisten an. Da Iva Toguri in Japan und Kalifornien bereits zwei Jahre inhaftiert gewesen sei, waren sie davon ausgegangen, dass der Richter die Angeklagte nicht mehr ins Gefängnis zurückschicken werde. Am 6. Oktober verkündete Richter Michael Roche das Urteil: zehn Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 10 000 Dollar.
Er habe tagelang nicht schlafen können, gestand John Mann 27 Jahre später in einem Interview in der San Francisco Chronicle. Alle Mitglieder der Jury seien schockiert gewesen über dieses harte Urteil. Ein Berufungsgericht bestätigte das Urteil. Der Oberste Gerichtshof verwarf sämtliche Petitionen. Am 28. Januar 1956 wurde sie aus der Haft entlassen. Mit dem Entlassungsschein war ihr die Ankündigung, deportiert zu werden, überreicht worden. Mit der Deportation hätten die USA gegen die erst wenige Jahre zuvor unterschriebene UN-Charta verstossen. Anwälte setzten sich für sie ein. Zweieinhalb Jahre später beugte sich die Regierung in die Niederlage und zog die Androhung zurück – mit der Begründung, es gäbe kein Land, wohin sie deportiert werden könne. Doch die Washingtoner Beamten liessen nicht locker. Um die 10 000 Dollar Strafe einzutreiben, konfiszierten sie zwei Lebensversicherungen, die ihr Vater einst für sie abgeschlossen hatte, und liessen sich dafür 4745 Dollar auszahlen. Wieder gegen die UN-Charta verstossend, wurde ihr nun auch noch die Staatsangehörigkeit entzogen. Als Staatenlose ohne Pass konnte sie nicht reisen und auch ihren Mann nicht besuchen, der ja Jahre zuvor hatte unterschreiben müssen, nie wieder in die USA zurückzukehren, und in Tokio lebte.
Begnadigung
Ein 1954 bei Präsident Dwight Eisenhower eingereichtes Gnadengesuch wurde nicht einmal beantwortet, auch auf ein weiteres, 1968 an Präsident Lyndon B. Johnson, kam keine Antwort aus dem Weissen Haus. Nach zahlreichen Artikeln und Fernsehsendungen, Resolutionen des kalifornischen Senats und Parlaments, der Kommunalregierungen von San Francisco, Honolulu, Los Angeles, San José, nachdem sich die Organisationen der Kriegsveteranen, darunter die Vereinigung der 41. Infanterie-Division, die an der Besetzung Tokios beteiligt gewesen war, und die Nisei-Veteranen für eine Rehabilitierung Iva Toguris eingesetzt hatten, traf am 18. Januar 1977, an seinem letzten Tag im Amt, Präsident Fords „volle und bedingungslose Begnadigung“ ein. „Nach all den Jahren fällt es mir schwer zu glauben, dass alles vorbei ist“, kommentierte sie die lange ersehnte Nachricht.
Die Ersparnisse ihres Vaters hatten sich in Prozesskosten aufgelöst. Die erzwungene Trennung von ihrem Mann hatte ihre Ehe und ihre Hoffnungen auf Mutterschaft zerstört. „Ich habe mir geschworen, nie wieder einer weißen Person zu vertrauen“, gestand sie Jahre später. Einsam zog sie sich in die Anonymität zurück. Bis zu ihrem Tod führte die einstige „Tokyo Rose“ in Chicago, nur sieben Strassen vom Ufer des Lake Michigan, unerkannt einen kleinen Gemischtwarenladen, wo sie vor allem asiatische Importwaren, von thailändischer Fischsosse bis zu japanischen Videokassetten, verkaufte. Am 26. Sptember 2006 starb Iva Ikuko Tugori D’Aquino in Chicago.
"Wir müssen uns fragen, wie all das geschehen konnte... und uns entschlossen dafür einsetzen, dass sich so etwas nie wieder wiederholt", schrieb Präsident Johnsons Justizminister Ramsey Clark 40 Jahre nach dem Urteil.
[1] General Eisenhower liess den Private Eddie Slovik hinrichten, einen der vielen weniger kriegerischen Soldaten, der unter feindlichem Beschuss die Nerven verloren hatte.