Deutsche Medienleute rechnen längst mit dem grünen Kanzler Joschka Fischer. Aber der will überhaupt nicht zurück in die Politik. Sagt er. Immerhin gibt er zu, dass er sich weiterhin und immer für Politik interessieren wird, «leidenschaftlich», schiebt er mit noch zerknautschterem Gesicht als üblich nach. Nach der verlorenen Wahl sei er noch ein Jahr im Bundestag geblieben, aber jetzt sei Schluss, sagt der Teilzeit-Professor und gesuchte – und teure – Redner.
Die immerwährende Leidenschaft manifestierte er zuvor eine Stunde lang in einem Referat, dessen Titel «Wie viel Schweiz braucht Europa?» zwar vor einem halben Jahr festgelegt worden, aber aktueller sei denn je, meint der Referent. Denn die Schweiz habe 1848 gegen den Zeitgeist des europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert die Integration von drei Mächten erreicht, die bis heute in diesem Vernunftstaat vereint seien. Insofern, so Fischer, könnte die EU sehr viel Schweiz brauchen, denn ihr sei die Integration trotz allem nicht recht gelungen, und sie stehe im Moment zum ersten Mal vor einer gefährlichen Herausforderung.
Nicht in die EU reinquatschen
Sollte der Euro aufgegeben werden, wären die Kosten der Rückabwicklung viel zu hoch, warnte Fischer. Es drohe nichts weniger als der Verlust all dessen, was seit 1949 an Einheit in Europa erreicht worden sei. Die gegenwärtige EU-Krise sei trotz der Finanzkatastrophe der letzten Jahre nicht wirtschaftlich, sondern politisch zu verorten. Dabei schaffte er es maliziös, auh den Schweizer Grossbanken ans Schienbein zu treten, die trotz Staatshilfe weitermachten wie vorher. Die Beziehungen der Schweiz zur EU nennt Fischer «gut, so wie es ist, es könnte von beiden Seiten noch Verbesserungen geben, aber keine Angst, ich will Euch da nicht reinquatschen».
Europa insgesamt drohe neues Ungemach, sagte der Referent mit den dauerplissierten Sorgenfalten: «Wir sind Zeitzeugen der Entwestlichung der Weltordnung.» Am Horizont stünden die Schwellenländer, vor allem China. «Europa ist alt, schwach und reich. Das sind keine ausreichenden Perspektiven im Augenblick, da sich alles neu sortiert.» Dennoch ist Fischer optimistisch, dass sich die EU wieder aufrappeln werde, mit der deutschen Kanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten vorneweg.
Den Zustand der Grünen sieht Fischer positiv, obwohl nie jemand wisse, welche Resultate bei einem Grünen-Parteitag herausschauten. Aber die grüne Politik sei an einem ihrer Ziele angelangt: «Hinter die Atomkraft kann sie, 36 Jahre nach den ersten Anti-AKW-Demos, einen Haken machen, die wird nur noch abgewickelt. Nur Zurückblicken bringt aber nichts. Viel interessanter ist, welche Energien jetzt kommen, daran muss gearbeitet werden.»
Fahrend Realo – schleichend Politiker
An den erwähnten Demos und auch an anderen war Joschka Fischer beteiligt. Seine Entwicklung vom Aussiedlerkind zum Aussenminister zeigt der Dokumentarfilm «Joschka und Herr Fischer» des für seine Sportfilme preisgekrönten Dok-Filmers Pepe Danquart, der am 9. Juni in den Schweizer Kinos anläuft. Er ist absolut sehenswert, trotz seiner Länge. Für ältere Semester ruft er Erinnerungen ab, was sie miterlebt haben, für die Jüngeren ist er eine unterhaltsame Lektion über ein faszinierendes Stück Geschichte unseres Nachbarlandes. Ein Stück weit ist der Film eine unverhüllte und fast unvermeidliche Hagiogafie – Danquart sagt, auch er sei ein ehemaliger Revoluzzer, der mit «Joschka» sofort eine gemeinsame Sprache gefunden habe.
Die Bildsprache ist ebenfalls geglückt. Fischer steht in einer unwirtlichen Halle, inmitten von Glaswänden, über die Stationen seines Lebens flimmern. Er geht, selber staunend und geradezu hingerissen, von einer zur anderen und kommentiert sein bisheriges Leben. Wo er aufwuchs, wählt man CSU («Ich weiss gar nicht, ob meine Mutter mich jemals gewählt hat»), er bricht aus, landet an der Uni, obwohl er nie einen Abschluss machen kann, hört Adorno & Co. Und wird in Frankfurt politisiert: Hausbesetzerszene mit WGs, Demonstrationen. Als seine Kumpels immer mehr in das gefährliche Milieu des Terrors abdriften, wird Fischer Taxifahrer und lernt das wahre Leben kennen: «Im Taxi bin ich zum Realo geworden.»
Immer wieder kommen Weggefährten, heute meist ebenfalls total etabliert, und Zeitzeugen zu Wort,. Weshalb wohl Otto Schily nicht dazu gehört? Oder Bundeskanzler Gerd Schröder? Aber es sind auch so genug. Einer davon ist besonders faszinierend: Daniel Cohn-Bendit, der nach 1968 von den Franzosen in sein anderes Heimatland abgeschoben wird. Umwerfend, wie er berichtet, dass ihn die Kampfgefährten als bourgeois bezeichneten, weil er von Paris daran gewöhnt war, die dort völlig normalen und keinesfalls elitären Austern zu lieben. Er habe dann einfach «Austern für alle!» gefordert. Die ineinander geschnittenen, getrennt geführten direkten Interviews mit Cohn-Bendit und Fischer gehören zu den besten Teilen der Dokumentation.
Im Film sagt Joschka Fischer, dem «roten Dani» sei zweierlei zu verdanken: Dass praktisch niemand aus der Frankfurter Szene sich der RAF angeschlossen habe. Und dass er ihn, Fischer, am Ende davon überzeugt habe, nicht nur der Gründung einer grünen Partei zuzustimmen, sondern sich gleich selber zur Wahl zu stellen und Politiker zu werden.
Das Geheimnis der weissen Turnschuhe bei der Vereidigung zum hessischen Umweltminister wird gelüftet: Joschka hätte gerne andere Schuhe angezogen, behauptet er im Film, aber das sei nicht möglich gewesen, es sei lange darüber diskutiert worden. Die Geheimnisse von vier Scheidungen bleiben dagegen im Dunkeln, bis auf eine – beim Joggen habe er verarbeiten können, dass er verlassen worden sei. Und einmal erwähnt er die Tochter seiner Frau Minu. Was dazwischen war, ist ausgeblendet. Naja, Fischer ist mittlerweile 63, vielleicht bleibt er ja bei Gattin Nr. 5.
Ins rechte Licht gerückt werden allerdings die Stationen der weiteren Karriere des widerstrebenden Polit-Helden, Mitglied der rotgrünen, dem gehobeneren Lifestyle zuneigenden «Toskana-Fraktion. Berühmt die Szene, als der frischgewählte Bundeskanzler Schröder seinen nagelneuen Vizekanzler und Aussenminister für die Fotografen auffordert: «Lach!», worauf Fischer seine Gesichtsfalten etwas anders anordnet. Die konnten nicht davon herrühren, dass die Wahlsieger ihren Champagner (oder Sekt?) aus flachen Coupe-Schalen statt aus länglichen Gläsern tranken, sondern vom Erkennen der sich vor ihm auftürmenden Verantwortlichkeiten.
Berühmt auch die Geschichte des roten Farbbeutels auf das Ohr des Aussenministers im feinsten Zwirn an einem Grünen-Parteitag, an dem er von den Fundis wegen seiner Zustimmung zum Kosovo-Krieg als «Mörder» bezeichnet wurde. Seine darauf folgende Rede nennt er selber seine beste, und sie war es wohl auch; sie wird auch länglich wiedergegeben.
Am allerberühmtesten aber der Satz, den er dem US-Verteidigungsminister Rumsfeld in München entgegenschleuderte, zur Begründung, weshalb Deutschland nicht beim Irak-Krieg mitmache: «I am not convinced!» So lautet auch der Titel der Fischer-Memoiren. Überzeugt kann man jedoch allemal von diesem wohlwollenden, aber unterhaltsamen, ernsthaften, nostalgischen und, ja, lehrreichen Film sein.