Die Qanate sind horizontale Brunnen. Sie zapfen unterirdisch das Grundwasser in den Schwemmfächern am Gebirgsfuss an und leiten es unter Ausnutzung des natürlichen Gefälles an die Oberfläche. Der Stollen verläuft so, dass seine Neigung geringer ist als die Neigung des Geländes. Wenn das Wasser am Ende des Stollens austritt, versorgt es Felder, Siedlungen, Städte. Der Garten in der iranischen Provinz Fars (unser Bild) hängt an seinem Qanat wie an einem Tropf. Die Geländeverhältnisse bestimmen die Länge der Stollen, sie dürfen nur ein minimales Gefälle haben, ideal ist 1 Millimeter je Meter, zu schnell fliessendes Wasser erodiert die Sohle. Schächte in Abständen von wenigen bis zu 40 Metern belüften die Stollen. Sie dienten auch deren Aushub und ermöglichen den Unterhalt, Die Schachtöffnungen, manchmal krakelig, manchmal soldatisch aufgereiht, punktieren die persische Landschaft. Die Stollen laufen unterirdisch viele Kilometer weit, bis sie sich mit der Oberfläche schneiden. In Zentraliran soll es 80 Kilometer lange Qanate geben, die tiefsten – in der Provinz Khorasan – beginnen angeblich 400 Meter unter der Oberfläche ... Schätzungen, die sicher mit einem Körnchen Salz zu geniessen sind. Aber auch nach Abzug von einigen Kilometern und Metern bleiben solche Anlagen phantastische, ans Unglaubliche rührende Leistungen. Bau und Unterhalt sind reine Wühlarbeit, geleistet mit keinen andern Hilfsmitteln als Hacke, Handschaufel und Ledereimer, in dem das gelockerte Material ausfährt. Über dem Aushub eines langen, tiefen Qanats müssen Jahrzehnte vergangen sein. Der Vortrieb des Stollens erfolgt ohne Zimmerung oder irgendeine Sicherung. Dauernd drohen Einsturz und, namentlich am Kopfende, Wassereinbruch; der Gedanke an die häufigen Erdbeben foltert – und auch die Vorstellung von den Giftschlangen, die immer wieder einmal in den Qanatstollen plumpsen, hebt die Stimmung nicht. (Ich spreche aus Erfahrung, wenn auch der Qanatstollen, in den ich mich abseilen liesss, nur 20 Meter tief lag.) Öllampen dienen als Arbeits- und Warnlichter: iIhr Erlöschen signalisiert Sauerstoffarmut. Das Maulwurfsdasein der Qanatarbeiter (muqanni) ist Stoff für Albträume.
Schon möglich, dass es im Trockengürtel der Erde noch mehr Wassergewinnungsverfahren von vergleichbarer Genialität gibt – keine kann aber ganz so von der Verzweiflung inspiriert sein wie die Qanat-Technik. Ein französischer Geograph nannnte diese einmal „die heroische Lösung“. Die Iraner, seit Jahrtausenden Spezialisten im Qanatbau und wohl dessen Erfinder, wissen es am besten: „Mörder“ schimpfen sie manchmal ihre Qanate. Mit Grund: bei der Maulwurfsarbeit, die Stollen und Schächte mit einem Kilometertotal produzierte, das zu einer Mondreise – hin und zurück – ausreichen würde, müssen Ungezählte umgekommen sein. Tausende ertranken, Zehntausende wurden verschüttet. Eben: eine Mordsarbeit.
Die Verbreitung des Qanatbaus über den halben Globus im Laufe von Jahrtausenden ist ein Beispiel für Technologietransfer. Einwurzeln konnte der Technikimport natürlich nur dort, wo ähnliche klimatische, topographische und hydrologische Voraussetzungen bestanden. Schon am Ende des 8. vorchistlichen Jahrhunderts kehrte der Assyrerkönig Sargon II. von einem Feldzug ins iranische Hochland mit dem wasserbaulichen „Geheimnis“ der Hochländer zurück; sein Sohn Sanherib nützte die Qanattechnik bei Niniveh. Unter örtlich verschiedenen Bezeichnungen gab und gibt es Qanate im ganzen Vorderen Orient, in Westeuropa und im Maghreb. Mit den Konquistadoren gelangte die Qanattechnik in die Neue Welt, nach Mexico, Peru und Chile. Und noch im 18. Jahrhundert bauten iranische Muqanni in Xinjiang in der Turfan-Senke Qanate für chinesische Auftraggeber.
Ein Nachteil der Qanat-Technik ist die Schwankung der Schüttung: Sie ist nach der Schneeschmelze, wenn viele Pflanzen mit der gegebenen Bodenfeuchtigkeit auskämen, am grössten – und am kleinsten im Spätsommer, wenn die Bewässerungskulturen lechzen. Diese jahreszeitliche Unangepasstheit wird jedoch von der ökologischen Angepasstheit der Wasserentnahme bei weitem aufgewogen: Der Qanat zehrt nicht vom Kapital, nämlich den tieferen, fossilen Grundwasservorräten; er zieht lediglich Zinsen ein – den jährlichen Niederschlagsgewinn.
Der ökologische Vorteil sichert aber das Überleben der Qanattechnik nicht. Versuche, den Qanatbau durch Modernisierung zu retten (Einsatz von Maschinen beim Schacht- und Stollenbau; Verrohrung des Stollens zur Senkung der Reinigungskosten), hielten den Rückgang der funktionsfähigen Qanate nicht auf. In Altpersien waren vermutlich gegen 50'000 Qanatsysteme gleichzeitig aktiv; zusammen schütteten sie etwa 1000 Kubikmeter je Sekunde – etwa viermal die Wasserführung der Rhone, wo sie den Genfersee verlässt. Mangelnde Wartung, Versalzung, Frevel durch räuberische unsachgemässe Tiefbohrungen, der Einsatz von Motorpumpen dezimierten die Zahl der aktiven Qanate. Wikipedia beziffert ihre heutige Zahl auf 20'000 bis 25'000 Anlagen mit einer Gesamtschüttung von höchstens 35'000 Kubikmetern pro Tag. Vermutlich ist aber diese Zahl noch viel zu optimistisch. In Irans derzeitigem Dürrenotstand, der im zurückliegenden Sommer (in der Terminologie der UNO) sich von „Wasser-Knappheit“ zu „Wasser-Stress“ ausweitete, leisten sie einen ungenügenden Beitrag. Aber die Unesco verlieh der Qanat-Technik im Juli dieses Jahres eine in Jahrtausenden verdiente Auszeichnung: sie nahm sie in das Pantheon des Welterbes auf. – Jahr des Flugbilds 1976 (Copyright Georg Gerster/Keystone)