«In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.» Dieses schon fast geflügelte Wort war das Résumé, das der österreichische Journalist Theodor Herzl nach dem ersten Zionistenkongress zog, der vor 125 Jahren vom 29. bis 31. August 1897 in Basel tagte.
Der Judenstaat, Israel genannt, wurde erst 51 Jahre später, am 14. Mai 1948 Wirklichkeit. Israel sichert seitdem vielen Juden Schutz vor Verfolgung und Diskriminierung. Aber Herzls «Judenstaat» wurde auf dem Boden jener Araber gegründet, die sich seitdem Palästinenser nennen und denen der europäische Antisemitismus fremd war. Der unvermeidliche Konflikt dauert bis heute.
Am ersten Zionistenkongress nahmen 197 jüdische Delegierte aller jüdischen Denkrichtungen teil. Herzls Kernsatz auf dem Kongress lautete: «Wir wollen den Grundstein des Hauses legen, welches die jüdische Nation beherbergen soll.»
Prägender Einfluss der «Dreyfus-Affäre»
Theodor Herzl, der unermüdliche Kämpfer gegen den grassierenden europäischen Antisemitismus – geboren 1866 in Budapest, damals Österreich-Ungarn, früh an einem Herzleiden gestorben im Jahr 1904. Der hervorragende Journalist und Kämpfer für die Rechte seines Volkes war ein Kind seiner Zeit, doch entscheidend beeinflusst durch ein Ereignis, das in Frankreich und weit darüber hinaus hohe Wellen schlug.
Es war der Prozess gegen Alfred Dreyfus im Jahre 1894. Dreyfus, Oberst im französischen Generalstab, Jude, vor allem wegen dieser Eigenschaft angeklagt, Militärgeheimnisse an Deutschland verraten zu haben, später voll rehabilitiert, auch durch Emile Zolas Essay «J’accuse». Dieser sozusagen antijüdische, antisemitische Dreyfus-Prozess prägte Herzl zutiefst. Die «Dreyfus-Affaire» liess in Herzl die Überzeugung wachsen, alle Bemühungen der Juden, durch Assimilierung an die Mehrheitsgesellschaft sozusagen hoffähig zu werden, seien vergeblich.
Heinrich Heine etwa war zum Christentum übergetreten, um sich zu «assimilieren», bereute diesen Schritt aber bald. «Ich bin bei Christen und Juden verhasst. Ich habe seitdem nichts als Unglück», schrieb Heine und dichtete: «Und bist Du zu Kreuze gekrochen – Zu dem Kreuz, das Du verachtest – Das Du noch vor wenigen Wochen – In den Staub zu treten dachtest.»
Also musste, so folgerte Theodor Herzl, für die Juden ein eigener Staat geschaffen werden. Aber wo? Uganda wurde erwogen, auch Südamerika. Aber, letztlich – was lag in den Augen der Zionisten näher, als dorthin zu gehen, wo die Juden einst gewohnt hatten: nach Palästina
Doch das Land war, anders, als es sich die frühen Zionisten in ihrem Wunschdenken vorstellten, keineswegs menschenleer. «Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land», lautete das Schlagwort, das der Zionist Israel Zangwill erfand. Doch in Palästina wohnten Menschen – um 1919 etwa 58’000 Juden und 642’000 Araber. Ausserdem gehörte das Land zum Osmanischen Reich. Und der Sultan war keineswegs bereit, einer «Vivisektion», wie er sich ausdrückte, einer Aufteilung seines Reiches zuzustimmen.
Für Theodor Herzl waren diese Hindernisse überwindbar. Denn als Kind seiner Zeit war er nicht nur Opfer des Antisemitismus, er war auch infiziert vom europäischen Imperialismus. In einem Tagebucheintrag vom 25. April 1896 berichtet Herzl über ein Treffen mit dem Grossherzog von Baden. Herzl erklärte gegenüber dem Grossherzog: «Würde die Türkei in absehbarer Zeit geteilt, so könnte man in Palästina einen ‘etat tampon’ schaffen. Zur Erhaltung der Türkei könnten wir jedoch viel beitragen. Wir würden den Staatshaushalt des Sultans definitiv regeln gegen Überlassung dieses für ihn nicht sehr wertvollen Territoriums.»
Den «Krankheitswinkel des Orients sanieren»?
In einer anderen Passage seines Tagebuches berichtet Herzl von einem Dialog mit dem Grossherzog: «Ich entwickelte dann die allgemeinen Vortheile des Judenstaates für Europa. Wir würden den Krankheitswinkel des Orients sanieren. Wir würden die Schienenwege nach Asien bauen, die Heerstraße der Culturvölker. Der Grossherzog sagte: Das würde auch die egyptische Frage lösen. England klammert sich auch an Egypten, weil es da seinen Weg nach Indien sichern muss. Tatsächlich kostet Egypten mehr, als es werth ist.» An anderer Stelle bezeichnet Herzl einen zu gründenden Judenstaat in Palästina als «Vorposten Europas gegen die asiatische Barbarei». (1)
Und was wird mit der einheimischen Bevölkerung geschehen? Denn Herzl wusste genau, dass Palästina keineswegs ein «Land ohne Volk» war. In einem anderen Tagebucheintrag vermerkte Herzl daher: «Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Land Arbeit verweigern.» Heute würde ein solcher Plan mit dem, durchaus unschönen, Wort «ethnische Säuberung» gebrandmarkt werden.
Theodor Herzl starb früh. Für seinen «Judenstaat» hätte er noch Jahrzehnte werben wollen. Doch er hatte in Basel eine Saat gesät, die allmählich aufging – allerdings nicht immer im Sinne Herzls. So war zum Beispiel die berühmte «Balfour-Erklärung» vom 7. November 1917, in der die Regierung Seiner Majestät die Gründung einer «Heimstatt» für das jüdische Volk in Palästina «mit Wohlwollen» betrachtet, kein – um es vorsichtig zu sagen – reiner Akt des Wohlwollens für das jüdische Volk.
Massenauswanderung von Juden aus Osteuropa
Hier kommt das Schicksal der Juden ins Spiel, die im russischen Zarenreich wohnten. In den USA und Grossbritannien zählte man eine stets wachsende Zahl jüdischer Einwanderer aus dem Zarenreich. 1892 besuchten Beamte der amerikanischen Einwanderungsbehörde Osteuropa. Sie wollten herausfinden, warum so viele Juden aus Russland in die USA kamen. In ihrem Bericht heisst es, sie hätten noch nie solche Armut, ja solches Elend gesehen. Von 1881 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges emigrierten etwa 2,5 Millionen Juden aus Ost- und Mitteleuropa, 1,3 Millionen davon aus Russland. Eines der Zielländer war auch Grossbritannien – dem Land der späteren Balfour-Erklärung von 1917.
Im Vereinigten Königreich gab es aber nicht nur positive Einschätzungen der Juden. Winston Churchill etwa, seit 1917 erneut Kabinettsmitglied (nachdem er 1915 nach der Niederlage der Briten gegen Mustafa Kemals Türken bei Gallipoli als Erster Lord der Admiralität hatte zurücktreten müssen) hatte durchaus massive Vorbehalte gegen einen Teil der Juden. In einem Aufsatz im «Illustrated Sunday Herald» vom Februar 1920 schrieb er, die Juden hätten der Welt sowohl das Beste gegeben, nämlich das Christentum, als auch das Schlechteste, nämlich den Bolschewismus. Unter den Juden gebe es durchaus zwei erfreuliche Gruppen – jene, die sich jeweils an die Mehrheitsgesellschaft ihrer Heimatländer assimilierten, und jene, die den Zionismus unterstützen, sich also einen eigenen Staat ersehnten.
Churchills Misstrauen gegen säkulare Juden
Aber, schreibt Winston Churchill, es gebe auch die «internationalen Juden». Die Anhänger dieses «finsteren Bundes» hätten, schreibt Churchill, «den Glauben ihrer Vorväter verlassen. […] Seit den Tagen … von Karl Marx bis zu Trotzki (Russland), Bela Kun (Ungarn), Rosa Luxemburg (Deutschland) und Emma Goldmann (USA) ist diese weltweite Verschwörung zum Umsturz der Zivilisation und zum Umbau der Gesellschaft auf Basis von Entwicklungsstillstand, neidischer Missgunst und unmöglicher Gleichheit stetig angewachsen … Sie spielte eine definitiv erkennbare Rolle … in der Französischen Revolution.» (2)
Winston Churchills – heute würde man klar sagen antisemitischer Aufsatz – erschien zwar erst nach der Balfour-Erklärung. Aber er drückt eine durchaus verbreitete Stimmung in Grossbritannien aus. Die Balfour-Erklärung war also auch ein Mittel, zumindest als «unbequem» geltende Juden zu motivieren, aus dem Vereinigten Königreich nach Palästina zu emigrieren. An anderer Stelle äusserte Balfour die Meinung, sein Land habe nicht die Absicht, bei der Einwanderung der Juden nach Palästina auf die einheimische Bevölkerung Rücksicht zu nehmen.
Auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. sah die Einwanderung von Juden nach Palästina durchaus als Chance, unliebsame Juden los zu werden. Auf seiner Reise in den Orient 1889 gab Seine Majestät Theodor Herzl zwei kurze Audienzen. Am 18.Oktober 1898 bemerkte der Kaiser gegenüber Herzl, dass es unter den Juden durchaus Elemente gebe, «die in Palästina anzusiedeln recht gut wäre». Am 2.November 1889 begegneten sich Wilhelm II. und Herzl in Haifa. Der Kaiser sass auf seinem Schimmel, in der Menge entdeckte er Herzl. «Wie geht’s», fragte der Kaiser. Darauf Herzl: «Danke Majestät, ich sehe mir das Land an.» Darauf bemerkte der Kaiser nur, Palästina sei sehr heiss, benötige viel Wasser, berge aber durchaus Potenziale.
Herzls nicht religiös bestimmter Zionismus
Herzls national, nicht religiös bestimmter Zionismus traf nicht überall bei seinen Landleuten auf Zustimmung. So erklärten etwa deutsche Rabbiner nach dem Zionistenkongress von Basel, die Anstrengungen der sogenannten Zionisten widersprächen dem «messianischen Versprechen des Judaismus, wie sie in der Heiligen Schrift und späteren religiösen Quellen» niedergelegt seien. Zudem verpflichte der Judaismus, dem Vaterland, zu dem Juden gehörten, «mit aller Hingabe» zu dienen und die «nationalen Interessen mit all ihrem Herzen und mit all ihrer Kraft zu fördern». Zulässig sei indessen das «noble Ziel», dass Juden Land in Palästina kolonisierten, weil sie «keine wie auch immer Beziehung zur Gründung eines nationalen Staates» hätten. (3)
Doch Theodor Herzl wollte seinem Vaterland – damals Österreich-Ungarn – keineswegs mit «voller Hingabe» dienen. Sein nationaler Zionismus, sein – so kann man es nennen – imperiales Selbstbewusstsein, mit dem er über ein fremdes Stück Land und dessen Bevölkerung verfügen wollte, obsiegten. Durch diesen ideologischen Vorstoss in den Orient exportierte er aber auch ein europäisches Problem, den Antisemitismus, in den Orient. Dort nämlich war dieser europäische Sündenfall weitgehend unbekannt. Araber – unter ihnen auch Christen –, Türken und Juden lebten weitgehend friedlich miteinander. Pogrome wie etwa das im zaristischen Russland von Kishinew (heute Chisinau, Hauptstadt Moldawiens) mit 49 Toten, 93 Schwerverletzten, 1500 beschädigten Häusern gab es so im Orient nicht. Denn die Mehrheitsgesellschaft der Muslime wurde, wie der amerikanische Islamwissenschaftler Bernard Lewis schrieb, natürlich nicht nach der Bibel, sondern nach dem Koran unterrichtet. Und der Koran lehne, anders als die Bibel, die Vorstellung von einem Gottesmord als blasphemisch ab.
Theodor Herzl wollte das Beste für sich und sein jüdisches Volk. Doch ein «Land ohne Volk», wie es manche frühe Zionisten erträumten, gab es nicht. Indem Herzl und seine Anhänger diese Tatsache ignorierten, indem europäische Mächte den Zionismus auch deshalb förderten, weil sie selbst nicht allzu viele Juden in ihren Ländern aufnehmen wollten, schufen sie ein Problem, das «Nahostproblem», wie es viele nennen, das noch 125 Jahre nach dem Kongress von Basel ungelöst ist.
- Zitate aus: Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Propyläen Verlag, Berlin, Frankfurt am Main 1984. S. 330 ff.
- Rolf Verleger: Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus. Verlag Westend, Frankfurt am Main, 2.Auflage 2018. – Über Rolf Verleger siehe auch journal21 vom 21.11.2021. Verleger war einst Mitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland, überwarf sich aber mit diesem Gremium, weil er dessen bedingungslose Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik nicht mittragen wollte. Rolf Verleger ist im November 2021 gestorben. Die Angaben über Churchill aus seinem Buch S.176 ff.
- Zitat aus: Palestine Documents. Compiled and annotated by Zafaroul Islam Khan. Neu Delhi, 1998. S. 37